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Musik

Tallinn Music Week - Modell der Integration?

Benjamin Bathke
8. Oktober 2021

Ein Festival wie die Tallinn Music Week bringt Russen und Esten ein Stück näher. Doch außerhalb der Kultur gibt es noch viele Hürden zu überwinden.

Die estnisch-russische Band "Rainday Station" spielt auf einer Bühne.
Die estnisch-russische Band "Rainday Station" tritt bei der Tallin Music Week 2021 aufBild: Benjamin Bathke/DW

Das Lineup Anfang Oktober im Kultuurikatel, einem ehemaligen Kraftwerk in Tallinn, dessen hohe Decken und Betonwände an Berlins Berghain erinnern, war vielversprechend: Auf der Bühne standen AIGEL, ein tatarisch-russisches elektronisches Hip-Hop-Duo, Hatari, Islands provokante Techno-Punks, Rainday Station, eine estnisch-russische Gothic Rock Band und A Place To Bury Strangers, angeblich die lauteste Band New Yorks. 

Die vier Bands waren Teil von insgesamt 177 Acts aus 21 Ländern, die das Publikum von Donnerstag (30.09.) bis Sonntag (03.10.) auf der Tallinn Music Week in Estland erleben konnte. In diesem Jahr kamen 18 Acts aus Russland, beinahe so viele wie aus dem Gastgeberland Estland

Integration durch Musik 

Schlagzeuger Kirill Harjo von "Rainday Station" im Hintergrund, Gitarrist Arseni Grigorjev vorne im BildBild: Ake Heiman

Die vier Musiker von Rainday Station wurden in den 1980er-Jahren in Estland unter sowjetischer Besatzung geboren. Schlagzeuger Kirill Harjo hat in den letzten fünfzehn Jahren in mehreren Bands gespielt und war Teil der estnisch-russischen künstlerischen Avantgarde. 

"Meine vorherige Band, Junk Riot, war eine der ersten, die eine Fangemeinde in der ganzen Bevölkerung hatte", erzählt der 36-Jährige nach seinem Konzert. "Als ich jung war, ging ich auf russische Schulen und hatte hauptsächlich russische Freunde. Erst als ich auf die Berufsschule wechselte, lernte ich estnischsprachige Menschen kennen. Heute spricht die eine Hälfte meiner Freunde estnisch, die andere russisch." 

Immigration während der Sowjetzeit 

In Estlands Hauptstadt Tallinn leben ungefähr die Hälfte aller rund 320.000 russischsprachigen Menschen im Land. Die meisten Russen immigrierten in den 1970er- und 1980er-Jahren. Damals kamen Hunderttausende aus der Sowjetunion, um in der Textilfabrik in Narva oder anderen mittlerweile stillgelegten Industriezonen zu arbeiten. In den 1990er-Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, verließen dann an die 200.000 Russen Estland wieder, aber die russischsprachige Bevölkerung blieb trotzdem noch viel größer als im Vergleich zu den 1960er-Jahren. Heute machen die russischsprachigen Esten etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung von ca. 1,3 Millionen Menschen aus. Auch Tataren, Ukrainer, Belarussen gehören dieser Gruppe an.

Kulturveranstaltungen wie die Tallinn Music Week gelingt schon jetzt, was die Politik bislang noch nicht vermochte, sagt Piret Hartman, Unterstaatssekretärin für kulturelle Vielfalt im estnischen Kulturministerium. "Wenn Zuschauer, Künstler und Organisatoren aus unterschiedlichen Gemeinden zusammen kommen, dann entsteht etwas, das wir in vielen Jahren mit unseren Methoden und Angeboten nicht erreicht haben. Man kann es nicht beschreiben, aber es geschieht."

70.000 Menschen ohne Staatszugehörigkeit

Anthony Martynov ist staatenlos, wie 70.000 andere Bewohner EstlandsBild: Benjamin Bathke/DW

Wie schwer die Trennung auf der Stadt lastet, zeigt das Beispiel von Anatoly Martynov. Der 25-jährige Martynov ist einer von knapp 70.000 Menschen in Estland, die keine Staatszugehörigkeit haben. Er jobbt in einem Pop-up Store im Lasnamäe Centrum, einem Einkaufszentrum in Tallinns bevölkerungsreichsten und überwiegend russischsprachigen Stadtteil. Mehrstöckige in die Jahre gekommene Plattenbauten dominieren das Stadtbild. Hier sprechen die meisten Bewohnerinnen und Bewohner russisch. Ein Leben ohne Pass - wie geht das überhaupt? "Während einer Flugreise nach Ägypten musste ich schon mal bis zu sechs Stunden an einer Grenzkontrolle warten, weil in meinem Reisepass keine Nationalität eingetragen ist. Ich wurde zwar in Estland geboren, aber ich habe keinen normalen estnischen Pass." 

Schleppender Einbürgerungsprozess 

Nachdem Estland 1991 seine Unabhängigkeit wiedererlangte, konnten nur diejenigen Staatsbürger werden, die vor 1940 in Estland lebten. Dazu gehörte allerdings nur eine sehr kleine Gruppe. 

Estland grenzt an Russland

Martynov wartet noch auf sein Ergebnis des Sprach- und Staatsbürgerschaftstests. Seit 2017 erhalten Kinder, deren Eltern bei ihrer Geburt staatenlos sind, automatisch die estnische Staatsbürgerschaft. Schwierigkeiten beim Reisen sind nicht der einzige Nachteil für Menschen wie Martynov in Estland. Wer keinen estnischen Pass hat, darf auch nicht an nationalen Wahlen teilnehmen. Laut Hartman vom Kulturministerium ist der Mangel an Bildung die größte Ursache für die Kluft zwischen den russischsprachigen und den estnischsprachigen Teilen der Bevölkerung. Obwohl die Regierung Maßnahmen ergriffen hat, um dies zu ändern, werden einer von vier estnischen Schülerinnen oder Schülern ausschließlich oder zu einem erheblichen Teil auf Russisch unterrichtet. 

Sprachbarrieren 

Weil ihr Estnisch zu schlecht ist, wechsele ein Drittel aller russischsprachigen Schüler laut Hartman nicht in die Oberstufe. Und ein weiteres Drittel schaffe es aus dem gleichen Grund nicht an Universitäten. 

Lasnamäe: Tallinns bevölkerungsreichster und hauptsächlich russischsprachiger StadtteilBild: Toomas Tuul/imago images

Die hohe Abbruchquote russischsprachiger Jugendliche verhärte die Fronten in der Gesellschaft, sagt Hartman. "Sie haben deswegen weniger Auswahl bei der Wahl des Arbeitsplatzes." Ab Ende der 1990er-Jahre sorgte die mangelnde Integrationspolitik und der Fokus auf die estnische Sprache dafür, dass sich viele russischsprachige Menschen in Estland fremd fühlten. Erst ab 2010 änderte sich das allmählich.

Und welche Rolle spielt die Musik dabei? Auf die Stimmen der anderen zu hören, mit ihnen harmonisch zu klingen, das hat eine lange Tradition in den baltischen Ländern, so auch in Estland. Singend wurde immer wieder der Wille zu Einigkeit und der Wille zur Unabhängigkeit bekräftigt. 

Kampf für eine bessere Integration 

Die Estin Maris Hellrand kandidiert bei den Kommunalwahlen für einen Sitz im Stadtrat von TallinnBild: Benjamin Bathke/DW

Eine Gesellschaft, die alle integriert, ist das zentrale Wahlversprechen von Maris Hellrand. Die 51-jährige Mutter von drei Kindern kandidiert bei den Kommunalwahlen am 17. Oktober für Estlands sozialdemokratische Partei in Tallinn. 

Während ihrer journalistischen Arbeit, so Hellrand, habe sie erkannt, dass Tallinns Stadtregierung die Probleme teilweise institutionalisiert habe, indem sie "getrennte außerschulische Bildung" bei Jugendclubs finanzierte. "Meine Kinder haben keine russischsprachigen Freunde", sagt sie im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Sie sind in einer Stadt aufgewachsen, in der die Hälfte der Bevölkerung Estnisch und die andere Hälfte Russisch spricht. Zwischen ihnen gibt es keine Berührungspunkte." 

Hellrands Chancen etwas zu verändern im Tallinner Stadtrat sind gering. Die Estnische Zentrumspartei regiert seit 20 Jahren und wird wohl an der Macht bleiben. Sie war immer sehr populär unter russischsprachigen Wählern; gleichzeitig litten viele von ihnen unter Alkoholmissbrauch und Arbeitslosigkeit. 

Artjom Dmitrijev von den Sozialdemokraten kandidiert bei den Kommunalwahlen für einen Sitz im Rathaus von TallinnBild: Benjamin Bathke/DW

Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch Musik? 

Kirill Harjo, der Schlagzeuger der russischsprachigen Band Rainday Station, glaubt an die positiven Effekte von Kulturfestivals wie der Tallinn Music Week, weil dort Kooperationen über Grenzen hinweg gefördert würden. "Es hat viel damit zu tun, dass russischsprachige Bands eine breite Akzeptanz erfahren. Das wiederum führt dazu, dass russischsprachige Kinder und Jugendliche vom estnischsprachigen Teil der Bevölkerung akzeptiert werden. Dass immer mehr russischsprachige und estnischsprachige Künstler gemeinsam künstlerisch tätig sind, hat geholfen, die kulturellen Kluft zwischen dem estnischen und russischen Teil der Bevölkerung abzubauen." 

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