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"The Berlin Apartment": ein Game über den Wert der Freiheit

26. November 2025

Das Computerspiel "The Berlin Apartment" erzählt vom Alltag gewöhnlicher Menschen in ungewöhnlichen Zeiten. Gamer erleben deutsche Geschichte dabei hautnah: vom Zweiten Weltkrieg über die DDR bis zur Corona-Pandemie.

Screenshot aus dem Spiels "The Berlin Apartment" zeigt einen jungen Mann in einer düsteren mit Blumen voll gestellten Berliner Altbauwohnung in Rückenansicht an einem Fenster stehend.
Ostberlin 1989: Kolja blickt durch das Fenster seines WG-Zimmers in den Westen.Bild: Blue Backpack Games

Corona-Lockdown 2020 in Deutschland. Kaum Menschen auf den Straßen, die Cafés sind geschlossen, Testzentren eröffnen an jeder Ecke. Hier startet die Geschichte von "The Berlin Apartment". Weil die Kinder nicht zur Schule gehen dürfen, begleitet die Zweitklässlerin Dilara ihren Vater Malik zur Arbeit. Der Handwerker hat den Auftrag, eine Berliner Altbauwohnung zu renovieren. Sie reißen Tapeten ab und schlagen Fliesen von den Wänden. Dabei stoßen sie auf Spuren früherer Bewohnerinnen und Bewohner. Nach und nach schlüpfen die Spielenden in deren Fußstapfen und begeben sich auf eine rund vierstündige Zeitreise durch rund 100 Jahre deutsche Geschichte.

Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Corona-Pandemie

Die einzelnen Geschichten spielen in den Jahren 1933, 1945, 1967, 1989 und 2020. Sie handeln unter anderem von der Verfolgung der Juden im Zweiten Weltkrieg, vom Überleben in der Nachkriegszeit und der Unterdrückung in der DDR. Über fast allen Episoden liegt eine gewisse Schwere.   

Weihnachten 1945: Mathilda wundert sich, warum der "Mann mit der komischen Stimme" nicht mehr im Radio zu hören ist - sie meint HitlerBild: Blue Backpack Games

Besonders bedrückend ist die Geschichte von Mathilda. Das junge Mädchen vermisst seinen Vater, einen hochdekorierten Soldaten, der nicht aus dem Krieg zurückgekehrt ist - dem Krieg, den Nazi-Deutschland angezettelt hat. An Weihnachten schmückt sie das Zimmer, in dem sie gemeinsam mit ihrem Bruder und ihrer Mutter lebt, mit dem wenigen, was da ist: mit Strohsternen, Orden, Patronenhülsen, die sie im Schutt gefunden hat. Beim kargen Weihnachtsessen im Winter 1945 fragt sie: "Mutter, sind wir die Bösen?"

Die Wohnung der Familie gehörte bis 1933 dem jüdischen Kinobetreiber Josef, dessen Lichtspielhaus die Nazis niedergebrannt hatten. Die Spielenden treten auch in seine Fußstapfen und packen seinen Koffer für die Flucht nach Paris.

Berlin 1933: Ein jüdischer Kinobetreiber muss sich von seinen Schätzen trennen. Er kann nur das Nötigste mitnehmen: ein warme Jacke, seinen Pass, seine Glücksschuhe, eine Taschenuhr, einen Rasierer und sein Tagebuch Bild: Blue Backpack Games

Eine tickende Uhr, lautes Schreien im Hausflur und aggressives Klopfen an den Türen des Hauses steigern die Anspannung enorm. Gleichzeitig ist Josefs letzter Gang durch seine Wohnung eine Erinnerungsreise durch sein Leben und ein Loblied auf das Kino und die Kunst.

Fiktive Geschichten vor historischem Hintergrund

Die Geschichten der Bewohnerinnen und Bewohner sind fiktiv. "Die haben wir uns ausgedacht, damit sie unterhaltungswert haben, aber die finden immer vor einem historischen Hintergrund statt", sagt Florian Köhne, Geschäftsführer des unabhängigen Berliner Spielestudios Blue Backpack, der unter anderem für das Konzept und Design des Spiels zuständig ist. "Wir versuchen, dass die Geschichte so transportiert wird, dass man nicht all zu viele Kenntnisse braucht", so Köhne.

Wer sich auf das Spiel einlässt und die Wohnung akribisch durchstöbert, wird viele Hinweise finden, die sich nach und nach zu einem Gesamtbild zusammensetzen lassen.

Diese Berliner Altbauwohnung war vielen unterschiedlichen Menschen ein Zuhause. Handwerker Malik erzählt seiner Tochter von ihnen Bild: Blue Backpack Games

Die Spielenden bekommen einen Eindruck davon, wie es ist, als gewöhnlicher Mensch in außergewöhnlichen Zeiten zu leben. In der Rolle der Apartment-Bewohnerinnen und -Bewohner (Ego-Perspektive) erleben sie recht eindrücklich, wie sehr politische Systeme das persönliche Leben und Fortkommen einschränken - und lernen das Privileg zu schätzen, in Frieden und Freiheit zu leben.

"The Berlin Apartment": Einzelschicksale statt Heldenreisen

Erzählt werden keine Heldengeschichten. Niemand hat Superkräfte, Waffen oder übersinnliche Fähigkeiten. Alle versuchen einfach, irgendwie klarzukommen. Viele verzweifeln am System - so wie die DDR-Schriftstellerin, die einen Weltraum-Roman mit einer starken Protagonistin schreiben will, aber ihren Text wieder und wieder umschreiben muss, weil er dem DDR-Regime nicht gefällt. Trotzdem setzt sie sich immer wieder an ihre Schreibmaschine, raucht, tippt, kommt widerwillig den Wünschen der Obrigkeit nach, damit sie überhaupt publizieren darf.

Ostberlin 1967: Eine Schriftstellerin will einfach nur einen Roman schreiben - doch das wird ihr schwergemachtBild: Blue Backpack Games

Das Spiel verzichtet dabei bewusst auf Wertungen. Wer ist gut, wer ist schlecht, wer ist Mitläufer, wer stützt das politische System? Darum geht es gar nicht. Sondern um das Leben in unterschiedlichen politischen Systemen. Darum, wie sehr sie die Menschen in ihrer Freiheit einschränken und welche Schlüsse sie daraus ziehen: Fliehen sie, ergeben sie sich ihrem Schicksal, versuchen sie einfach, das Beste daraus zu machen?

Brüche und Kontinuitäten

Die Idee zum Spiel kam Game und Art Director Hans Böhme, als er eines Tages am Fenster seiner Berliner Altbauwohnung stand und sich fragte, wie viele Menschen wohl eigentlich schon vor ihm an genau dieser Stelle gestanden und aus dem Fenster geguckt haben mögen. Und es ist schon erstaunlich, wie sehr sich im Spiel der Blick aus dem Fenster auf die Straßenkreuzung im Laufe der Jahrzehnte verändert. Wo 1933 noch Straßenbahnen unter Hakenkreuzbannern entlangfahren, befindet sich nach dem Krieg der so genannten Todesstreifen, der von Mauern und Grenzzäunen eingefasst wird und Ostberlin von Westberlin trennt.

Ebenso wenig wie die Bewohnerinnen und Bewohner existierten die Wohnung oder die Straßenkreuzung in der Realität. Sie sind zusammengesetzt aus realen Vorbildern. Inspiration holten sich die Entwicklerinnen und Entwickler in zahlreichen Berliner Altbauwohnungen und Museen und einer alten Bäckerei, die sich seit den 1950er-Jahren nicht verändert hat.

Straßenszene 1989: Zwei Mauern und ein Grenzzaun trennen Ostberlin von WestberlinBild: Blue Backpack Games

Spielerische Vorbilder sind narrative Games wie "What Remains of Edith Finch" (2017) oder "Firewatch" (2016). Im ersten erkunden Spielerinnen und Spieler als letztens lebendes Mitglied der Familie Finch das leerstehende Haus der US-amerikanischen Familie und tauchen dabei immer tiefer in die spannende Familiengeschichte ein. In "Firewatch" übernehmen Spielerinnen und Spieler die Rolle eines Brandwächters, der die Wildnis überwacht und bei seinen Kontrollgängen mysteriöse Entdeckungen macht. Auch hier entfaltet sich nach und nach eine emotionale Erzählung.

"The Berlin Apartment" reiht sich ein in die Spiele, die einst eher abwertend als "Walking-Simulator" bezeichnet wurden, weil die Spielerinnen und Spieler eben "nur" durch eine Spielwelt laufen, in der sie Gegenstände finden und sammeln müssen und ansonsten wenig zu tun haben. Solche Spiele sind in der Regel spielerisch wenig herausfordernd - haben aber ihren Reiz, da sie auf erzählerischer Ebene punkten. 

Wie hätte ich gehandelt?

Gerade weil die Personen in "The Berlin Apartment" ganz gewöhnliche Menschen sind, können sich Spielende leicht in sie hineinversetzen und sich fragen: Wie hätte ich gehandelt? Auf welcher Seite hätte ich gestanden? Hätte ich mich dem politischen System untergeordnet oder wäre ich ausgebrochen - auch auf die Gefahr hin, meine Existenz zu verlieren, verhaftet oder getötet zu werden?

All das sind Fragen, die noch immer hochaktuell sind. Vielleicht nicht unbedingt in Deutschland, aber in autoritär geführten Staaten und Konfliktregionen dieser Welt, in denen nicht alle Menschen in Freiheit leben dürfen.

"The Berlin Apartment" ist auf Deutsch und Englisch vertont und bietet Untertitel in zahlreichen Sprachen an, darunter Französisch, Italienisch, Spanisch, brasilianisches Portugiesisch, Türkisch, Ukrainisch, Polnisch, Koreanisch, Russisch, Japanisch, Chinesisch und Thai.

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