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Faktencheck: Christentum als Terrorideologie eingestuft?

20. November 2024

Laut einem viralen Post bei X wirft die Anti-Defamation League dem Christentum Terrorismus und Extremismus vor. Die jüdische Organisation mit Sitz in den USA ist nicht unumstritten Doch was steckt hinter dem Post?

DW Fakten Check | Irreführend: Die ADL hat das Christentum in die Liste der Gruppen für Extremismus, Terrorismus und Bigotterie aufgenommen.
Der Screenshot ist echt, aber mit Christian Identity ist nicht die Christenheit oder das Christentum, sondern eine rassistische, antisemitische Sekte mit diesem Namen gemeintBild: X

Religion kann starke Gefühle wecken. Antisemitismus und anderer Hass können heftige Diskussionen auslösen. Die Kombination ist ein Garant für viele Klicks. Mit diesem Rezept hat ein User, der seinen X-Account nach eigenen Angaben zum Geldverdienen nutzt, mit einem Post binnen 18 Stunden die eine-Million-"Views"-Marke auf X (ehemals Twitter) geknackt.

Behauptung: "Die ADL hat das Christentum in die Liste für Extremismus, Terrorismus und Bigotterie aufgenommen."  Als angeblichen Beweis postet der User einen Screenshot der Internetseite der ADL auf der die "Christian Identity" (Deutsch: Christliche Identität) mit "Terrorismus, Extremismus und Bigotterie" in Verbindung gebracht wird.

Der Post wurde mehr als 4000 Mal in verschiedenen Sprachen und Ländern geteilt. Besonders erfolgreich ist er bei Accounts, die antisemitische Inhalte verbreiten.

DW-Faktencheck: Falsch.

Der Screenshot zeigt tatsächlich eine Internetseite der Anti-Defamation League (ADL), einer jüdischen Lobbyorganisation in den USA. Mit der "Christian Identity" ist jedoch nicht der christliche Glauben gemeint oder gar alle Menschen, die sich zu ihm bekennen.

Was ist Christian Identity?

Christian Identity (CID) ist eine Bewegung, die nicht nur die ADL als terroristisch bezeichnet. In einem Dokument von 1989 konstatiert das Federal Bureau of Investigation (FBI), in seiner Funktion als US-amerikanischer Inlandsgeheimdienst, dass die CID eine Botschaft voller "Rassenhass unter dem Deckmantel der Religion"  verbreite. Ihre Ideologie leite sie aus einer sehr eigenwilligen Interpretation der biblischen Schöpfungsgeschichte ab.

Laut FBI wurde vor allem in den 1980er Jahren gegen eine Reihe Mitglieder verschiedener CID-Gruppen wegen krimineller Aktivitäten ermittelt, "darunter Bombenanschläge, Morde, Raubüberfälle und Waffenverstöße. Alle diese Aktivitäten wurden zur Förderung der weißen Vorherrschaft durchgeführt, deren Grundlage in der (Christian, d.R.) Identity enthalten ist." Das FBI kommt zu der Schlussfolgerung, dass es sich bei den Anhängern der Bewegung um "Fanatiker" handeln müsse.

Die ADL bezeichnet Christian Identity als eine "in rechtsextremen Kreisen verbreitete religiöse Ideologie"Bild: ADL

Auch die US-Bürgerrechtsorganisation Southern Poverty Law Center (SPLC) stuft CID als Ideologie mit tief verwurzeltem Rassismus und Antisemitismus ein: "Sie behauptet, dass die Weißen und nicht die Juden die wahren Israeliten sind, die von Gott in der Bibel bevorzugt werden."  Die Bewegung habe nach den 1980er Jahren zwar an Einfluss verloren und finde kaum noch neue Anhänger, gehöre aber zu den radikalsten Gruppen unter den "White Supremacists" - also Gruppen, die eine Vorherrschaft weißer Christen in den USA propagieren.

Diese Beschreibungen decken sich in weiten Teilen mit dem, was auch die ADL auf ihrer Website über die CID-Bewegung berichtet.

Wer ist die ADL?

Laut Selbstauskunft ist das Ziel der der 1913 als Bürgerrechtsorganisation gegründeten Anti-Defamation League (ADL) mit Sitz in New York City: "Die Diffamierung des jüdischen Volkes zu stoppen und Gerechtigkeit und faire Behandlung für alle sicherzustellen."

Kritiker aus unterschiedlichen Ecken des politischen Spektrums werfen der ADL vor, Kritik an Israel und seiner Regierungspolitik zu häufig als antisemitisch zu brandmarken. Nach Meinung der ebenfalls jüdischen Organisation J Street nimmt die ADL dabei sogar zum Teil in Kauf, dass "legitime Kritik am jüdischen Staat unterdrückt" werde.

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Die ADL selbst wehrt sich vehement gegen solche Vorwürfe und listet eine ganze Reihe - aus ihrer Sicht falscher, wiederkehrender - "Mythen" über die ADL auf, um ihnen zu widersprechen.

Was steckt hinter dem Post?

Ohne auf die hier debunkte Behauptung einzugehen, liefert die ADL eine mögliche Erklärung dafür, warum der X-Post so viral ging: "Der aktuelle Einfluss der Christlichen Identität reicht vom Ku-Klux-Klan und Neonazi-Gruppen bis hin zu regierungsfeindlichen Milizen und souveränen Bürgerbewegungen - und doch wissen die meisten Amerikaner nicht einmal, dass es sie gibt." 

Ob der Urheber des Posts tatsächlich geschockt darüber war, dass die ADL das Christentum vermeintlich als Terrorideologie einstuft, ob er sich als mutmaßlicher Christ angegriffen fühlte oder schlicht Antisemitismus verbreiten wollte, lässt sich nicht sagen. Klar ist aber, dass er oder sie die Mechanismen bedient, die auf X und in anderen Sozialen Medien große Reichweite erzeugen, also genau das bewirken, was das Account-Profil als Ziel ausgibt: mit X Geld zu verdienen.

Die vermeintliche pauschale Verunglimpfung des Christentums durch die ADL rührt an den Kern des christlichen Antijudaismus - nämlich den Verschwörungsmythos, dass "die Juden" die Christenheit entmachten, auslöschen oder zumindest diskreditieren wollten. Mehrere User-Kommentare gehen genau in diese Richtung und der Urheber selbst stimmt ebenfalls mit ein, indem er eine weitere Verschwörungserzählung bedient - nämlich die, dass alle möglichen Institutionen vom israelischen Geheimdienst unterwandert seien: "ADL und SPLC und Wikipedia, haha, 3 Unternehmen im Besitz des Mossad".

Ein Kommentar erklärt, dass Christian Identity rassistisch sei und ihre Vertreter sich für die wahren Israeliten halten, der Urheber des Ursprungsposts tut das mit "Klingt nach dem Judentum, haha" abBild: X

Die starken Emotionen, die dies auslöst, bewirken offenkundig einerseits, dass viele Nutzer die Behauptung nicht weiter hinterfragen und ihre Empörung ausdrücken oder sarkastisch kommentieren, dass von der ADL als vermeintliche Stellvertreterin des Judentums nichts anderes zu erwarten sei. Andererseits springen auch User darauf an, die den Falschbehauptungen widersprechen, und erhöhen damit ebenfalls die Verbreitung des Posts.

Dafür, dass sich der Urheber diese Emotionen bewusst zunutze macht, sprechen seine Kommentare unter dem Ursprungspost. Die zahlreichen Hinweise von anderen X-Nutzern auf die Falschbehauptung - also darauf, dass Christian Identity eben nicht gleichbedeutend mit der Christenheit ist - nimmt er zur Kenntnis: Er räumt den Irrtum zwar ein, lehnt aber unter Verweis auf die Redefreiheit auf X die Aufforderung ab, den Post zu löschen. Stattdessen bedient er sich weiterer antisemitischer Stereotype (s. Bild), um die Debatte in Gang zu halten und so die Reichweite seines X-Posts zu erhöhen.

Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.
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