Tauziehen um bosnisch-serbischen Kriegsverbrecher
11. August 2005Der UN-Strafgerichtshof ICTY hatte bereits vor Jahren Anklage gegen Lukic wegen hundertfachen Mordes an bosnischen Muslimen erhoben. Einen Tag nach seiner Verhaftung sagte Lukic vor einem Richter in der argentinischen Hauptstadt zu, sich dem Tribunal in Den Haag stellen zu wollen, wies allerdings die Anklagepunkte des ICTY zurück. Lukic hatte zuvor bereits angekündigt, er sei bereit, vor dem Haager Tribunal alles offen zu legen, was er wisse, falls das Gericht auch jene zur Verantwortung ziehe, die ihm die Befehle gegeben hätten. Was Lukic weiß, ist auch das Interessanteste in diesem Fall, denn Lukic stand sowohl der ehemaligen Führung in der Republika Srpska als auch der Polizeispitze im benachbarten Serbien nahe.
Prozess in Den Haag oder Bosnien?
Belgrad und Sarajewo befürworten, dass der Prozess gegen Lukic in Den Haag geführt wird. Matias Hellman aus dem Büro des ICTY in Sarajewo erwartet eine umgehende Auslieferung des Angeklagten aus Buenos Aires nach Den Haag und fügte im Gespräch mit der Deutschen Welle hinzu: "Ich möchte ferner erwähnen, dass die ICTY-Anklage beantragt hat, den Fall Milan Lukic an Bosnien-Herzegowina zu übertragen". Der serbisch-montenegrinische Tribunal-Beauftragte, Rasim Ljajic, ist jedoch skeptisch: "Theoretisch ist das möglich, aber wegen der Schwere der Verbrechen ist kaum anzunehmen, dass dies auch geschieht".
Gute Zusammenarbeit
Sowohl Bosnien-Herzegowina als auch Serbien-Montenegro schrieben die Verhaftung von Lukic der guten Zusammenarbeit untereinander und auch mit der internationalen Gemeinschaft zu. Dies sagte der Pressesprecher des Innenministeriums der Republika Srpska, Radovan Pejic. Auch der Tribunal-Beauftragte Belgrads, Rasim Ljajic, lobte am Montag (8.8.) die Polizeiaktion in Buenos Aires: "Dies ist das Ergebnis intensiver Aufklärungsarbeit unserer Geheimdienste und der Vertreter der Staatengemeinschaft. Intensiv wurde nach Milan Lukic die letzten neun Monate gefahndet und jetzt wurde er verhaftet."
Ethnische Säuberung
Lukic ist wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Bosnien-Krieges angeklagt. Er war der Anführer einer der berüchtigtsten serbischen Milizen. Die "Weißen Adler" oder "Rächer", wie sie sich wahlweise nannten, waren sowohl in Bosnien-Herzegowina als auch in Ex-Jugoslawien, heute Serbien-Montenegro, am Werk. Sie haben gemordet, verbrannt, vergewaltigt, geplündert, misshandelt. Hunderte bosnischer Muslime wurden vor allem im ersten Kriegsjahr 1992 deren Opfer. Lukic und seine Männer kontrollierten das Gebiet um die südostbosnische Stadt Visegrad, nachdem die Jugoslawische Volksarmee sich zurückgezogen hatte. Von rund 21.000 Einwohnern der südostbosnischen Gemeinde an der Grenze zu Serbien waren vor dem Krieg fast zwei Drittel Muslime. Zum Ende des Krieges war Visegrad rein serbisch.
Taten der "Rächer"
Matias Hellman erinnert an wohl eins der grausamsten Verbrechen, dessen Lukic angeklagt ist: "In der Anklageschrift heißt es, dass am 14. Juni 1992 Milan Lukic und andere etwa 65 Frauen, Kinder und ältere Männer – bosnische Muslime – in ein Haus in Visegrad gezwungen haben. Dann wurde das Haus verbarrikadiert und angezündet. Menschen, die versuchten, sich durch einen Sprung aus dem Fenster zu retten, wurden erschossen. Praktisch alle, die in diesem Haus eingesperrt waren, wurden getötet – einschließlich 17 Kinder im Alter von zwei Tagen bis zu 14 Jahren".
Opfer berichten
Gerade wegen der grausamen Verbrechen erwarten die Opfer Gerechtigkeit allein in Den Haag. Mirsada Tabakovic aus der Organisation Kriegsopfer-Frauen sagt: "Vorrangig sollte ihm der Prozess in Den Haag gemacht werden – vor dem Tribunal, weil es wirklich ein schwerer Fall ist. Er ist einer der schlimmsten Kriegsverbrecher, der einen Prozess von dem ICTY verdient". Mirsada Tabakovic ist aus Visegrad und kennt Lukic persönlich. Erstmals traf sie ihn im Juni 1992: "Er kam am frühen Abend mit seiner Gruppe in mein Haus und führte meinen Schwiegervater, meinen Ehemann und meinen Schwager ab – sie kamen nie wieder zurück. Leider haben wir ihre sterblichen Überreste in einem Massengrab mit weiteren 68 Leichen gefunden".
Für ein weiteres Opfer aus Visegrad, Bakira Hasecic, ist der Tag der Verhaftung ihres Peinigers einer der schönsten ihres Lebens. Sie berichtet, was sie erlebt hat: "Ich bin während des Krieges dreimal vergewaltigt worden. Milan Lukic, sein Kind, seine Großmutter sowie seinen Vater Mile und seine Mutter Kata kenne ich persönlich. Aber bedauerlicherweise ist er einer der größten Kriegsverbrecher in Südost-Bosnien". Die berühmte Brücke am Fluss Drina sei häufig Schauplatz der Verbrechen gewesen. Dem Nobelpreisträger Ivo Andric diente sie als Inspiration für sein ausgezeichnetes Meisterwerk, Milan Lukic inspirierte sie zu unfassbaren Verbrechen. "Sie haben die Menschen wie Schafe abgeschlachtet. Sie traten sie zweimal gegen die Brückenwände und warfen sie lebendig in die Drina. Am 11. Juni 1992 riefen sie durch die Lautsprecher ‚Heute verteilen wir Fleisch der Opfertiere für das Opferfest Kurban Bajram‘. Das taten sie auch, aber es waren keine Opfertiere. Es waren unschuldige bosniakische Zivilisten aus Visegrad", so Bakira Hasecic.
Grenzübergreifende Aktivitäten
Als "Rächer" waren die Milizen auch in Serbien und in Montenegro am Werk: Von dort verschleppten sie Muslime in die bosnische Serben-Republik, wo sie sie folterten und ermordeten. Im Jahre 2000, als in Den Haag gegen Milan Lukic Anklage erhoben wurde, tauchte er unter. Vor zwei Wochen wurde der gesuchte Kriegsverbrecher in Belgrad wegen des Mordes an Bosniaken aus Sjeverin, im Sandzak, in Abwesenheit zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Wegen der Morde in Visegrad ist bereits ein Mitangeklagter vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu 15 Jahren Haft verurteilt worden: Mitar Vasiljevic war an mehreren Verbrechen beteiligt und hatte das nach seiner Verhaftung durch die NATO in Bosnien im Jahr 2000 zugegeben. Die Haager Ankläger fahnden zudem nach Sredoje Lukic, dem Onkel des Milizen-Chefs Milan. Er ist ebenfalls seit fünf Jahren auf der Flucht.
DW-RADIO-Bosnisch, DW-RADIO-Serbisch, 11.8.2005, Fokus Ost-Südost