Hengelbrock gewinnt den Karajan-Musikpreis
29. Januar 2016"Kaum ein anderer Dirigent stellt öffentlich so deutlich wie Thomas Hengelbrock die Frage: 'Was ist meine Aufgabe als Musiker heute?'", lobte die Kulturstiftung Festspielhaus Baden-Baden, die seit 2003 alljährlich den Herbert von Karajan Musikpreis verleiht. In Anerkennung von Hengelbrocks Engagement für die musikalische Nachwuchsförderung heißt es in der Erklärung des Stiftungskuratoriums weiter: "Er erweitert damit den Begriff der Musikvermittlung für kommende Generationen entscheidend."
Hengelbrock ist seit 2011 Chefdirigent des NDR-Sinfonieorchesters Hamburg und gründete 1995 das Freiburger Balthasar-Neumann-Ensemble. In Zusammenarbeit mit beiden Klangkörpern rief er Musikakademien ins Leben. Die Arbeit mit jungen Musikern dort beschrieb er in einem Interview mit dem NDR als ganzheitlich: "Sie kommen mit alter und neuer Musik in Berührung, Streicher haben Unterricht auch bei Sängern und Pianisten. Und wir diskutieren mit ihnen: Was ist meine Aufgabe als Musiker heutzutage? Wo will ich hin?"
Das Preisgeld von 50.000 Euro ist zweckgebunden an die Förderung junger Musiker. Folgerichtig erklärte Hengelbrock, der Betrag solle vor allem in weitere Stipendien seiner Akademie Balthasar Neumann fließen, so dass "wir die Verbindung zu der nachkommenden Generation suchen und niemals abreißen lassen", sagte der Dirigent auf NDR Kultur.
Der unbequeme Dirigent
Die musikalische Laufbahn von Thomas Hengelbrock, 1958 in Wilhelmshaven geboren, fußt in der historisch-authentischen Aufführungspraxis. Einst spielte er historische Violine im Originalklangensemble Concentus musicus Wien unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt. Durch Assististenztätigkeit bei den Komponisten Antal Doráti, Witold Lutosławski und Mauricio Kagel hatte er jedoch auch zahlreiche frühe Berührungspunkte mit zeitgenössischer Musik.
Der Endfünziger wirkt sympathisch, als Dirigent gilt er jedoch als unbequem. Darauf angesprochen in einem Interview für Die Welt im Jahr 2013, antwortete Hengelbrock entwaffnend: "Hinter all dem, was bequem ist, was nicht lebendig ist, steckt ja nicht gelebtes Leben. Das ist, als wenn in einen lebendigen Garten lauter tote Äste hineinragen. Wir sollten versuchen, so zu spielen, so zu arbeiten und miteinander umzugehen, dass alles blüht."
In dieselbe "unbequeme" Richtung geht die Erklärung der Kulturstiftung des Festspielhauses Baden Baden: "Er prägt das Bild eines im besten Sinne des Wortes modernen Dirigenten, der ein Repertoire von Musik aus über vier Jahrhunderten beherrscht und sich - wie auch die Art, diese Musik zu spielen - immer wieder infrage stellt."
Bayreuth nein, Hamburg ja
Der als Opern- und Konzertdirigent international geschätzte Musiker gastierte bei den Wiener und Münchner Philharmonikern, dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und beim Concertgebouw-Orchester Amsterdam. Er war künstlerischer Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und Musikdirektor an der Wiener Volksoper. Für Aufsehen sorgte er 2013 mit einer konzertanten Aufführung von Richard Wagners Oper "Parsifal" auf historischen Instrumenten. Hengelbrocks Auftritt bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth zwei Jahre zuvor geriet allerdings weniger erfolgreich: Im Orchestergraben des Festspielhauses versuchte er den "historischen" Interpretationsansatz, scheiterte jedoch an den Gepflogenheiten des Hauses und den Gewohnheiten der Musiker. Nach einem Jahr verlängerte er seinen Vertrag nicht: Vom "musikalischen Zwist" war die Rede.
Im Norden Deutschlands wird Thomas Hengelbrock höher geschätzt. Als Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters "beflügelt er Hamburg" - so das Hamburger Abendblatt - und "lockt immer neue Wunder aus dem Orchester hervor". Er ist - in der Nachfolge von Hans Schmidt-Isserstedt, Günter Wand, John Eliot Gardiner, Herbert Blomstedt, Christoph Eschenbach und Christoph von Dohnányi - der siebte Dirigent auf diesem Posten. Ab der Saison 2016-17 wird er zudem "Chef associé" beim Orchestre de Paris.
Musikalisch-literarische Programme - auch in Zusammenarbeit mit seiner Ehefrau, der Schauspielerin Johanna Wokalek - zeugten vom Erfindungsreichtum des Musikers. Immer wieder sind es aber die pädagogischen Tätigkeiten, die einhellige Zustimmung in der Fachwelt erzeugt haben, etwa das "Dvorak-Experiment", in dem ein Werk erklärt, analysiert, erprobt und per Livestream an Schulen bundesweit übertragen wurde.
Vom Aufstand zum Mainstream
Nun kommt der Karajan-Preis, der - wenn er an diesen Musiker geht - für viele fast wie eine Ironie des Schicksals wirken mag. Schließlich war Herbert von Karajan der Inbegriff für alles, gegen das die jungen Wilden - Anhänger der historischen Aufführungspraxis - den Aufstand probten. Thomas Hengelbrock war einer von ihnen. Jetzt sind diese Praxis und die Erkenntnisse daraus Mainstream geworden. Karajan ist out, Hengelbrock und Co. sind Establishment.
Die offizielle Preisverleihung findet im Rahmen eines Galakonzerts im Festspielhaus Baden-Baden am Samstag (30.01.2016) statt. Die Laudatio hält der Schauspieler und Regisseur Klaus Maria Brandauer - mit dem der Geehrte auch zusammengearbeitet hat. Anschließend dirigiert Hengelbrock eine Aufführung von Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium "Elias".
Der Herbert von Karajan Musikpreis wird seit 2003 jährlich von der Kulturstiftung des Festspielhauses Baden Baden verliehen. Zu den ehemaligen Gewinnern zählen die Violinistin Anne-Sophie Mutter, der Pianist und Autor Alfred Brendel, die Sängerin Cecilia Bartoli, der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim sowie die Wiener und Berliner Philharmoniker. Auch der Namensgeber, der deutsche Dirigent Herbert von Karajan, engagierte sich zeitlebens für die Talentförderung.