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"Terror betrifft beide Seiten"

Kersten Knipp10. Juni 2016

Der Terroranschlag gegen israelische Zivilisten in Tel Aviv zeigt, wie verfahren der Nahostkonflikt weiterhin ist. Er dürfte nur schwer wieder in Gang zu bringen sein, meint die Politologin Sylke Tempel.

Israelische Soldaten kontrollieren eine Straße in der Nähe von Hebron (Foto: Reuters/M. Qawasma)
Bild: Reuters/M. Qawasma

Frau Tempel, in Israel ist es zu einem weiteren Terroranschlag gekommen. Was sind aus Ihrer Sicht die Hintergründe?

Wir wissen derzeit noch nicht, wer die Attentäter genau sind und ob sie in irgendeiner Weise organisiert gehandelt haben. Das war ja in der jüngsten Zeit nicht immer der Fall. Der große Hintergrund ist natürlich immer das, was als Kampf gegen die Besatzung gilt. Hinzu kommt, dass Israel aus Anlass des Ramadan mehr Einreisegenehmigungen in sein Kernland erteilt hat als zu jeglicher Zeit zuvor. Verschiedene Motive sind denkbar: der Kampf gegen die Besatzung, der Traum, ein Held zu sein; auch persönliche Schwierigkeiten könnten eine Rolle gespielt haben – das war zuletzt oft der Fall. Auch könnten die Täter erpresst worden sein, denn auch das kam vor. Auch Erfahrungen an einem Checkpoint, wo man mies behandelt worden ist, könnten eine Rolle gespielt haben. Bemerkenswert ist allerdings, dass es zwei Personen gelungen ist, mit Waffen die Grenze nach Israel zu passieren.

Wie beurteilen Sie die Fähigkeit und Bereitschaft der beiden Regierungen - der israelischen wie der der Autonomiegebiete -, mit der Herausforderung des Terrorismus fertig zu werden?

Der Terrorismus betrifft beide Seiten. In der palästinensischen Autonomie unter Abbas hat man durchaus die Sorge, dass einige der Kämpfer auch dschihadistischen Motiven folge könnten. Das wäre dann auch eine Gefahr für die Autonomiebehörde. Darum ist die Zusammenarbeit mit den Israelis in dieser Hinsicht relativ eng.

Sylke Tempel: "Ich sehe derzeit nichts, was Verhandlungen wieder in Gang bringen könnte"

Zugleich wird jemand, der in Israel das Feuer auf Passanten in einem Café eröffnet, als Held und Widerstandskämpfer gegen die Besatzung gefeiert und nicht als Terrorist - diese Stimmung ist da. Da zeigt sich die Autonomiebehörde zögerlich.

Auffällig ist, dass sich die israelische Regierung in jüngster Zeit sehr zurückhaltend gezeigt hat. Man hat in den vergangenen Monaten die Erfahrung gemacht, dass Attentate oft nicht von der Hamas oder einer Miliz organisiert waren, sondern von Einzeltätern begangen wurden. Was Verhandlungen angeht, sehe ich derzeit nichts, was sie wieder in Gang bringen könnte.

Welche Rolle könnte denn die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland bei diesem oder den anderen Attentaten der letzten Zeit gespielt haben?

Ich habe der Siedlungspolitik noch nie irgendetwas abgewinnen können. Sie erscheint mir sinnlos. Der Urgedanke des Zionismus war es, einen säkularen Staat zu haben. Heilsgeschichtliche Intentionen spielten bei seiner Gründung keine Rolle. Es ging allein darum, dass die Juden in dem neuen Staatswesen in der Mehrheit sind. Rein pragmatisch ist das Siedlungsprojekt verfehlt: Es kostet nur Ressourcen, zumal Teile der Siedlungen später womöglich geräumt werden. Doch sind die Siedlungen nicht das Haupthindernis auf dem Weg zu einem Friedensvertrag.

Sondern?

Das Projekt eines im demographischen Sinne jüdischen und demokratischen Staat kann zusammen mit der Besatzung der Westbank nicht funktionieren. Doch die Siedler haben in den vergangenen Jahren etwas geschafft, was immer unterschätzt worden ist: Sie haben sich im politischen Prozess als größere Kraft verankert, als es ihrer demographischen Größe entspricht. Erfolgreich präsentieren sie sich als die neuen Pioniere, die sie de facto nicht sind. Und sie haben den Blick von den Problemen, die ihr Handeln schafft, hin zu jenen gelenkt, die im Verhalten der Palästinenser begründet sind. Die Israelis stehen also vor einer grundsätzlichen Entscheidung: Wollen sie die heiligen Stätten wie etwa in Hebron in Form einer Herrschaft über ein solches Gebiet? Oder wollen sie einen funktionierenden Staat mit einer jüdischen Mehrheit?

Wo sehen Sie die Probleme auf palästinensischer Seite?

Auf palästinensischer Seite hat man bislang keine Antwort auf die Frage gefunden, welche Zugeständnisse man machen will. Viele Palästinenser sehen es bereits als ein Zugeständnis, nur die Westbank und den Gazastreifen zurückzufordern - und nicht das gesamte Mandatsgebiet. Aber auch, wenn es sich nur um die Westbank und den Gazastreifen handelt, sind für einige Palästinenser bei einem möglichen Landtausch nicht einmal ein oder zwei Prozent des Gebietsverlustes akzeptabel. Die Entscheidung ist also die zwischen einem zukunftsfähigen Staat auf der einen oder dem Beharren auf Wiedergutmachung des Unrechts auf der anderen Seite.

Wie beurteilen Sie die Rolle des israelischen Militärs? Dieses hat ja wiederholt zur Zurückhaltung gemahnt.

Das Militär ist eine der höchsten Institutionen in Israel. Ihr misst man hohes moralisches Gewicht bei. Die israelische Militärführung ist nicht besonders glücklich über den nationalistischen Kurs der letzten Zeit. Das gilt auch im Hinblick auf den Umgang mit den arabischen Staatsbürgern Israels - und zwar gerade zu einer Zeit, in der diese zunehmend bereit sind, auch Sozialdienst zu leisten. Die Befürworter eines Rückzugs aus der Westbank stammen größtenteils aus dem Militär, denken Sie an Ehud Barak oder Yitzak Rabin. Auch die Friedensbewegung ist ja aus dem Militär heraus entstanden. Ein nicht geringer Teil der militärischen Führung ist der Auffassung, dass sich Israel strategisch in keine schlechtere Position bringen würde, wenn es sich aus der Westbank zurückzöge.

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Berufung Avigdor Liebermans zum neuen israelischen Verteidigungsminister?

Die Berufung erfolgte, nachdem sich ein sehr hoher Militärführer öffentlich über nationalistische Tendenzen in Israel geäußert hatte. Kurz darauf setze Premier Netanahu dem Militär einen Mann vor die Nase, der zwar nicht über die notwendigen Kompetenzen verfügt - die fehlten ihm ja schon als Außenminister - ,der aber stramm rechts steht. Das kann man nicht anders interpretieren als einen weiteren Versuch Benjamin Netanjahus, angesehenen Institutionen der israelischen Demokratie eine allzu große Unabhängigkeit auszutreiben. Und dass das einem demokratischen Staatswesen schweren Schaden zufügt, liegt ja auf der Hand.

Sylke Tempel ist deutsche Journalistin und Buchautorin. Seit 2008 ist sie Chefredakteurin der Zeitschrift "Internationale Politik".

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