Tel Aviv, Berlin und die Tanzfläche des Lebens
13. Mai 2015Ein milder Frühlingsabend. Ich tanze im Hinterhof einer Kreuzberger Bar mit einem Mädchen in meinem Alter. Wenn Adi nicht aus Israel und ich nicht aus Deutschland kommen würde, wäre das wohl nichts besonderes. Aber wir gehören zur "Dritten Generation" nach dem Holocaust. Unsere Eltern in Israel und Deutschland würden sich schwer tun, mit so viel Ungezwungenheit zu tanzen. Wir tun das erst einmal zu Musik aus den 80ern.
Erstaunlich: 70 Jahre nachdem das KZ Dachau befreit wurd und 50 Jahre nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, ist Tel Aviv verliebt in Berlin und umgekehrt. Eine exakte Zahl, wie viele Juden und Israelis tatsächlich in der Hauptstadt leben, gibt es nicht. Viele besitzen einen deutschen Pass. Nach Schätzungen der israelischen Botschaft beläuft sich die Zahl auf ungefähr 15.000 Studenten, junge Beruftstätige, Künstler und Familien.
"Was ich weiß, sind nur Bruchstücke"
Für das Projekt und Buch ("Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen"), das die Bundeszentrale für politische Bildung gerade herausgegeben hat, haben 19 deutsche und israelische Autoren über das jeweils andere Land geschrieben. Nebenbei beschreibt es die Unbeholfenheit, die emotionale Distanz und oft auch ein Gefühl der Übersättigung, das sich bei der Suche nach der Rolle dieser "Dritten Generation" einstellt.
Können wir uns immer wieder an den Holocaust erinnern und dennoch Seite an Seite leben, lieben und miteinander diskutieren? An diesem Wochenende sonne ich mich mit Amir aus Tel Aviv, tanze mit Adi aus Jerusalem und telefoniere mit der Schriftstellerin Sarah Blau - und zwischendurch lasse ich die drei erklären, woher die Faszination für Berlin kommt und wie ihr persönlicher Umgang mit der Vergangenheit praktisch aussieht.
Ich betrete die Debatte nicht ganz unvoreingenommen. Der deutsche Schriftsteller Bernhard Schlink beschrieb in seinem Roman '"Der Vorleser" genau das Klima, in dem ich aufgewachsen bin: "Wir sollen nicht meinen, begreifen zu können, was unbegreiflich ist, dürfen nicht vergleichen, was unvergleichlich ist, dürfen nicht nachfragen, weil der Nachfragende die Furchtbarkeiten, auch wenn er sie nicht in Frage stellt, doch zum Gegenstand der Kommunikation macht und nicht als etwas nimmt, von dem er nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen kann." Die Schärfe von Schlinks Worten ließ mich seitdem nie wieder los.
Sorgfältig einstudierte Sensibilität
Ohne dass ich das gleich bemerkte, veränderte sich meine Perspektive dadurch. Was ich weiß, sind nur Fragmente der historischen Wahrheit, falls so etwas überhaupt existiert. Sie stammen aus Büchern, Filmen, Reisen und von wenigen Zeitzeugen. Ich verließ Deutschland zum Studium und war wild entschlossen, bloß nicht in das Land der omnipräsenten Schwere, die irgendwie immer abfärbte, zurückzukehren. Letzteres ist dann aus Versehen doch passiert, zeitgleich mit einigen jüdischen Freunden, die stellenweise genervt sind von meiner Paranoia und Übervorsichtigkeit.
Das Berlin des Jahres 2015 ist znzwischen zu einer Plattform für einen produktiven kulturellen Austausch und einen Neuanfang geworden. Wir sind alle damit beschäftigt, behutsam die Narben der Vergangenheit zu pflegen und gleichzeitig nach vorn zu sehen. Die jungen Israelis haben die Berliner Kulturlandschaft in den letzten Jahren mit geprägt, aufgewirbelt und mit einer dringend nötigen Leichtigkeit versehen: Neben Zula, dem Hummus-Café im Prenzlauer Berg mit Legendenstatus und dem hebräischen Magazin Spitz - gibt es seit neustem "Topics Berlin", einen Buchladen in Neukölln, gegründet von zwei Israelis.
"Berlin ist wie ein altes Haus"
Amir Naaman, der 31-jährige Mitgründer von "Topics Berlin", ist erst vor einem Jahr nach Berlin gezogen. "Berlin ist sexy, die Menschen sind sehr schön und versprühen jede Menge Energie. Auf der anderen Seite ist die Stadt wie ein gruseliges, altes Haus. Hier sind schreckliche Dinge passiert in den letzten 100 Jahren. Das ist spannend," sagt Amir.
Wegen der hohen Mietpreise in Tel Aviv und der schlechten Karierreaussichten zog er für drei Monate nach Berlin. Erstmal, aber dann kam alles anders - und er blieb. In Berlin hat er einfach die Möglichkeiten, die es zu Hause "einfach nicht gäbe". Gemeinsam mit einem Freund aus Israel hat er hier einen Comic-Verlag und den Neuköllner Buchladen gegründet.
Wie geht er, umringt von Holocaust-Mahnmalen in Berlin, persönlich mit der Vergangenheit um? Seine Großmutter überlebte Auschwitz, aber ihr Leiden hat Amir und seine Familie sehr geprägt, erzählt er. Aber er möchte da lieber nicht so ins Detail gehen.
"Uns umgibt eine besondere Leichtigkeit"
Als Amir nach Berlin zog, sprach er mit seiner deutschen Mitbewohnerin oft über den Holocaust. "Wir haben nachts viel darüber diskutiert. Irgendwie hat das aber bei uns eine gewisse Leichtigkeit. Wir sind gleich alt und ich trage nicht mehr die Opferrolle meiner Großmutter in mir. Die jungen Deutschen sollten sich genauso von der Schuld ihrer Großeltern befreien," erzählt er mir. "Die Deutschen haben gelernt 'Wir sind schuldig, schuldig, schuldig', und uns wurde in Israel eingetrichtert: 'Wir sind Opfer, Opfer, Opfer'. Ich glaube, beide von uns wollen sich von diesen Rollen lösen," sagt er nachdenklich.
Mit der Spannung leben lernen
Sarah Blau, Autorin der Kurzgeschichte "Nett", die in der Publikation "Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen" vorkommt, beschreibt darin eher gegensätzliche Erwartungen an sie in Berlin. Auf die Frage, wie ihr Berlin denn im Angesicht der Geschichte gefällt, antwortet sie mit einem kurzen, ehrlichen "Es ist nett hier." Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: "Ich will nicht ständig darüber nachdenken, was ich sagen soll, oder was die Leute von mir erwarten, ich will frei sein. Als ich in Berlin ankam, dachte ich die Geister aus der Vergangenheit würden auftauchen, aber sie blieben still. Und ich ließ sie schlafen," erzählt Sarah mir am Telefon.
Und dann ist da noch Adi Cohen. Sie ist 23, kommt aus Jerusalem und lebt seit September 2014 in Berlin, um die deutsche Sprache zu lernen. Für Deutsch hat sie eine "unerklärliche Leidenschaft", Geister habe sie noch keine angetroffen. "Ich mag Neuanfänge. ich mag es mein Leben neu zu ordnen. Niemand kennt mich hier, ich kann mich jeden Tag neu erfinden," sagt sie grinsend. Ich weiß in dem Moment nicht, ob ihr bewusst ist, wie revolutionär ihre Worte sind.
Adi Cohens Freunde in Jerusalem waren, ganz im Gegensatz zu Amir, nicht nur begeistert. "Einige haben nicht verstanden, weshalb ich in das 'hässliche und strenge Deutschland' ziehen möchte. Sie assoziieren mit dem Land immer noch Hitler-Reden und Nazi-Geschrei. Das ist der Kontext - und man kann es ihnen nicht verübeln," sagt sie.
Ihre Großmutter wartete bis kurz vor ihrer Abreise, um loszuwerden, dass sie "einfach nicht versteht, weshalb so viele junge Israelis jetzt nach Berlin ziehen und die Stadt so toll finden." Adi versteht das zwar auf eine rationale Art, löst sich aber von der familiären Abhängigkeit: "Ich habe keine Ahnung, durch was sie hindurch gegangen ist. Nicht nur im Bezug auf den Holocaust, sondern auch auf den gesamten Aufbau Israels. Ich komme da emotional nicht mit."
"Es hilft nichts, wenn Du meinen Großeltern nachweinst"
"Wenn die dritte Generation immer noch alle Sorgen der Welt auf den Schultern tragen und sonst nichts tut, dann ist dieses Gefühl doch sinnlos. Es hilft mir nicht, wenn du meinen Großeltern nachweinst, Caroline", sagt sie zu mir. Recht hat sie, wenn ich genau darüber nachdenke. Ich brauche trotzdem eine Weile, um das zu verarbeiten.
Adi lernt in der Zwischenzeit mit Leidenschaft Deutsch. Mittlerweile spricht sie es fast fließend, würde es aber nie zugeben. Sie besucht Seminare zusammen mit Palästinensern, diskutiert "rational" über die Geschichte. Ihrer Meinung nach gibt es selbst in Berlin noch nicht genug direkten Austausch über den Holocaust, deshalb schlägt sie vor, dass wir beide eine solche Gruppe gründen. Warum nicht?
Fröhlich Mauern einreißen
Aber dann wären da noch die politischen Probleme von heute. Wir sprechen über Palästina und über Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Israelis in Berlin. Es fühlt sich schräg an. Adi und ich teilen ähnliche Ansichten, trotzdem gibt es doch Dinge, die ich als Deutsche vor ihr besser nicht sagen sollte. Oder? "Ja und nein. Das ist ein bisschen kompliziert. Wenn wir tatsächlich in einer freien Welt leben, wo jeder Mensch ein Recht auf eine eigene Meinung hat, darf man das Konzept von strengen geografischen Grenzen und Nationalismus auch kritisieren," antwortet sie.
Wir sind inzwischen im Hinterzimmer einer Kreuzberger Bar angekommen. Ein Musikvideo auf der Leinwand hilft uns, zumindest beim Tanzen die Grenzen im Kopf einzureißen. Ich könnte jetzt schreiben, dass sich das anfangs ein bisschen komisch anfühlte. Wir überspielten das mit nervösem Gelächter und übertriebenen Posen, aber da steckte viel unbeholfene Schönheit drin - vielleicht gerade weil unseren Vorfahren so etwas nicht möglich war.
In diesen Tagen jährt sich die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel. In Sarah Blaus Erinnerung riechen die Straßen Berlins nach leichtem Parfüm, an die Geister denkt sie nur noch selten. Stattdessen besinnt sie sich auf die "natürliche und besondere Anziehungskraft" zwischen beiden Ländern, wie sie das nennt. "Wir sind gerade am Ende einer Ära angelangt. Wenn der letzte Überlebende und der letzte Nazi gestorben ist, dann wird sich etwas ändern. Das weiß ich ganz genau," sagt sie und ihre Stimme klingt etwas belegt.
Fragen, solange noch Zeitzeugen da sind
Adi ist sich nicht sicher, was die Zukunft in Deutschland so bringen mag, freut sich aber darauf: "Ich glaube fest daran, dass vor uns eine Zukunft liegt, die keine Grenzen hat, und in der die Geschichte uns nicht mehr niederdrückt. Eigentlich liebe ich Geschichte nämlich. Sie ist so interessant und bereichernd." Bis dahin möchte sie so viel es geht aus den Erzählungen von Zeitzeugen mitnehmen. Irgendwann gibt es keine mehr - und welche Verbindung werden unsere Enkel dann wohl zu den Geschehnissen haben?" fragt sie.
Vielleicht werde ich bis dahin auch etwas von dieser Schwere der Geschichte losgeworden sein. Und auf Reisen nicht mehr mit verkrampften Gesicht sagen, in welchem Land ich geboren wurde. Ich werde meinen Enkeln aus den Büchern von Bernhard Schlink vorlesen, Tränen kommen dann hoffentlich erst gar nicht. Und ich werde ihnen von dem Frühlingswochenende in diesem chaotischen Jahr 2015 erzählen, als ich mit Adi tanzte, von Amirs Enthusiasmus angesteckt wurde, und mich mit Sarah auf einen Kaffee verabredet habe. In diesem Sommer tanze ich endlich auch in Tel Aviv.