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Politik

Thüringens neue Strategie: Augen auf und durch

26. Mai 2020

Deutschland steht im Kampf gegen das Coronavirus vergleichsweise gut da - obwohl jedes der 16 Bundesländer seinen eigenen Kurs fährt. Manche Alleingänge sorgen allerdings für Ärger - nicht nur bei Kanzlerin Merkel.

Deutschland | Ministerpräsidentenkonferenz trifft Bundesregierung
Angela Merkel (l.) findet die Corona-Strategie des Thüringer Regierungschefs Bodo Ramelow (M.) überhaupt nicht witzigBild: picture-alliance/dpa/B.v. Jutrczenka

Wie schafft das Deutschland nur? Diese Frage stellt sich wohl die halbe Welt, vielleicht sogar die ganze - beim täglichen Blick auf Corona-Statistiken. Die Zahl der neuen Infektionen sinkt, die der Genesenen steigt. Und mit 8302 Toten (Stand: 26.05.2020) ist vor allem die erschreckendste aller Zahlen im internationalen Vergleich beeindruckend niedrig. Umgerechnet auf die Bevölkerung sind das zehn pro 100.000 Einwohner. Wesentlich dramatischer ist die Lage in Spanien (61), Italien (54) und Frankreich (42) oder auf der anderen Seite des Atlantiks in den USA (29).

Doch wie lässt sich der vergleichsweise glimpfliche Verlauf in Deutschland erklären? Von außen betrachtet ist die Antwort oft kurz und knapp - sie lautet: Angela Merkel. Wieder einmal wird die deutsche Bundeskanzlerin für ihr Krisenmanagement gelobt- auch im eigenen Land. Und doch ist es natürlich nicht allein die seit 2005 regierende Christdemokratin mit ihrem sogenannten Corona-Kabinett, die den Kurs vorgibt. Der Grund: Die föderal organisierte Bundesrepublik besteht aus 16 Ländern. Und die wollen alle mitreden, wenn es um die Eindämmung des Coronavirus' geht.

Und das tun sie immer mehr. Anfangs war die Frage, welches Bundesland am schnellsten und massivsten Ausgangsbeschränkungen verhängt. Doch seit Anfang Mai geht es in die andere Richtung: "Lockerungen" heißt das Zauberwort. Dabei steckt der Teufel mal wieder im Detail: Wann und wo dürfen Kinder zurück in die Kita oder zur Schule? Was ist mit Restaurants, Schwimmbädern, Fitnessstudios, Kinos und Theatern? Nicht zu vergessen: die Bundesliga. Sie spielt inzwischen wieder und zumindest der fußballbegeisterte Teil der Welt schaut fasziniert zu.

Am 6. Juni soll Corona noch lockerer gesehen werden

Wahrscheinlich würde sich außerhalb Deutschlands deshalb kaum jemand über diese Schlagzeile wundern: "Angela Merkel erklärt Corona-Lockdown für beendet!" Einen kleinen Vorgeschmack darauf lieferte am Wochenende einer, der wie die Kanzlerin als eher nachdenklicher Vertreter seines Faches gilt: Bodo Ramelow, Ministerpräsident des Bundeslandes Thüringen. Der Linken-Politiker möchte "jetzt weitere Schritte gehen, um den allgemeinen Lockdown zu beenden". Als konkretes Datum schwebt ihm der 6. Juni vor.

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Ramelows Vorstoß löste deutschlandweit eine hitzige Diskussion aus und zeigt, dass der anfangs gepflegte Konsens endgültig passé ist. Skeptiker sehen die mühsam erreichten Fortschritte in Gefahr und verweisen auf die jüngsten Meldungen über massive Corona-Ausbrüche in Hessen und Niedersachsen. Beide Länder grenzen an Thüringen und haben eine ähnliche Todesrate. Doch was sagt das schon aus über die Dynamik eines Virus, über das auch Experten mitunter sehr unterschiedliche Ansichten haben? Zumal südlich von Thüringen mit Bayern das Bundesland mit der höchsten Todesrate liegt und nördlich mit Sachsen-Anhalt das mit der zweitniedrigsten?

Mit Geboten statt Verboten gegen Covid-19

Bodo Ramelow kennt alle diese Zahlen, Bedenken und Sorgen. Und gemessen an seinen Worten scheint er sie auch ernst zu nehmen. Die Situation sei nach wie vor "fragil". Aber er wolle von "Ver- zu Geboten, von staatlichem Zwang hin zu selbstverantwortetem Maßhalten". Und er könne nicht versprechen, "dass es nicht wieder zu einem Infektionsgeschehen kommen kann, das Einschränkungen notwendig macht".

Deutschlands bekanntester Virologe, Christian Drosten von der Berliner Charité, hält Ramelows Appell an die Eigenverantwortlichkeit der Menschen jedoch für riskant und verweist auf die Entwicklung in Schweden. "Wir sehen in diesen Tagen und werden es in den nächsten Monaten noch stärker sehen, dass dort eine sehr hohe Übersterblichkeit entstanden ist", sagte der Wissenschaftler im "Deutschlandfunk". Die aktuelle Todesrate ist mit 39 pro 100.000 Einwohner eine der höchsten in Europa. Die naheliegende Erklärung: In dem skandinavischen Land waren und sind die Corona-Einschränkungen sehr moderat.

Und was passiert, wenn Thüringen zum deutschen Schweden wird?

Im Ausland wird man den deutschen Weg angesichts seiner relativen Erfolge weiterhin sehr genau beobachten. Sollte Thüringen zum deutschen Schweden werden, wäre es womöglich vorbei mit der Vorbildfunktion. Wobei nicht übersehen werden sollte, dass es sich um ein dünn besiedeltes Flächenland mit gerade einmal 2,1 Millionen Einwohnern handelt. In der gesamten Bundesrepublik leben 83 Millionen Menschen.

Dass der in der Corona-Krise bislang so besonnen und zurückhaltend agierende Bodo Ramelow zumindest rhetorisch über das Ziel hinausgeschossen sein könnte, dämmert ihm inzwischen selbst. "Ich habe nicht gesagt, dass die Menschen sich umarmen sollen oder den Mund-Nasen-Schutz abnehmen und sich küssen sollen", sagte der Thüringer Regierungschef dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR). Bewährte Regelungen wie das Abstandhalten sollten nicht aufhören. Klingt fast schon wieder so, als sollte alles beim Alten bleiben.

Der Bundestagspräsident lobt den deutschen Föderalismus 

Zumindest im benachbarten Sachsen ist aber auch schon davon die Rede, allgemeine Corona-Einschränkungen bald beenden zu wollen. So ist das eben in einem Land, das nicht zentral regiert wird. Der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble, findet das gut. "Wenn man weiter vorsichtig ist und notfalls auch diese Lockerungsmaßnahmen wieder zurücknimmt, dann ist das Risiko nicht unvertretbar", sagte der Christdemokrat der Nachrichtenagentur AFP.

Föderalismus-Freund: Wolfgang SchäubleBild: imago images/C. Hardt

Ramelow gehe aber "ein hohes Risiko ein". Zugleich sei es "eine Stärke unseres föderalen Systems, dass man regional unterschiedliche Situationen regional unterschiedlich reagieren" könne, betonte der frühere deutsche Finanzminister. Und was meint Angela Merkel? Dass es auch nach dem Auslaufen der bisherigen Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern in der kommenden Woche "verbindliche Anordnungen" geben solle und nicht nur Empfehlungen. Das teilte ihr Sprecher Steffen Seibert mit. Es gehe darum, die Fortschritte nicht zu gefährden. 

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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