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Literatur

"The Poetry Project": Gedichte von Flucht und Ankommen

Sabine Peschel
17. September 2020

In ihren Versen haben junge Flüchtlinge eine Stimme gefunden. Inzwischen sind die Dichter bundesweit vernetzt und mit ihren Themen in der Gegenwart angekommen.

Acht junge Poeten auf der Bühne des Internationalen Literaturfestivals Berlin
Die jungen Poeten auf der Bühne des Internationalen Literaturfestivals BerlinBild: Rottkay

"Manchmal lache ich zum falschen Zeitpunkt." Merkwürdigerweise ist es dieser harmlose Satz in einem Gedicht von Yasser Niksada, der beim Zuhören unter all den viel schlimmeren Sätzen am tiefsten trifft. Yasser, der als 13-Jähriger von seiner Familie auf die Reise nach Europa geschickt wurde, ist nun bald volljährig. Er lächelt nervös da oben auf der Bühne des Internationalen Literaturfestivals im Kulturzentrum "Silent Green", als er sein Gedicht vorträgt, das mit den Worten beginnt: "Sei gegrüßt, Mutter". Er liest auf Deutsch, seine Stimme bricht. "Als ich den Iran verließ, habe ich versprochen zu lernen. Und ich lerne."

Yasser stammt aus Afghanistan, doch seine eigentliche Heimat ist Teheran, wohin seine  Eltern vor den Attacken der Taliban geflohen sind. Er ist Teil des "Poetry Projects", schon seit 2015 gehört er zur Berliner Keimzelle des Projekts, das versucht, Jugendlichen durch ihre Lyrik eine Stimme zu geben. Damals gingen Susanne Koelbl, Nah- und Mittelost-kundige Autorin und "Spiegel"-Journalistin, der Anwalt und Übersetzer Aarash Spanta und ein UN-Offizier in Berliner Notunterkünfte und baten junge, unbegleitete Flüchtlinge darum, ihre Gedanken und Erlebnisse aufzuschreiben.

Yasser Niksada beim Internationalen Literaturfestival 2020Bild: Rottkay

Ein Netzwerk der Poesie

In ihren Gedichten konnten die Jugendlichen davon erzählen, was sie auf die Flucht getrieben hatte, welchen Gefahren sie ausgesetzt waren. Sie konnten ihrer übermächtigen Sehnsucht nach den Eltern und Geschwistern Ausdruck geben, von der Erfahrung der Einsamkeit und Fremdheit im neuen Land sprechen. Als die jungen Flüchtlinge 2016 ihre Gedichte zum ersten Mal beim Internationalen Literaturfestival (ILB) auf großer Bühne vortrugen, traf ihre Poesie und die Art, wie sie ihre Texte vorlasen, die ZuhörerInnen mitten ins Herz. Seitdem erhielt das Lyrik-Projekt viel Aufmerksamkeit und Unterstützung.

Inzwischen ist die Initiative bundesweit verzweigt. Mehr als 700 Jugendliche haben das Erlebte und ihre Gefühle im Rahmen des "Poetry Projects" in Gedichte gegossen. Vor Corona trugen sie ihre Verse auf Literaturfestivals, in Stadttheatern und Schulen vor, die jungen DichterInnen waren fast monatlich auf Reisen. Ein Netzwerk bildete sich, Freundschaften entstanden, Kontakte blieben erhalten. 2018 erhielt das Projekt den Else Lasker-Schüler-Lyrikpreis, mit dem auch der Übersetzer Aarash Spanta, der selbst als Sechsjähriger mit seinen Eltern aus Afghanistan nach Deutschland floh, geehrt wurde.

Kalte neue Heimat

2020 stehen sieben der Lyriker, die schon seit den Anfängen der Initiative dabei sind, erneut auf der Bühne des ILB. Zwei junge Frauen sind dazu gekommen. Werden ihre Gedichte jetzt davon erzählen, was sie in Deutschland erlebt haben? Yasser Niksada, der inzwischen in einer Wohngemeinschaft in Berlin-Neukölln lebt, macht deutlich, dass er die politischen Entwicklungen in seinem neuen Land genau verfolgt. Als bei der Landtagswahl im Oktober 2019 die AfD in Thüringen zur zweitstärksten Kraft wird, schreibt er einen lyrischen "Brief an den AfD-Wähler":

"Im Vergleich zu meinen Schmerzen bist Du klein. / Du sagst zu mir, ich nehm dir alles weg. / ... / Aber wisse, dass auch du möglicherweise eines Tages alles verlieren kannst. / Der Schmutz des Weges meiner Flucht haftet noch an mir. / Doch vielleicht kann ich eines Tages dein Leben retten. / Vielleicht nicht."

Shahzamir Hataki floh als 15-Jähriger aus Afghanistan und kam 2016 in Deutschland an. 2018 wurde er mit dem Else Lasker-Schüler-Lyrikpreis und 2019 mit dem Theo (Berlin-Brandenburgischer Preis für Junge Literatur) ausgezeichnet.Bild: Rottkay

Zwischen Tradition und Freiheit

Die meisten der Gedichte, die an diesem denkwürdigen Abend - es ist der 11. September, zwei Tage zuvor ist auf der griechischen Insel Lesbos Europas größtes Flüchtlingslager Moria abgebrannt - vorgetragen werden, handeln noch immer von Verlust und Einsamkeit. Die Narben, die die grausamen Erlebnisse auf der Flucht hinterlassen haben, werden für ein Leben bleiben. Unsicherheit und die Angst vor Abschiebung haben bei einigen eine zweite Traumatisierung bewirkt. Aber es mischen sich auch ganz neue Töne in das lyrische Konzert. Sie kommen vor allem von den jungen Frauen, die sich selbstbewusst ihrer Identität vergewissern.

Robina Karimi, die in Afghanistan von Islamisten bedroht wurde und jetzt gemeinsam mit ihrer älteren Schwester in einer Wohngemeinschaft in Berlin lebt, beschreibt in ihren Gedichten den Zwiespalt, sich alten Tradition zu beugen und neue Freiheiten zu ergreifen: "Was unterscheidet eine Afghanin von einer deutschen Frau? ... Ich bin ein Mensch. Ich atme, ich will leben, ich will frei sein und fliegen und das Leben, das Gott mir geschenkt hat, genießen."

Der Traum von einer guten Zukunft

Freiheit, die hat sich Rojin Namer schon erobert. Die kurdische Syrerin kam aus dem Irak, wohin die Familie 2013 geflüchtet war, vor fünf Jahren im Alter von zwölf allein nach Deutschland. Es ist beeindruckend, sie auf der Bühne zu erleben. Sie klingt, als wäre sie in Berlin-Charlottenburg zur Welt gekommen. In makellosem Deutsch deklamiert sie ihr Gedicht "Damaskus".

"Wovon ich jeden Tag träume. / Wo ich meine Wurzeln habe. / Das ist Damaskus. / wo ich den Schuldigen frage, wer schuld ist daran. / Wo keine Medizin das Blut stoppt. / Das ist Damaskus."

Sollte Angela Merkel einmal einen Beweis für ihre Losung "Wir schaffen das" brauchen, Rojin Namer mit ihrem Lachen und ihrer Lebenslust wäre ein gutes Beispiel. Auf Englisch spricht sie poetisch über die Zukunft und den Wunsch, etwas aus ihrem Leben zu machen. "Where do I see myself in ten years?" Ihre Träume unterscheiden sich in nichts von denen vieler anderer Jugendlicher. "Get a job. Finish my education. Play guitar. Save money. Spend money. Try out everything. Go swimming at night..."

Rojin Namer spricht ausgezeichnet Deutsch und Englisch. Sie möchte in London studieren.Bild: Rottkay

"Dialog mit Deutschen von morgen"

Nicht allen ist das Ankommen in Deutschland geglückt. Wie schwierig es ist, davon zeugen die Gedichte, die in dem schön gestalteten Band "Ich wollte bleiben. Ich ging." zusammengestellt sind. Flucht, Heimat, Gewalt sind die Themen, aber auch die Liebe und "Die Deutschen". "Einen lyrischen Dialog mit Deutschen von morgen" nennt Susanne Koelbl das literarische Angebot. Den Titel verdankt das Buch einem überaus begabten, jungen afghanischen Lyriker, der an diesem Abend nicht anwesend sein kann. Er gehört zu denen, die die Sache mit dem Ankommen vielleicht nicht schaffen werden. Er kämpft mit seiner Drogensucht.

Yasser Niksada dagegen wird demnächst seinen Schulabschluss machen und mit etwas Glück eine Lehre als KfZ-Mechaniker beginnen. Dafür und für seine Eltern lernt er. Er blickt zu Boden, als er das erzählt. Seine Schultern sind gebeugt.

The Poetry Project und die Autoren: "Ich wollte bleiben. Ich ging. Einen lyrischer Dialog mit Deutschen von morgen", Berlin 2019, 256 Seiten

Der Text der Publikation und weitere Informationen sind in vier Sprachen (Deutsch, Englisch, Farsi, Arabisch) auf der Website des Projekts verfügbar: https://thepoetryproject.de

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