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Atze Becker: "Nichts ist unmöglich"

Michael da Silva
7. Januar 2021

Schalke 04 könnte an diesem Bundesliga-Wochenende den 54 Jahre alten Negativrekord von Tasmania Berlin von 31 sieglosen Spielen einstellen. Atze Becker, damals Tasmania-Kapitän, hat einige Ratschläge für die Schalker.

DW-Film von Michael Da Silva | Atze Becker, ehemaliger Spieler von Tasmania Berlin
Bild: Jim Elson

Nur noch ein Spiel trennt den FC Schalke 04 davon, Bundesliga-Geschichte zu schreiben. Doch es ist nicht die Art von Geschichte, für die Schalke in Erinnerung bleiben möchte. Denn wenn die Schalker am Samstag nicht gegen Hoffenheim gewinnen, stellen sie die längste Serie von sieglosen Spielen in der Bundesliga ein: 31 Partien hintereinander ohne wenigstens einmal zu gewinnen - diesen Negativrekord hält Tasmania Berlin seit 1966. Dass die Tasmania aufgrund der Umstände, wie sie in die Bundesliga kam, damals im Grunde chancenlos war und ihr bester Stürmer noch dazu häufig nur betrunken zum Training erschien, lässt die Tatsache noch bemerkenswerter erscheinen, dass Schalke nun an Tasmanias vermeintlichem Rekord für die Ewigkeit kratzt.

Der letzte Bundesliga-Sieg der Schalker, ein 2:0 gegen Borussia Mönchengladbach am 17. Januar 2020, liegt fast schon ein ganzes Jahr zurück. Seitdem sind die Königsblauen wegen der Folgen der Corona-Pandemie und den dadurch entgangenen Zuschauereinnahmen in eine finanzielle Krise gestürzt. Die Qualifikation zum Europapokal haben sie verpasst. Sie mussten ihre besten Spieler verkaufen und haben ihren technischen Direktor gefeuert. Mittlerweile sitzt der vierte Trainer der laufenden Saison auf der Bank. Und in der Kabine gibt es nur noch Spieler, deren Selbstvertrauen auf dem Tiefpunkt ist.

Der Verein hat eine Vielzahl von Problemen zu bewältigen - auf und neben dem Platz, die in der fatalen Serie von Ergebnissen gipfeln. Im vergangenen Monat beschrieb Stürmer Mark Uth, einer von Schalkes erfahrensten Spielern, den S04-Fußball als "hilflos" und räumte ein, dass ihm zum Weinen zumute sei.

Historisches Versagen

Um besser einordnen zu können, welches Ausmaß die Ergebniskrise hat, muss man sich die Mannschaft anschauen, die vor 54 Jahren mit 31 sieglosen Spielen "vorgelegt" hat: In den späten 1950er und frühen 1960er Jahren war Tasmania die beste Mannschaft Berlins. Dreimal gewann der Klub die Stadtliga, fünfmal holte er den Berliner Pokal. Dennoch zog der DFB 1963 bei der Gründung der Bundesliga Hertha BSC vor, den damals amtierenden Berliner Meister.

Als die Hertha zwei Jahre später mit dem Zwangsabstieg dafür bestraft wurde, dass man einigen Spielern bei ihrer Vertragsunterschrift verbotenerweise Handgelder gezahlt hatte, wollte der DFB, dass ein anderer Berliner Klub den freien Platz einnahm. Die damals bereits geteilte Stadt sollte mit einem Klub in der obersten Spielklasse vertreten sein. Doch die Entscheidung, Tasmania für die Spielzeit 1965/66 in die Bundesliga aufzunehmen, fiel erst drei Wochen vor Saisonbeginn. Die Spieler mussten aus dem Urlaub zurückgerufen werden - teilweise per Reiseruf im Radio, der sie am Strand oder auf dem Campingplatz erreichte.

80.000 beim ersten Heimspiel

"Alle Spieler waren über ganz Europa verstreut im Urlaub", erzählt Atze Becker der DW. Der damalige Kapitän der Tasmania war mit seiner Familie wie jedes Jahr zum Urlaub an der Ostsee. "Plötzlich kam ein Strandnachbar zu mir und sagte ganz aufgeregt: 'Du bist noch hier? Du solltest doch wieder in Berlin sein!'", erinnert sich Becker. "Als ich ihn um eine Erklärung bat, sagte er, dass der DFB entschieden hat, dass Tasmania die Hertha in der Bundesliga ablöst und wir sofort zurück nach Berlin zum Training fahren müssen."

Ex-Kapitän Becker: Aus dem Urlaub geholtBild: Jim Elson

Das erste Spiel von Tasmania fand in einer euphorischen Atmosphäre im ausverkauften Olympiastadion statt. 80.000 Fans sahen zu, als die frisch aus dem Urlaub zurückgekehrten und untrainierten Tasmanen eine talentierte Karlsruher Mannschaft mit 2:0 besiegten. Kurzzeitig lag Tasmania sogar an der Tabellenspitze, doch die fehlende Vorbereitungszeit auf die Saison holte sie bald ein - und es ging abwärts.

"Es gab so viel Euphorie und Aufregung rund um das erste Spiel, aber nach fünf oder sechs Spielen begann die Realität einzutreten", erinnert sich der heute 82-jährige Becker. "Der Tiefpunkt für mich war die 0:9-Heimniederlage gegen den Meidericher SV [heute MSV Duisburg - Anm. d. Red.]. Dieses Ergebnis hat alle niedergeschmettert, und die Mannschaft war sehr, sehr deprimiert."

Beeindruckende Negativwerte

Tasmania, dessen Starstürmer Horst Szymaniak in der gesamten Saison nur ein Tor erzielte und regelmäßig alkoholisiert zum Training erschien, blieb 31 Spiele lang ohne Sieg und stellte eine Reihe weiterer Negativrekorde auf, die bis heute unerreicht sind: die wenigsten Saisontore (15), die meisten Gegentore (108), die wenigsten Punkte (8:60 nach der damals geltenden Zwei-Punkte-Regel, die nach der Drei-Punkte-Regel zehn Zähler bedeutet hätten), die wenigsten Siege (zwei, geteilter Rekord mit dem Wuppertaler SV aus der Saison 1974/75) und die meisten Niederlagen (28).

Die Tasmania-Mannschaft, die viele Negativrekorde der Bundesliga aufstellteBild: Imago/H. Müller

Zudem war das 0:9 gegen Duisburg die höchste Heimniederlage der Bundesliga. Am 15. Januar 1966 kamen gegen Borussia Mönchengladbach gerade einmal 827 Zuschauer ins Olympiastadion - auch das ein Negativrekord für Bundesligaspiele, bei denen keine Corona-Beschränkungen galten.

Becker: "Nichts ist unmöglich"

Dieses "Loser-Image" hat die Identität des Vereins stark geprägt und ist – mit dem Abstand der Jahre - bei der Tasmania und ihren Fans sogar zu einer Quelle eines gewissen Stolzes geworden. So versammelte sich am vergangenen Wochenende eine kleine Gruppe von Tasmania-Fans vor dem Olympiastadion, in dem Schalke bei Hertha antrat. Auf Plakaten appellierten sie an die Königsblauen, ihnen doch bitte nicht ihren Rekord wegzunehmen. Schalke verlor 0:3.

Es darf bezweifelt werden, dass der Traditionsklub aus dem Ruhrpott genauso stolz auf den Rekord wäre wie die Tasmania, die heute in der fünften Liga spielt. Die Ansprüche und die Entwicklung hin zur Schalker Pleitenserie war eine deutlich andere als bei den Berlinern. 2018 war Schalke unter Trainer Domenico Tedesco noch Vizemeister, 2011 stand man im Halbfinale der Champions League. Schöne Erinnerungen, die wohl nur dann keinen bleibenden Kratzer erhalten, wenn die Schalker am Samstag gegen 1899 Hoffenheim gewinnen - wie auch immer sie das hinbekommen wollen.

"Ich rate Schalke, ihre eigene Intensität in das Spiel zu bringen und niemals aufzugeben", sagt Atze Becker. "Es hat sich im Sport, insbesondere im Fußball, schließlich schon oft gezeigt, dass nichts unmöglich ist."

Adaption: Andreas Sten-Ziemons