Der Grand Départ in Brüssel wird zur großen Show des Jumbo-Visma-Teams. Nach dem Sprintsieg durch Mike Teunissen dominieren die Niederländer das Mannschaftszeitfahren. Das Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung.
Anzeige
Sie wissen es bereits auf der Ziellinie: Wout van Aert und Tony Martin klatschen sich ab, schreien ihre Freude heraus und bejubeln ausgelassen den Etappensieg ihrer Mannschaft. Ein ungewöhnliches Bild. Denn Zeitfahren sind meist ein Sekundenpoker, normalerweise wird bis zum letzten Meter gefightet, der Jubel kommt erst später. Nicht so auf der 2. Etappe der Tour de France: Team Jumbo-Visma dominiert das Mannschaftszeitfahren, ist bei allen Zwischenzeiten in Führung und baut den Vorsprung immer weiter aus. 20 Sekunden betrug am Ende die Differenz auf das Ineos-Team um Vorjahressieger Geraint Thomas. Eine echte Ansage.
"Ein absoluter Traumstart", sagt Grischa Niermann freudestrahlend im DW-Interview im Ziel von Brüssel. Der ehemalige deutsche Radprofi ist inzwischen Trainer bei Jumbo-Visma, bei dem Team, für das er während seiner gesamten Karriere fuhr (damals noch unter dem Namen Rabobank) und insgesamt neun Mal bei der Tour de France startete. "Nach dem Sieg von Mike Teunissen haben wir uns natürlich auch mit Tony Martin und Wout van Aert für das Mannschaftszeitfahren viel ausgerechnet. Aber dass wir mit 20 Sekunden gewinnen, haben wir nicht erwartet", gibt Niermann zu. Er ist nass geschwitzt, hat mit seinen Schützlingen gefiebert. Dass sie den Tour-Start dominieren, ist für ihn einerseits eine Überraschung, andererseits aber auch nicht.
"Der Traum geht weiter"
"Wout van Aert und Tony Martin sind aktuell wahrscheinlich die stärksten Zeitfahrer der Welt. Das hat uns großes Selbstbewusstsein für das Teamzeitfahren gegeben", sagt Niermann. In der Tat gingen die Fahrer in Gelb als eines der Favoritenteams ins Rennen. Mit dem vierfachen Weltmeister Tony Martin, dem Sieger des Zeitfahrens beim Critérium du Dauphiné Wout van Aert oder dem starken Niederländer Steven Kruijswijk schlug das Ensemble von Anfang an ein hohes Tempo an. Und dann war da ja auch noch Mike Teunissen, der nach seinem überraschenden Etappensieg am Samstag wie beflügelt fuhr. "Es war eine große Motivation für uns, das Gelbe Trikot zu behalten", sagte er später im Ziel und freudestrahlend. "Als wir hörten, dass wir die schnellste Zwischenzeit gefahren sind, hat uns das noch einmal gepusht. Der Traum geht weiter."
Jumbo Visma kommt damit bereits auf 37 Saisonsiege, rechnet Grischa Niermann stolz vor. Im gesamten Vorjahr waren es 33. "Und da dachten wir noch: Das wird nicht zu toppen sein", sagt er lachend. Während im Zielbereich ein paar Niederländer lautstark die Renner in Gelb feiern, versucht Niermann den Erfolg zu erklären. Man habe ein gutes Team im Hintergrund der Fahrer zusammengestellt, das auf Details achte. Und viele Fahrer hätten sich weiterentwickelt, an Leistung gewonnen. Das alles würde wiederum das gesamte Team pushen, das nun mehr an sich glaube.
Ein Team mit einer Vorgeschichte
Eine schon häufiger gehörte, im Fall von Jumbo-Visma aber plausible Erklärung, die sich auch mit dem deckt, was Tony Martin seit seinem Wechsel zu den Niederländern im vergangenen Winter beschreibt. Schon damals habe man mit der speziellen Vorbereitung auf diesen Tag begonnen, die Abläufe des Mannschaftszeitfahrens trainiert. Und Zeitfahrspezialist Martin habe all seine Erfahrungen an jüngere Fahrer weitergegeben, sie dadurch besser gemacht, versichert Mike Teunissen. "Er ist einer der zentralen Faktoren dieses Sieges." Die Entwicklung des Teams verlief zudem kontinuierlich, in vielen Schritten und auch auf Basis der Ausbildung eigener Fahrer.
Und doch gehört zur Geschichte dieses Teams auch diese Seite: Grischa Niermann gab im Nachhinein zu, zumindest eine Zeitlang während seiner Karriere mit EPO gedopt zu haben, sah sein Geständnis aber als Zeichen an jüngere Rennfahrer. Das halbe Rabobank-Team von damals gestand Dopingpraktiken, durchgeführt von Teamarzt Geert Leinders. Anders als im Falle des Teams Telekom löste sich die Mannschaft aber nicht auf, sondern gewann neue Sponsoren und baute neue Fahrer auf. Im Mai musste dann die Teamleitung versichern, dass ihr Klassementfahrer Primoz Roglic nichts mit den Dopingenthüllungen um einen ehemaligen sportlichen Leiter aus dessen Heimat zu tun habe. Es gibt keine handfesten Hinweise auf illegale Machenschaften im Team, doch angesichts der eigenen Geschichte wird sich der Rennstall wohl gerade jetzt besonders beäugt.
Zahlreiche Optionen für Etappensiege
Denn die Erfolgsserie muss mit dem Auftaktwochenende der Tour de France noch lange nicht zu Ende sein. Der auf der ersten Etappe gestürzte und tief enttäuschte Sprinter Dylan Groenewegen konnte am Sonntag schon wieder lachen und ist bei den kommenden Massensprints zu beachten. Mit Stephen Kruijwijk hat das Team einen Anwärter auf die Top Ten der Gesamtwertung oder einen Etappensieg in den Bergen dabei und mit Martin und Van Aert zwei heiße Anwärter auf einen Triumph im Einzelzeitfahren auf der 13. Etappe in Pau. Die Gelbe Welle könnte weiter rollen.
Wer gewinnt die Tour de France?
Vierfachsieger Chris Froome fehlt bei der Tour de France nach seinem schweren Sturz. Doch auch ohne ihn kämpft ein erlesenes Feld um das Gelbe Trikot - und es könnte einen Überraschungssieger geben.
Bild: Reuters/S. Mahe
Wer macht das Rennen?
Auch ohne den schwer gestürzten Chris Froome wird es ein packendes Rennen. Die Tour de France verspricht Spannung, auch wenn das bisherige Sky-Team (nach Sponsorenwechsel jetzt Ineos) wieder das stärkste ist. Unser Kandidatencheck zeigt, wer den Briten gefährlich werden könnte...
Bild: picture-alliance/Belga/D. Waem
10 Enric Mas (Deceuninck-Quickstep)
Eingefallene Wangen, tiefsitzende Augen, spindeldürre Glieder und kurz geschorenes Kopfhaar - Enric Mas jagt manchem Betrachter einen Schrecken ein. Doch der 24-jährige Spanier ist kerngesund und extrem austrainiert. Als starker Bergfahrer wurde er 2018 überraschend Zweiter der Vuelta, fuhr in diesem Jahr aber bisher unauffällig. Prognose: Es reicht noch nicht für ganz vorne.
Bild: imago images/Sirotti
9 Nairo Quintana (Movistar)
Ist die Zeit von Nairo Quintana schon vorbei? Von 2013 bis 2016 fuhr er bei Tour, Giro und Vuelta stets auf die Plätze eins bis vier, war am Berg eine Macht. Doch in letzter Zeit schwächelt der stille Kolumbianer, der Medientermine scheut und meist abgeschirmt wird, ausgerechnet bei den schweren Anstiegen. Es dürfte seine letzte Chance als Kapitän bei der Tour sein. Prognose: Er nutzt sie nicht.
Bild: Reuters/S. Mahe
8 Romain Bardet (Ag2r La Mondiale)
Die Hoffnungen wiegen schwer auf den schmalen Schultern des Romain Bardet. Der schlaksige Kletterer soll die lange Durststrecke der Franzosen bei der Tour beenden. In den letzten Jahren sah es so aus, als käme er diesem Ziel näher. Doch aktuell fährt Bardet, der einen Uni-Abschluss in Management besitzt, seiner Form und den Gegnern hinterher. Prognose: Verliert im Zeitfahren zu viel Zeit.
Bild: AFP/Getty Images/A.-C. Poujoulat
7 Adam Yates (Mitchelton-Scott)
"Wir haben unterschiedliche Wege genommen, sind uns aber sehr nah und sprechen täglich miteinander", sagt Adam Yates über seine Beziehung zu seinem Zwillingsbruder Simon. Beide sind talentierte Anwärter auf das Gesamtklassement. In Frankreich wird Simon, der beim Giro Kapitän war, wohl für Adam fahren. Der ist in den Bergen gut, im Zeitfahren solide. Prognose: Kann mitspielen, aber nicht gewinnen.
Bild: imago images/Sirotti
6 Emanuel Buchmann (Bora-Hansgrohe)
Vom talentierten Mitfahrer zum Podiumskandidaten - Emanuel Buchmann hat bei den Vorbereitungsrennen einen starken Eindruck hinterlassen. Am Berg zählt der stille Schwabe inzwischen zu den Besten, im Zeitfahren hat er sich gesteigert. Was dem 26-jährigen noch fehlt, ist der Punch und das Selbstvertrauen für einen großen Sieg. Prognose: Seine Kurve geht weiter nach oben.
Das Double aus Giro und Tour hat sich in den letzten Jahren stets als zu anspruchsvoll erwiesen. Auch dem erfahrenen "Hai aus Messina" wird man die Strapazen der Italienrundfahrt, die er auch wegen eines taktischen Fehlers verlor, noch anmerken. Doch mit seiner Konstanz und Leidensfähigkeit wird der 34-Jährige punkten. Prognose: Dem Hai fehlen ein paar Zähne für einen kraftvollen Biss.
Bild: AFP/Getty Images/L. Benies
4 Thibaut Pinot (Groupama-FDJ)
Die Angst vor den Abfahrten ist besiegt, an seiner Zeitfahrschwäche hat er gearbeitet - ist Thibaut Pinot nun endlich bereit für mehr als eine gute Platzierung? Fast. Der Franzose wählte einen kontinuierlichen Aufbau und fokussiert sich erstmals wieder auf die Tour. Sein Team ist gut, aber andere sind besser. Prognose: Pinot wird angreifen, seine Gegner aber nicht alle abschütteln können.
Bild: AFP/Getty Images/A.-C. Poujoulat
3 Geraint Thomas (Ineos)
Der Titelverteidiger hatte bei der Tour de Suisse eine Schrecksekunde: Nach einem schweren Sturz schien bereits der Traum vom zweiten Toursieg ausgeträumt. Doch der 33-jährige Waliser kann starten. Seine Vorbereitung lief nicht ideal - ihm wird die Leichtigkeit des Vorjahres fehlen. Prognose: Aber zum Podium reicht es dennoch.
Bild: picture-alliance/empics/P. Goding
2 Jakob Fuglsang (Astana)
Jahrelang stand der Däne in Diensten anderer Top-Fahrer: Jakob Fuglsang fuhr schon für die Schleckbrüder als Helfer und stand auch bei Astana meist im Schatten. Nun ist er Kapitän und das zu Recht. In diesem Jahr war er der konstanteste der Tour-Kandidaten, hat sich am Berg noch einmal gesteigert. Prognose: Kommt dem Gelben Trikot sehr nah.
Bild: Imago/Sirotti
1 Egan Bernal (Ineos)
Viva Colombia! Die radsportverrückte Nation freut sich auf den nächsten Star, der im Juli die Heimat verzückt. Und dieses Mal möglicherweise so richtig. Egan Bernal hat außergewöhnliche Leistungsdaten und fährt bei Ineos im stärksten Team. Bei der Tour de Suisse war er nicht zu schlagen, jetzt könnte er der Tour seinen Stempel aufdrücken. Prognose: Er lässt Kolumbien jubeln.