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Teure Energie gefährdet Industriestandort

Brigitte Scholtes
1. November 2022

In den vergangenen Monaten sind viele gewohnte Grundlagen des Wirtschaftsmodells Deutschland in Frage gestellt worden. Wie geht es weiter mit dem Industriestandort Deutschland?

Neue Acetylen-Anlage am Standort Ludwigshafen
Neue Acetylen-Anlage im BASF-Stammwerk LudwigshafenBild: Xaver Lockau/BASF

Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz in diesen Tagen nach China reist, dann wird er begleitet von einigen Managern vor allem großer Industrieunternehmen. Die Chefs von BMW und VW sind genauso dabei wie etwa die der großen Chemiefirmen Bayer, BASF und Merck. Sie alle haben ein großes Interesse, in China weiter zu produzieren. "Wir haben ja ein sehr, sehr profitables Chinageschäft, die Hälfte des Marktes ist dort", sagte in den vergangenen Tagen etwa BASF-Chef Martin Brudermüller, um dann die Frage zu stellen: "Was ist eigentlich das Risiko eines Unternehmens, wenn es auf die Hälfte des Marktes verzichtet?"

Unverzichtbares Chinageschäft 

China bleibt also für viele Unternehmen unverzichtbar. Und dennoch sind seit dem Parteitag der Kommunistischen Partei vor wenigen Tagen Zweifel aufgekommen, ob die bisherige Zusammenarbeit noch Zukunft hat. Bisher galt ja für viele deutsche Unternehmen, die billige Energie für den Industriestandort Deutschland vor allem aus Russland zu beziehen, die günstigen Vorprodukte und Rohstoffe aber zum großen Teil aus China, um dann am Standort Deutschland hochwertige Produkte herzustellen und entsprechend teuer zu exportieren.

Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine kann das nicht mehr gelten. Entsprechend schnell versucht man umzusteuern, den Gasbedarf über den zügigen Aufbau von Flüssiggas-Terminals auszugleichen und den Ausbau der Erneuerbaren Energien schneller als bisher voranzutreiben. Und viele, besonders energieintensive Unternehmen drosseln die Produktion oder legen Geschäftsfelder teilweise still, um zumindest kurzfristig mit den steigenden Energiepreisen zurechtzukommen. "Der Industriestandort Deutschland gerät immer mehr unter Druck", sagt Jupp Zenzen, Konjunkturexperte des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). Das zeigt sich kurzfristig auch an sinkenden Auftragseingängen.

Rückläufiger Trend 

Langfristig zeigt sich der rückläufige Trend schon seit Jahren: Trug 2016 die Industrieproduktion noch 22,8 Prozent zur Bruttowertschöpfung in Deutschland bei, waren es im vergangenen Jahr noch 20,8 Prozent. Und dieser Trend dürfte sich fortsetzen, fürchtet Eric Heymann, Ökonom der Deutsche Bank Research: "Wenn wir in zehn Jahren auf die aktuelle Energiekrise zurückblicken werden, können wir diese Zeit als Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland betrachten." 

Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Dekabank, sieht das ähnlich: "Die energieintensiven Unternehmen, die jetzt ihre Produktion zum Teil heruntergefahren haben, werden diese nicht mehr so hochfahren wie vor der Krise." Denn produzieren könne man in anderen Teilen der Welt günstiger. Dabei gehe es nicht darum, dies kurzfristig umzubauen. Aber wenn es künftig um Investitionsentscheidungen gehe, dann dürften die wohl häufiger als bisher zugunsten anderer Standorte, etwa Nordamerika, ausfallen. Ein wesentlicher Grund: die günstigere Energie.

Hinzu kommt, dass gerade in der Coronakrise die Lieferketten gestört waren. Daraufhin haben zwar viele Firmen beschlossen, wieder mehr Produktion nach Deutschland zu holen. Umgekehrt gilt das aber auch: Die Unternehmen werden lokaler produzieren, die vielen weltweit produzierenden deutschen Firmen also auch mehr Produktion ins Ausland verlagern.

In Zukunft unrentabel? Stahlproduktion bei ThyssenKrupp in Duisburg Bild: Rupert Oberhäuser/picture alliance

Und auch China werde sich weiter abschotten und nicht mehr so viele Produkte importieren wollen, warnt Kater: "Die Industriearbeitsplätze in Deutschland kommen damit unter Druck." Denn viele weniger qualifizierte Jobs würden künftig durch noch mehr Automatisierung verloren gehen. Das alles aber dürfte in längeren Zeiträumen von vier, fünf Jahren geschehen.

Die aktuellen Herausforderungen durch China und die Energiekrise aber haben auch andere Defizite am Standort Deutschland deutlich gemacht: "Wir beobachten seit Jahren eine Erosion der Standortqualität", sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Die wurde in den vergangenen Jahren durch das gute China-Geschäft etwas überdeckt, aber jetzt werde sie brutal offengelegt. Krämer verweist vor allem auf die zahlreichen Mängel der Infrastruktur und darauf, dass deren Beseitigung viel zu lange dauere.

So marode, dass nur noch sprengen hilft: Talbrücke Rinsdorf an der A 45Bild: Rene Traut/dpa/picture alliance

Bremsklotz Infrastrukturausbau  

So hatte die Ampelkoalition zwar in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, im ersten Jahr ihrer Regierungszeit "für Tempo beim Infrastrukturausbau" zu sorgen. Doch ein entsprechendes Gesetzespaket von Verkehrsminister Volker Wissing steckt wegen Widerstands der Grünen in der Ressortabstimmung fest. Dabei könne der zügige Ausbau der LNG-Terminals Vorbild sein für schnellere, unbürokratischere Genehmigungsverfahren: "Die Deindustrialisierung ist nicht nur ein Horrorszenario der Wirtschaftsverbände", mahnt der Commerzbank-Chefvolkswirt. Wenn diese Probleme nicht angegangen werden, würden die großen Unternehmen künftig am Standort Deutschland weniger Produktion und Arbeitsplätze anbieten. Den kleineren Firmen aber bleibt dieser Ausweg nicht: "Für den deutschen Mittelstand, insbesondere in den energieintensiven Branchen, wird die Anpassung an eine neue Energiewelt eine größere Herausforderung, an der manche Unternehmen scheitern werden", ist Eric Heymann von der Deutsche Bank Research überzeugt.

 

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