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Politik

Tsai Ing-wen enttäuscht ihre Wähler

Klaus Bardenhagen
20. Mai 2017

Kritik von Jungen, Proteste von Alten, Blockade von China: In ihrem ersten Jahr konnte es Taiwans Präsidentin vielen nicht recht machen. Gefahr von der Opposition droht Tsai Ing-wen trotzdem nicht.

Taiwan Tsai Ing-wen
Bild: picture alliance/Presidential Office Handout

Ein kleines Protestcamp auf dem Bürgersteig, aus Plastikplanen und Zelten, ist seit fast drei Monaten das Zuhause von Panai Kusui. Die Liedermacherin ist wütend auf Tsai Ing-wen. Taiwans Präsidentin regiert seit einem Jahr im Präsidentenpalast, ein paar hundert Meter die Straße herunter. "Tsai hat uns angelogen", sagt Panai, die zum Stamm der Amis gehört und damit zu Taiwans nicht-chinesischstämmigen Ureinwohnern. "Wir hatten ihr geglaubt, aber sie wollen uns doch nur unser Land stehlen."

Bei Tsais Amtsantritt vor einem Jahr stand Panai noch direkt neben ihr auf der Bühne. Über das Bild dieses Auftritts hat sie nun groß das chinesische Schriftzeichen "Lüge" geschrieben. Dass ehemalige Verbündete wie sie sich von Tsai abwenden, zeigt: Nicht nur China setzt die Präsidentin unter Druck, auch ihr Rückhalt innerhalb Taiwans bröckelt nach einem Jahr im Amt.

Tsai Ing-wen gab erstmals Entschuldigung für Unrecht gegenüber Ureinwohnern abBild: picture-alliance/dpa/Office of the President Taiwan

Gewählt mit großen Erwartungen

Die Unterstützung junger und sozial engagierter Wähler hat mit dafür gesorgt, dass Tsai deutlich gewann und ihre Demokratische Fortschrittspartei (DPP) erstmals auch eine Mehrheit im Parlament errang. Die Erwartungen nach acht Jahren konzernfreundlicher Politik und Annäherung an die Volksrepublik unter der nationalchinesischen Kuomintang-Partei (KMT) lauteten: Gesellschaftliche Modernisierung, bessere Verteilung der Früchte des Wachstums, mehr Betonung von Taiwans Eigenständigkeit.

Tatsächlich bat Tsai im Namen der Regierung Anfang August Taiwans Ureinwohner um Verzeihung für erlittenes Unrecht. Doch dem vielversprechenden Auftakt folgte wenig. Als im Februar die Ureinwohner-Behörde eine Definition der traditionellen Stammesgebiete vorlegte, die alles Land im Privatbesitz ausklammerte, platzte Panai und anderen Ureinwohner-Aktivisten der Kragen. Seitdem campieren sie vor dem Präsidentenpalast, geben Pressekonferenzen und Konzerte mit bis zu 500 Zuhörern. Sie fürchte, dass die Polizei ihr Lager noch vor der Feier zum einjährigen Amtsjubiläum räumt, sagt Panai. "Dann würden wir von vorne anfangen."

Inzwischen ist aber Ernüchterung bei Interessenvertretern der Ureinwohner eingetretenBild: DW/K. Bardenhagen

Progressive Wähler enttäuscht

Noch viel mehr Taiwaner ärgern sich über Tsais Sozialpolitik. Parteienforscher Eric Yu von der Nationalen Politikuniversität in Taipeh nennt ein Beispiel: Mit einer komplizierten und halbherzigen Reform von Wochenarbeitszeit, Feier- und Urlaubstagen machte ihr Kabinett nach langem Hin und Her Unternehmer unzufrieden – und auch Arbeitnehmer. Tsai habe viele progressive Wähler enttäuscht. Ihre Zustimmungsrate ist seit ihrem Amtsantritt im Rückwärtsgang und liege mit etwa 40 Prozent niedriger als bei ihren Vorgängern zum selben Zeitpunkt, so Yu.

Die Erkenntnis greift um sich, dass auch die DPP als vermeintliche Partei der "kleinen Leute" nicht für Umverteilung im sozialdemokratischen Sinn steht, sondern für wirtschaftsfreundliche Politik. "Viele täuschten sich darin, dass Tsai eine hyperaktive Reformerin sein würde", sagt Taiwanexperte Jon Sullivan von der Universität Nottingham der DW. "Sie ist eine vorsichtige und in vielerlei Hinsicht konservative Politikerin."

Touristen von Festland sind wegen des lockeren Geldbeutels geschätzt, aber ihre Zahl ist wegen der Abkühlung zwischen Taipeh und Peking stark zurückgegangen Bild: picture-alliance/epa/H. Lin

Streit um Beamtenpensionen

Am anderen Ende des Spektrums steht Tsai im Konflikt mit Profiteuren des alten KMT-Parteistaats. Es geht um vergleichsweise luxuriöse Beamtenpensionen, die zunehmend die Staatskassen belasten. Pensionierte Staatsdiener, Lehrer und Militärs gehen seit Monaten gegen Tsais Reformpläne auf die Barrikaden. Eine Mehrheit der Bevölkerung hat sie bei diesen Kürzungsplänen hinter sich. Die Frage ist, ob sie einknickt oder nicht.

Dass Standhaftigkeit sich eher auszahlt als ein Schlingerkurs, zeigt das überragende außenpolitische Thema: Taiwans Verhältnis zur Volksrepublik China. Für Peking ist die DPP ein rotes Tuch, tritt sie doch im Kern für eine formelle Unabhängigkeit Taiwans ein. Beim Amtsantritt hatte Tsai einen Olivenzweig ausgestreckt. Sie leistete nicht nur den traditionellen Amtseid unter dem Porträt von Sun Yat-Sen, Gründer der Republik China und der KMT, wie es die Verfassung vorsieht. Sie betonte auch in ihrer Antrittsrede ihre Dialogbereitschaft und Taiwans Interesse an stabilen und friedlichen Beziehungen mit Peking.

Statt Touristen schickt Peking seit neuestem wieder Grüße von seiner Marine Bild: Getty Images/AFP

Peking verweigert Kommunikation

Die Volksrepublik jedoch besteht auf einem Bekenntnis zum "Ein-China-Prinzip" als Grundlage jeder Zusammenarbeit. Damit wäre für Tsai, ihre Partei und ihre Anhänger eine rote Linie überschritten. So brach Peking die Gesprächskanäle mit Tsais Regierung ab und kehrte zurück zu einer Isolationspolitik, wie sie schon bis 2008 die Beziehungen bestimmt hatte.

Die Volksrepublik wirft ihr Gewicht in die Waagschale, um Taiwan allerlei Schwierigkeiten zu bereiten: Einer von Taipehs verbliebenen diplomatischen Verbündeten wechselte die Seiten, viel weniger chinesische Touristen kommen, die Volksarmee rüstet auf und schickte ihren Flugzeugträger durch die Taiwanstraße. Seit einigen Monaten hält China einen taiwanischen Demokratieaktivisten ohne Anklage fest. Immer neue Spionagefälle in Taiwans Militär fliegen auf. Und China blockiert Taiwans Teilnahme an allen möglichen internationalen Konferenzen.

Statt Taiwan gefügig zu machen, könnten Vorfälle wie aktuell der Ausschluss von der Generalversammlung der Weltgesundheitsorganisation aber den gegenteiligen Effekt haben. "Tsais fallende Beliebtheitswerte haben nichts mit ihrer Chinapolitik zu tun", sagt Taiwanforscher Sullivan, der sich gerade in Taipeh aufhält. Immer mehr Taiwaner empfänden eine eigene, von China getrennte Identität.

Der taiwanische Demokratie-Aktivist Le Ming-che wird in China festgehaltenBild: picture alliance/AP Photo

Rede zum einjährigen Jubiläum

Mit Spannung wird erwartet, wie Tsai am Samstag in ihrer Rede zum einjährigen Amtsjubiläum auf Kritik reagiert, und ob sie Politikwechsel ankündigt. Ein Problem habe sie jedenfalls nicht zu fürchten, darin sind sich die Experten Sullivan und Yu einig: Eine schlagkräftige Opposition. Die KMT hat sich ein Jahr nach ihrer herben Niederlage noch immer nicht neu aufgestellt und wählt, ebenfalls am Samstag, einen neuen Vorsitzenden.

Ein zu starker Fokus auf wirtschaftlicher Verflechtung mit China war nach Ansicht vieler Beobachter einer der Hauptgründe für das KMT-Debakel. Um zukunftsfähig zu sein, so heißt es, müsse die einst in China gegründete Partei sich verjüngen, "taiwanisieren" und dem sich wandelnden Zeitgeist anpassen. Davon ist wenig zu sehen, eher erinnert die Reaktion an das Motto "Vorwärts in die Vergangenheit".

KMT-Delegation beim großen Bruder in Peking - Mit ihrer China-Politik kann die Opposition nicht punktenBild: picture alliance/dpa/KMT Party

Opposition kommt nicht aus der Krise

Keiner der drei Favoriten für den Parteivorsitz verspricht einen Neuanfang: Der ehemalige Vizepräsident Wu Den-yih steht für die Chinapolitik der abgewählten Regierung.  Die amtierende Vorsitzende Hung Hsiu-chu geht noch weiter, nennt offen "Vereinigung" als angestrebtes Fernziel und hat den Rückhalt der alten Soldaten, eines einflussreichen Parteiflügels. Von Hau Lung-bin, früherer Bürgermeister von Taipeh und selbst Sohn eines erzkonservativen Generals und Ex-Premierministers, sind ebenfalls wenig neue Impulse zu erwarten.

Eine Alternative für von Tsai enttäuschte junge Wähler sei die KMT so nicht, sagt Sullivan. "Abgesehen von der alten Strategie, die Wirtschaft durch engere Zusammenarbeit mit China zu verbessern, haben sie ihnen nichts zu bieten."

 

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