Tempelhofer Freiheit
12. November 2012 Benjamin packt zu. Mit seinen Händen lenkt er einen zwanzig Quadratmeter großen Drachen. Der Wind reißt ihn bis zu fünf Meter hoch, dann liegt er quer in der Luft, winkelt seine Beine an oder streckt sich. Benjamin Kuhfahl, 20 Jahre alt, ist fast an jedem Wochenende in Tempelhof, im Süden Berlins. Seit vier Jahren betreibt er Kite-Landboarding. Einen besseren Schauplatz kann er sich für sein Hobby nicht vorstellen.
Wer sich von der S-Bahnstadion "Tempelhof" dem ehemaligen Flughafen nähert, dem öffnet sich ein riesiges Feld. Ein Feld ohne Häuser, Straßen, Bäume. Das Feld wird gesäumt von Flugzeughangars, daneben ein weißer Radarturm. Hinter dieser Kulisse erheben sich die Altbauten Berlins, das Gebrumm der Großstadt wirkt gedämpft, weitab ragt der Fernsehturm in den Himmel. Hier, im Herzen der Metropole, ist man plötzlich auf dem Land. "Die Größe ist des Platzes ist fantastisch", sagt Benjamin Kuhfahl und macht einen Satz nach vorn. "Man kann hier ungezwungen den ganzen Tag an der Luft verbringen."
Mit Vereinssport hat das wenig zu tun
Früher mussten die Extremsportler ins Umland fahren, nach Brandenburg oder gleich an die Ostsee, aus der Mitte Berlins dauerte das mehr als eine Stunde. Heute rasen, springen, fliegen sie über Asphalt und Wiesen mitten in Berlin, zwischen den Bezirken Kreuzberg, Neukölln, Schöneberg. Ob Breakdance oder Drachenfliegen, ob Minigolf oder Yoga: Die Sportler können sich ihre Zeit einteilen, ihren Ort auf dem Feld selbst bestimmen. Es ist das Ungezwungene, das Individuelle, das viele an der Tempelhofer Sportlandschaft reizt. Mit Sporttreiben im Verein hat das wenig zu tun.
Olmo Köhler braucht für sein Hobby keinen Verein, aber viel Raum. Der 17-Jährige bückt sich, mustert seine Maschine und kontrolliert eine Fernbedienung mit kleinen Hebeln. Dann lässt er ein ferngesteuertes Auto über das Rollfeld rasen, hin und wieder hüpft das Fahrzeug über Ritzen im aufgeplatzten Beton, aus denen schon das Unkraut wuchert. In Tempelhof haben diejenigen Zuflucht gefunden, die in ihren Kiezen nicht wirklich erwünscht waren. Wegen Lärmbelästigung, Verletzungsgefahr, Platzmangel. "Ich habe keine Lust auf Stress", sagt Olmo Köhler. "Also komme ich nach Tempelhof."
Trend und Tradition
Jorge Schulz kann das nachvollziehen. Er holt weit aus und drischt seinen Schläger wuchtig gegen einen heranfliegenden Ball. Schulz ist Kapitän des Teams "Fang und Abwurf Berlin", das sich dem Schlagball verschrieben hat, einer Sportart mit Ähnlichkeiten zum Brennball und Baseball. Früher haben er und seine Freunde im Görlitzer Park in Kreuzberg gespielt, doch irgendwann hat der Platz nicht mehr ausgereicht. In Tempelhof wollen sie eine vernachlässigte Sportart wiederbeleben. Seit den fünfziger Jahren hat es in Deutschland keinen Ligabetrieb für Schlagball gegeben. Zurzeit existieren hierzulande acht Mannschaften. Sie sind gut vernetzt und können sich mit internationalen Gästen zu Turnieren treffen.
Jorge Schulz schwärmt von der neuen Tempelhofer Freiheit: "Wir brauchen 100 bis 120 Meter, um uns auszubreiten. Diese Möglichkeiten gibt es auf anderen Grünflächen ohne Vereinsmitgliedschaft nicht." Der Flughafen Tempelhof hatte als einer der ersten Verkehrsflughäfen Deutschlands 1923 seinen Linienverkehr aufgenommen, seit 2008 ist er stillgelegt. Im Mai 2010 wurde die Fläche als gigantische Freizeitwiese geöffnet, sie ist mit rund 300 Hektar größer als der Berliner Tiergarten oder der Central Park in New York. Bis zu 30.000 Gäste am Tag nutzen das Gelände als ihren Abenteuerspielplatz. Vor allem für Sport, für Fußball oder Badminton, Marathon oder Radfahren. Auf dem Tempelhofer Feld sind die klassischen Disziplinen ebenso vertreten wie die Trendsportarten.
Spielereien auf der Wiese
Karl-Johann Richter verbindet Trend und Tradition: Er steht auf einem Brett, an dem ein Surfsegel befestigt ist. Darauf rollt er über die zwei Kilometer lange Landebahn, auf der noch immer der Reifenabrieb der Flugzeuge zu erkennen ist. Richter ist ein Mann von kräftiger Statur, er lehnt sich in den Wind und nimmt Fahrt auf. Der 48-Jährige ist seit vielen Jahren im Wind-Skaten aktiv. Ständig nähern sich Jugendliche und fragen, ob sie auf seinem Gerät eine Runde drehen dürfen. "Das Alter spielt keine Rolle", sagt Karl-Johann Richter. "Hier leben auch gestandene Mannsbilder ihre Spielereien aus." Jung und Alt auf einer Wiese, gemeinsam und doch getrennt.
Aus der Ferne weht ein Surren herüber, das immer lauter wird. "Auf dieser Landepiste sind früher die Rosinenbomber gelandet", sagt Ralf, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. Am westlichen Rand des Geländes hat er sich einen kleinen Modellflughafen eingerichtet. Er bastelt, schraubt und klebt an seinen Maschinen, die er gleich mit einem ferngesteuerten Elektroantrieb über Tempelhof schweben lassen will. Bei Ralf sitzt jeder Handgriff, seine Maschine fliegt Figuren, steht in der Luft, wird schneller und wieder langsam. Vor dreißig Jahren hat er das Modellfliegen für sich entdeckt, nun stehen 60 Flugzeuge in seinem Keller. Um ihn herum hat sich ein Halbkreis gebildet, ein Dutzend Kinder und Jugendliche beobachten Ralf bei seinem Hobby. In Tempelhof gibt es keine Wände zwischen den Spielfeldern. Die Berliner wissen ihren fließenden Sportverkehr zu schätzen.