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Politik

Teufelskreis: Der Irak und seine ewige Stromkrise

Cathrin Schaer
9. Juli 2021

Jeden Sommer protestieren die Iraker bei unerträglicher Hitze gegen fehlenden Strom. Jeden Sommer verspricht die Regierung, es besser zu machen. Doch die Energieprobleme des Erdöl-reichen Landes sind komplex.

Irak Hitze in Bagdad
Unerträgliche Hitze auch in Innenräumen gehört zu den Folgen des Strommangels im IrakBild: Ahmad Al-Rubaye/Getty Images/AFP

Rund 70 Strommasten, die wegen Sabotage keine Elektrizität mehr transportieren: Auch solche Taktiken - kleinere Anschläge auf das irakische Energiesystem - gehören offenbar zum Repertoire der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS). Lokalen Medien zufolge macht der IS den Irakern auch mit kleinen, aber effektiven Schlägen das Leben schwer. Denn fällt während der Sommermonate - die Temperaturen klettern bis auf 50 Grad - der Strom und damit die Kühlung aus, wird die Hitze fast unerträglich.

"Jemand versucht, das Land zu destabilisieren und Terror zu nähren", erklärte ein Sprecher des irakischen Elektrizitätsministeriums in einem Fernsehinterview - ohne sich explizit auf den IS zu beziehen.

Sollte dieser tatsächlich hinter den Anschlägen stehen, so verstärkt er nur ein ohnehin bestehendes Problem: die desolate Lage der irakischen Energie-Infrastruktur. Seit Jahren übersteigt die Nachfrage das Angebot. Immer wieder kommt es zu dramatischen Ausfällen in der Versorgung. Bei einem größeren Stromausfall am vergangenen Wochenende waren Krankenhäuser, Regierungsgebäude und sogar einige lokale Flughäfen stundenlang ohne Strom.

Die Situation führt regelmäßig zu Protesten der mit dem Zustand ihres Landes insgesamt oft sehr unzufriedenen Iraker: In den letzten zwei Wochen stürmten wütende Bürger Kraftwerke in Bagdad und Diyala. Ende Juni trat der Stromminister des Landes, Majed Mahdi Hantoosh, zurück - ebenso wie die letzten 17 Minister in diesem Amt vor ihm, die ebenfalls an ihrer Aufgabe scheiterten.

Sprung ins kühlende Nass bei extrem hohen Temperaturen: Szene aus Basra, Juni 2021Bild: Hussein Faleh/Getty Images/AFP

Hohe Investitionen, wenig Ertrag

Wie in fast jedem Sommer versprach die irakische Regierung auch diesmal, es besser zu machen. Doch tatsächlich tut sich wie immer wenig in dem ölreichen Land. Im Dezember 2020 berichtete ein mit den Problemen des Energiesektors befasster parlamentarischer Ausschuss, dass seit 2005 rund 81 Milliarden Dollar (68 Milliarden Euro) für diesen Sektor ausgegeben worden seien. Doch trotz dieser Summen hat es keine signifikanten Verbesserungen gegeben.

Viele Iraker, die wegen der mangelhaften Stromversorgung auf die Straße gehen, machen dafür die grassierende Korruption verantwortlich. Analysten sagen jedoch,  die Ursachen seien noch um einiges komplexer.

"Es ist wie ein perfekter Sturm", erklärt Ali al-Saffar, Analyst der in Paris ansässigen Internationalen Energieagentur (IEA), die Regierungen politisch berät und globale Energiedaten zusammenstellt. "Es ist nicht nur die technische Situation. Es gibt auch nicht-technische Faktoren, politische und wirtschaftliche Gründe."

 

Einige davon lägen außerhalb der Kontrolle der irakischen Politik, so al-Saffar. Dazu gehöre etwa, dass die Sommer länger und trockener würden, ein Umstand, der sowohl die Nachfrage nach Strom erhöhe als auch das Angebot reduziere, da viele Generatoren nur wenig effizient seien.

Andere Faktoren hingegen könnten besser gesteuert werden, so al-Saffar. So liege eines der größten Probleme des Irak in der hohen Ineffizienz auf Angebotsseite.

Massive Verluste

Bei der Stromübertragung verliert das irakische Stromnetz derzeit zwischen 40 und 50 Prozent der ursprünglich produzierten Elektrizität. Dieser Verlust hat zum einen technische Gründe - so etwa beschädigte, leistungsschwache oder veraltete Stromübertragungsanlagen. Zum anderen gibt es aber auch so genannte nicht-technische Gründe, wie etwa Strom-Diebstahl oder Manipulationen.

Die Verluste im Irak gehören zu den höchsten weltweit. Zum Vergleich: In Deutschland liegen die Übertragungs- und Verteilungsverluste bei etwa vier Prozent, der weltweite Durchschnitt liegt bei etwa acht Prozent. Auch der Durchschnitt in Nahost und Nordafrika liegt insgesamt niedriger, mit Werten von etwa sieben Prozent in den Vereinigten Arabischen Emiraten bis zu 15 Prozent in Tunesien.

Der Missstand im Irak müsse dringend behoben werden, sagen internationale Experten. Andernfalls wäre es sinnlos, dort mehr Strom erzeugen zu wollen. 

Wenig effizient: die irakische Energiewirtschaft. Blick auf ein Kraftwerk nahe der Stadt NasiriyaBild: Hussein Faleh/Getty Images/AFP

Nicht installierte Stromzähler

Allerdings sei das Stromproblem des Irak hochkomplex, sagt al-Saffar. So hat die irakische Regierung zwar mehrfach Pläne zur Aufrüstung und Verbesserung des nationalen Stromnetzes vorgelegt. Die aber erfordern erhebliche finanzielle Investitionen - dafür fehlt bisher das Geld.

Das freilich liegt durchaus auch an den Irakern selbst, denn nur wenige Konsumenten zahlen ihre Stromrechnung. Der Grund: Die Stromzähler, die Teil eines veralteten Systems sind, das verbessert werden soll, funktionieren nicht verlässlich, werden ignoriert oder sind schlicht nicht installiert. Das kostenlose Anzapfen des Stromnetzes ist vielerorts gängige Praxis.

Viele Iraker fragen zudem, warum sie überhaupt für Strom bezahlen sollen, wenn der Service so schlecht sei. Nicht wenige bevorzugen es deshalb, stattdessen lokale Generatorenbetreiber zu bezahlen. Eine Studie über den Energiesektor vom Oktober 2020 legt den Schluss nahe, dass bis zu 20 Prozent des Stroms von privaten Stromerzeugern geliefert werden, für deren Dienste ihre Kunden im Jahr 2018 rund vier Milliarden Dollar ausgaben - ein riesiges, teils sehr undurchsichtiges Geschäft, in dem auch einige Politiker und Milizenführer mitmischen.

Hinzu kam vor einigen Monaten der Rückgang der weltweiten Ölpreise. Für den irakischen Staatshaushalt bedeutet das weniger Geld, das dringend nötig gewesen wäre, um die anfallenden Investitionen zu tätigen.

Protest gegen ineffiziente Energieversorgung: Szene aus Basra, Juli 2020Bild: Hussein Faleh/Getty Images/AFP

Entstanden ist so ein Teufelskreis: Zum einen ist da eine Öffentlichkeit, die dem Staat nichts für notwendige Verbesserungen im Energiesektor zahlen will, aber von ihm durchaus mehr und verlässlicher Strom geliefert haben möchte; zum anderen lokale Geschäftsleute, die Verbesserungen gar nicht wollen, weil diese den lukrativen Geschäften der "Generatoren-Mafia" schaden würden - und schließlich eine Regierung, die sich finanziell selbst dann kaum Reformen im Energiesektor leisten könnte, wenn sie es politisch wirklich wollte.

Internationale Verstrickungen

"Der irakische Staat befinde sich in einem Dilemma, sagt Maryam Salman von der in Dubai ansässigen Beratungsfirma Qamar Energy der DW. "Er kann den politischen Lobbyismus, die hinterhältigen Taktiken, das Missmanagement und die finanzielle Verschwendung im Energiesektor nicht überwinden, ohne einen robusten regulatorischen Rahmen zu implementieren, der Reformen vorantreibt." Diese aber könne er nicht umsetzen, ohne vorher erfolgreich Korruption bekämpft zu haben.

Als genüge dies alles noch nicht, gesellen sich zu den lokalen Missständen noch einige Herausforderungen auf internationaler Ebene. So hat der Irak Verträge unterzeichnet, um Strom aus Ländern wie Jordanien, Kuwait und neuerdings auch Saudi-Arabien und Ägypten zu importieren. Zugleich nimmt er dem benachbarten Iran große Mengen Gas und Strom ab - was wiederum ein anderer bedeutender Verbündeter, die USA, zu verhindern versucht.

Die jüngsten Stromausfälle im Irak hingen zum Teil mit diesen Verträgen zusammen. So forderte der Iran offenbar eine schnellere Bezahlung für die geleisteten Stromlieferungen, bevor er diese drosselte. Der Irak seinerseits hat jedoch auch aufgrund der US-Sanktionen gegen den Iran Schwierigkeiten, solche Zahlungen zu leisten.

Energie aus eigener Hand: ein Dieselgenerator in einem Geschäft in Bagdad (Archivbild von 2014)Bild: Ali Al-Saadi/Getty Images/AFP

Komplexes Puzzle

Mit Siemens hat auch eine deutsches Unternehmen bereits Erfahrungen mit den Komplexitäten des irakischen Energiemarktes gemacht. So hatte die frühere US-Regierung unter Donald Trump versucht, einen Deal zwischen Siemens und der irakischen Regierung zugunsten eines amerikanischen Konkurrenzunternehmens platzen zu lassen.

All dies zeigt, wie komplex das irakische Strompuzzle ist - und wie schwer es werden dürfte, dieses zu lösen.

Wie wichtig dies jedoch auch für die politische Stabilität des Landes wäre, zeigt sich gerade im Sommer, wenn das Leben der Bevölkerung durch die unerträgliche Hitze bestenfalls unangenehm und schlimmstenfalls sogar gefährlich wird.

"Dies ist eine schlimme Situation für den Irak", urteilt Energie-Expertin Salman. "Ein Versagen des Stromsektors wird nicht nur zu mehr politischer Korruption führen - zu den Risiken gehören auch die Rückkehr militanter Gewalt, eine Verschärfung der COVID-19-Krise und der Bankrott der irakischen Staatskasse."

 

Der vorliegende Artikel wurde von Kersten Knipp aus dem Englischen adaptiert.

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