TV-Experiment: Das Publikum urteilt bei Gericht
17. Oktober 2016Zuschauen, sich zurücklehnen, berieseln lassen - das war dem Publikum der Sendung "Terror - Ihr Urteil", die am Montagabend im Ersten Deutschen Fernsehen lief, nicht vergönnt. In dem 90-minütigen Gerichts-Drama wurde ein veritables Dilemma verhandelt, bei dem der Zuschauer mitdenken, abwägen und schließlich über den Urteilsspruch und damit den Ausgang des Films selber entscheiden sollte.
Die Geschichte: Ein Selbstmordkommando hat ein vollbesetztes Passagierflugzeug unter seine Kontrolle gebracht und droht, den Airbus abstürzen zu lassen - möglicherweise ist das Münchner Fußballstadion sein Ziel. Dort findet gerade ein Spiel statt, 70.000 Menschen füllen die Arena. Zwei Kampfjets der Bundeswehr versuchen, das Flugzeug abzudrängen und scheitern. Als das Flugzeug in den Sinkflug geht, entscheidet sich der Kampfjetpilot Lars Koch (Florian David Fitz) entgegen der Befehle, die Maschine abzuschießen. Alle 164 Insassen sterben, die zigtausend Menschen im Stadion bleiben unversehrt. Koch wird des Mordes an 164 Menschen angeklagt und muss sich vor Gericht verantworten.
Gesetzeskonformität um jeden Preis?
In der Gerichtsverhandlung kommen die entscheidenden Fragen und Argumente zur Sprache: "Dürfen wir Unschuldige töten, um andere Unschuldige zu retten? Und ist es eine Frage der Zahl? Lassen sich Leben gegeneinander rechnen?", fragt Staatsanwältin Nelson, gespielt von Martina Gedeck. "Kein Prinzip der Welt kann wichtiger sein, als 70.000 Menschen zu retten", hält Verteidiger Biegler (Lars Eidinger) dagegen.
Und was sagt das Gesetz? 2005 verabschiedete der Bundestag das Luftsicherheitsgesetz, das es erlaubte, im Notfall auch ein mit Passagieren besetztes Flugzeug, das als Waffe benutzt werden soll, abzuschießen. Es wurde allerdings vom Bundesverfassungsgericht bereits im Folgejahr als "mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig" verworfen.
Der im Film angeklagte Pilot Lars Koch wusste im Moment des Abschusses, dass er gegen das Gesetz handelte. Er traf die Entscheidung bewusst. Das Drama ist ein Denkmodell. Im Kern geht es darum, ob die Verfassung der Bundesrepublik in jedem Fall gilt - und das zwingt die Zuschauer, sich Gedanken über das Grundgesetz zu machen. Darin steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Stadionbesucher und Flugzeuginsassen haben demnach dasselbe Recht zu leben.
Film lief gleichzeitig in Österreich, Schweiz, Slowenien und Tschechien
Rund 7 Millionen Fernsehzuschauer sahen zu, wie im Gerichtssaal Vorgänge geschildert, Fragen gestellt, gestritten, verteidigt und schließlich plädiert wurde. Am Ende waren sie aufgefordert, selber zu urteilen: schuldig oder unschuldig?
Das Ergebnis fiel klar aus: 86,9 Prozent der Zuschauer, die sich am Voting beteiligt hatten, stimmten für "unschuldig", nur 13,1 Prozent für "schuldig". Ein überraschend klarer Ausgang angesichts einer so komplexen Frage, nämlich der nach dem Verhältnis von Recht und Moral.
In Österreich, der Schweiz, Slowenien und Tschechien war der Film zeitgleich zu sehen. In Österreich und der Schweiz wurde ebenfalls abgestimmt. Die Ergebnisse unterschieden sich kaum vom Votum der deutschen Zuschauer.
Regisseur plädiert für Schuld des Angeklagten
Der deutsche Filmemacher Lars Kraume führte bei dem TV-Drama Regie. Er war anderer Meinung als die Mehrheit der Zuschauer seines Films. Gegenüber der Nachrichtenseite Spiegel Online sagte Kraume, dass der Kampfpilot seiner Ansicht nach schuldig gesprochen werden müsse. "Das entspricht dem Grundgesetz", sagte er und ergänzte: "Dieses Stück plädiert zu Recht dafür, dass Gefühle als Grundlage für den Rechtsstaat nicht taugen."
Schließlich bekamen die Zuschauer das von der Mehrheit gewählte Filmende zu sehen: Pilot Lars Koch darf aufatmen, die Nebenklägerin, die ihren Ehemann durch den Abschuss verloren hatte, hört die Urteilsverkündung unter Tränen.
Unterschiedliche Ergebnisse in TV und Theater
Der Film basiert auf dem Theaterstück "Terror" von Ferdinand von Schirach. Von Schirach ist selbst deutscher Strafverteidiger und Schriftsteller. Sein Stück wurde bereits mehr als 500 Mal im Theater aufgeführt - rund um den Globus: so zum Beispiel in Deutschland, Venezuela, Japan und Ungarn. Die weltweiten Abstimmungsergebnisse der Theateraufführungen sind auf einer Internetseite genau dokumentiert. Bei der Mehrheit der Aufführungen stimmte das Publikum für einen Freispruch - allerdings im Schnitt mit rund 60 Prozent nicht so deutlich wie beim TV-Drama.
Von Schirach sagte gegenüber dem Rundfunk Berlin-Brandenburg: "Ganz egal, welches Rechtssystem wir vorfinden, die Ergebnisse sind identisch. Das ist weltweit so." Nur Japan tanzte bislang aus der Reihe: Alle vier Aufführungen endeten mit einem Schuldspruch. Dies sei mit dem "vollkommen anderen" Ehrbegriff der Japaner zu begründen, so der Autor. Von Schirach betonte außerdem, dass das Stück eine "Versuchsanordnung" sei: "Ich würde niemals auf die Idee kommen, über so einen tatsächlichen Fall abstimmen zu wollen. Das wäre Quatsch - und auch irre gefährlich."
Reger Austausch in den sozialen Netzwerken
Ab den ersten Filmminuten von "Terror - Ihr Urteil" waren Reaktionen in den sozialen Netzwerken zu lesen: Auf Twitter etwa klagten die einen, dass der Film einen langweiligen Charakter habe, die anderen lobten ihn als innovatives Projekt im deutschen, öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Wiederum andere fällten bereits nach wenigen Verhandlungsminuten ihr Urteil über den Angeklagten oder aber stellten das TV-Event als Ganzes infrage. Hier wurde klar: Der Film polarisiert.
"Hart aber Fair" bespricht den Film
Ähnlich kontrovers wie im Netz ging es in der anschließenden Diskussionsrunde der Sendung "Hart aber Fair" mit Moderator Frank Plasberg zu. Die Gäste an diesem Abend: der ehemalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung, der ehemalige Kampfjetpilot Thomas Wassmann, die Theologin Petra Bahr sowie der Rechtsanwalt und ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum.
Franz Josef Jung und der ehemalige Kampfjetpilot Wassmann hielten den Abschuss für richtig und kritisierten, dass das Luftsicherheitsgesetz aus dem Jahr 2005 vom Bundesverfassungsgericht als "mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig" verworfen wurde. Gerhart Baum verteidigte leidenschaftlich das Grundgesetz. Er war strikt dagegen, den Piloten freizusprechen: "Er ist und bleibt ein Täter. Es ist wichtig, dass der Staat da eine Grenze zieht." Seine Position hat eine Geschichte: Baum hat sich selbst dafür stark gemacht, dass das Luftsicherheitsgesetz, das einen Flugzeugabschuss im Notfall erlaubte, wieder abgeschafft wurde. Leben dürften nicht gegeneinander aufgerechnet werden. "Die Menschenwürde ist unantastbar. Dieser Artikel im Grundgesetz ist die größte Errungenschaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs", sagte Baum. Der ehemalige Verteidigungsminister Jung hielt dagegen, dass auch die 70.000 Menschen im Stadion eine Menschenwürde hätten.
Die Theologin Petra Bahr wollte sich nicht festlegen, ob der Pilot ihrer Meinung nach schuldig oder unschuldig sei. Sie verwies immer wieder darauf, dass die Zuschauer nur über den Ausgang eines Films abgestimmt hätten, nicht über die Verfassung. Dies zu unterscheiden sei wichtig, "sonst sind wir schnell bei Volksjustiz."
Lesen Sie hier den Kommentar zum Film "Terror - Ihr Urteil" und dem Votum des Publikums.