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Politik

Terror-Gefährder besser erkennen

Wolfgang Dick
7. Juni 2017

Nach dem Terroranschlag in London werden die Sicherheitsbehörden kritisiert. Die Täter waren der Polizei bekannt, aber ihre Gefährlichkeit wurde falsch eingeschätzt. Das soll sich ändern, auch beim Bundeskriminalamt.

Minority Report Tom Cruise quer
Schauspieler Tom Cruise als Polizeifahnder im US-Film "Minority Report": Verbrechen werden vorhergesagt Bild: Imago

Der aus Pakistan stammende Brite Khuram Shazad B. war dem Inlandsgeheimdienst MI5 und der Polizei als radikaler Islamist und Anhänger der Terrororganisation "Islamischer Staat" bekannt. Vor dem mutmaßlichen Mittäter Youssef Z. - italienischer Staatsbürger marokkanischer Herkunft - hatte das italienische Innenministerium sogar die britischen Sicherheitsdienste gewarnt. Alles vor der Tat, bei der sieben Menschen getötet wurden.

Passiert ist nichts. Keine Verhaftung. Keine Sicherheitsverwahrung. Keine Überwachung. Mark Rowley, der Chef der britischen Terrorabwehr entschuldigt das damit, dass weder bei B. noch bei Z. Anzeichen gefunden worden wären, die belegt hätten, dass die Männer eine Terrortat vorbereiteten.

Ähnlich lauteten die Verteidigungsreden deutscher Behörden im Fall des Attentäters Anis Amri, der am 23. Dezember 2016 mit einem Laster auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin raste. Zwölf Menschen starben. Auch zu Amri erhielt die Polizei Warnungen: durch die Ausländerbehörde in Kleve bereits im Jahr 2015. Allerdings galten diese Hinweise einem gewissen "Mohamed Hassa". Der falsche Name war eine von insgesamt vierzehn Identitäten, die Amri benutzte. Die Polizei konnte sie ihm damals nicht zuordnen.

Vorwürfe an Theresa May

Der Terrorexperte Peter Neumann vom Londoner King's College spricht im Deutschlandfunk-Interview (DLF) angesichts der inzwischen bekannten Fakten rund um den Juni-Anschlag in London von "schweren Versäumnissen". Die sieht Neumann auch bei der jetzigen Premierministerin Theresa May. Sie sei sechs Jahre lang Innenministerin des Landes gewesen und habe nichts unternommen, obwohl einer der Terrortäter sogar offen erkennbar Leute für den IS angeworben habe. Zudem trage May die Mitverantwortung dafür, dass seit 2010 rund 20.000 Stellen bei der britischen Polizei eingespart wurden.

Bewaffnete Polizisten einer Anti-Terror-Einheit in LondonBild: picture-alliance/SOLO Syndication/Daily Mail/R. Hoskins

May sagte nach den Anschlägen, sie wolle den radikalen Islam aus der britischen Gesellschaft "ausrotten". Neumann sagt im DLF zu ihrer Rede, diese Ankündigungen seien "starke Worte, aber wenig dahinter". Er belegt dies damit, dass es zwar eine Anti-Terror-Strategie in Großbritannien gebe, es aber an Personal dafür mangele. Neumann fragt zudem kritisch nach, was eine Internetüberwachung bringen solle, wenn sich die Terroristen bei einem Prediger und nicht im Internet radikalisierten. Fachleute empfehlen schon länger, anstelle des World Wide Webs lieber sogenannte Messenger-Dienste zu überwachen.

Verbesserte Frühwarnsysteme

Fehleinschätzungen der Sicherheitsbehörden oder komplettes Versagen von bisherigen Frühwarnsystemen - das sind nach Aussagen  von Terrorexperten wie dem Deutschen Rolf Tophoven immer wieder Gründe für einen falschen oder fahrlässigen Umgang mit Gefährdern.

Tom Cruise als Polizeifahnder mit einem "Precog"Bild: Fox Home Entertainment

Benötigt würde wohl ein System, das dem vergleichbar wäre, das der US-amerikanische Science-Fiction Autor Philip K. Dick erfand. Regisseur Steven Spielberg setzte es 2002 im Film "Minority Report" um: Drei Frauen (die "Precogs") sagen mit hellseherischen Fähigkeiten alle Straftaten voraus, bevor sie begangen werden. Das Filmszenario: Im Jahr 2054 gibt es keine Verbrechen mehr, weil sie gar nicht mehr ausgeführt werden können. Alle potentiellen Täter werden schon vor ihrer Tat in Gewahrsam genommen. Soweit die Fiktion.

Bundeskriminalamt arbeitet an Gefährder-Radar

Der schriftstellerischen Erfindung wollen britische und deutsche Polizeibehörden so nah wie möglich kommen. Statt auf Hellseherinnen setzen sie auf IT. Zur richtigen Einschätzung der 675 Personen, die das Bundeskriminalamt (BKA) im Mai als "islamistische Gefährder" einstufte, ist jetzt ein Sicherheitssystem mit der Bezeichnung "Radar-iTE" in der Einführungsphase.

Das Computerprogramm hat die Vorgehensweise von Attentätern und Gefährdern der Vergangenheit gespeichert und analysiert. Daraus abgeleitet soll es eine objektive dreistufige Risikobewertung erlauben. Die Bewertungen unterscheiden zwischen einem hohem, auffälligen oder moderaten Risiko. Je nach Bewertung erfolgen Interventionsmaßnahmen der Polizei: zum Beispiel eine Observierung per Fußfessel, eine Verhaftung oder ein Aufenthaltsverbot.

Das System ist für das BKA  in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie der Universität Konstanz entwickelt worden. Die Arbeiten daran hatten bereits 2015 begonnen und wurden im September 2016 fertiggestellt. Die stufenweise Einführung in ganz Deutschland soll in diesem Sommer abgeschlossen sein.

Holger Münch: Überwachung über alle BundesländerBild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

BKA-Präsident Holger Münch fordert: "Wenn wir bundesweit einen Standard in der Gefährder-Überwachung erreichen wollen, müssen die Polizeien in Bund und Ländern gleiche Maßnahmen treffen dürfen." Münch beklagt, dass bisher ein einheitlicher rechtlicher Rahmen dafür fehle.

Die Polizei hat in nur elf Bundesländern die Befugnis, zur Gefahrenabwehr die Telekommunikation von Gefährdern zu überwachen. Die Überwachung verschlüsselter Kommunikation ist nach BKA-Angaben nur in sechs, die Online-Durchsuchung nur in zwei Bundesländern erlaubt. Die Konsequenz: Wenn ein Gefährder von Bundesland zu Bundesland umzieht, muss die Überwachung mitunter abgebrochen werden. "Das können wir uns nicht mehr leisten", betont BKA-Chef Münch.

Keine Gesinnungs-Jagd

Kritiker des Programms Radar-iTE wenden ein, dass die per Computer abgefragten Informationen sich nur auf beobachtbares Verhalten von Gefährdern konzentrieren. Und es gibt grundlegendere Bedenken. Darf man Menschen in Gewahrsam nehmen, die noch keine Straftat begangen haben? Führende Juristen wie der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier äußerten in der Vergangenheit ein gewisses Verständnis für ein "Präventiv-Strafrecht", das schon im Vorfeld von Terrorakten greift.

Hans-Jürgen Papier: "Ausschließlich Taten bewerten"Bild: picture-alliance/dpa

Im Interview mit der DW stellt Papier aber klar: "Wir dürfen nicht überreagieren und zu einem Gesinnungsstrafrecht kommen." Alle Maßnahmen müssten auch künftig dem juristischen Prinzip der Verhältnismäßigkeit folgen und ausschließlich Taten bewerten.

"Wir haben ein Tatstrafrecht. Es kann nicht nach Vorlieben gehen oder nach dem, was wir einer Person zutrauen", sagt der ehemalige Verfassungsrichter Papier. Er baut auf die jüngst verschärften Strafmaßnahmen bei Vorbereitungshandlungen im Bereich Terrorismus. Das setzt allerdings voraus, dass sie von den Gerichten auch konsequent angewendet werden.

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