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LiteraturDeutschland

Thomas Manns "Zauberberg": Die Welt wird unbehaglich

Suzanne Cords | Ulrike Bornhak
22. November 2024

Eine gespaltene Gesellschaft, Existenzängste und das Gespenst des Krieges: Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" ist auch 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung erschreckend aktuell.

Filmstill aus "Der Zauberberg": Ein Mann sitzt im Nebel auf einem Koffer
Die Zukunft des Zauberberg-Helden Hans Castorp ist ungewiss Bild: kpa/United Archives/picture alliance

Die Zimmer sind komfortabel, die Aussicht ist grandios, das Essen deliziös. Eingehüllt in Wolldecken verbringen die gutbetuchten Gäste ihre Tage mit Liegekuren auf den Balkonen. Willkommen im "Berghof", einem abgelegen Luxussanatorium in den Schweizer Alpen, wo Tuberkulose-Kranke sich Heilung von der frischen Luft versprechen. Das ist der Schauplatz, den Thomas Mann für seinen Roman "Der Zauberberg" gewählt hat.

Das Sanatorium Schatzalp mit Blick auf Davos inspirierte Thomas Mann zu seinem RomanBild: akg-images/picture alliance

Die Geschichte beginnt im Jahr 1907. Der Hamburger Kaufmannssohn und angehende Ingenieur Hans Castorp reist zum Berghof, um seinen kranken Cousin zu besuchen. Eigentlich will er nur drei Wochen bleiben, am Ende werden daraus sieben Jahre. Das Kuriose dabei: Hans Castorp selbst ist eigentlich gesund. "Doch er wird von dem Sanatorium-Leben regelrecht aufgesaugt", erklärt der Literaturwissenschaftler Kai Sina gegenüber der DW. "Die Patienten, ihre philosophischen Debatten und ihre Gepflogenheiten, die strengen Gesundheitsroutinen, luxuriöse Mahlzeiten und zwanghaftes Fiebermessen: Er wird ein Teil dieser Welt."

Eine Epoche radikaler Umwälzungen

Das völlig abgeschottete Sanatorium ist ein Mikrokosmos, der die Krise einer sich wandelnden Gesellschaft offenbart. Die Wende zum 20. Jahrhundert ist eine Epoche radikaler Umwälzungen. Die Industrialisierung hat das Leben grundlegend verändert, religiöse Gewissheiten werden zunehmend von der Wissenschaft in Frage gestellt, nationalistische und sozialistische Bewegungen sind gleichermaßen auf dem Vormarsch.

Der Verlust traditioneller Werte und die Orientierungslosigkeit führen zu Spannungen und Aggressionen - auch bei der illustren Runde im Berghof. "Es lag in der Luft", heißt es im Roman. Hans Wißkirchen, Präsident der Thomas-Mann-Gesellschaft, präzisiert dieses Gefühl: "Man spürt eine ungeheure Unbehaglichkeit, eine Angst vor der Zukunft", sagt er der DW. "Das Personal wird beschimpft, man schlägt sich, die verrücktesten Ideen tauchen auf, die Leute drehen im wahrsten Sinne des Wortes ab."

Filmszene aus "Der Zauberberg": Hans Castorp (vorne) verliert im Berghof jedes Zeitgefühl Bild: picture alliance

Die "große Gereiztheit" 

Wäre da nicht die altertümliche Sprache, man könnte meinen, nicht Thomas Mann, sondern ein zeitgenössischer Autor habe dieses Werk verfasst. Denn die "große Gereiztheit, der Kipppunkt", wie Caren Heuer es nennt, sei auch heute überall zu spüren. "Sie brauchen am Sonntagabend nur irgendeine beliebige Talkshow anschalten", so die Direktorin des Buddenbrookhauses in Lübeck (einstiges Wohnhaus der Großeltern Thomas Manns, benannt nach seinem berühmten Roman,  Anm. d. Red.). "Da sehen Sie, dass man sich ins Wort fällt, einander nicht anhört, sondern es geht darum, Meinungen rauszuhauen."

Hans Castorp steht zwischen dem liberalen Humanisten Settembrini (Favio Bucci, l.) und dem Jesuiten Naphta (Charles Aznavour) Bild: kpa/United Archives/picture alliance

Auch Thomas Manns Romanheld Hans Castorp trifft auf fanatische Verfechter unterschiedlicher Ideologien, die sich erbittert streiten. Da ist zum einen der Humanist Lodovico Settembrini, zum anderen der erzreaktionäre Jesuit Leo Naphta. In ihren Dialogen prallen Liberalismus und Fortschrittsglaube und die Begeisterung für ein totalitäres Regime als einzig richtige Gesellschaftsform aufeinander. Beide Männer buhlen um Castorps Gunst, der hin- und hergerissen ist zwischen ihren Ideen. Am Ende kommt es zum Pistolenduell zwischen den beiden Rivalen, bei dem Settembrini den Schuss auf Naphta absichtlichlich in die Luft feuert. Der wiederum kann die Schmach nicht ertragen und erschießt sich aus Wut selbst. Und damit rollt die Welle der Gewalt an.

Vom Kriegsfan zum Verfechter der Demokratie

Als Thomas Mann den Zauberberg schreibt, hat er seine eigene politische Wandlung im Blick. Die ersten Zeilen brachte er 1913 zu Papier, zwölf Jahre später beendete er sein Werk - unterbrochen vom Ersten Weltkrieg. Begonnen habe er das Buch als überzeugter Kriegsfan, sagt Kai Sina. "Thomas Mann hat sich mitreißen lassen von der Kriegseuphorie, die damals viele Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller umgetrieben hat. Und 1918, als der Krieg verloren war, fand er sich auf völlig verlorenem Posten wieder."

Thomas Mann um 1930Bild: CSU Archives/Everett Collection/picture alliance

Fortan wurde er einer der sprachgewaltigsten Kämpfer gegen den Faschismus. "Was mich an Thomas Mann am meisten beeindruckt", so Sina, "ist sein Mut zur Selbstrevision, seine ehrliche und aufrichtige Bereitschaft, einmal gefasste Ansichten immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Und der Zauberberg bildet genau das in sich ab."

Zwölf Jahre lang arbeitete Thomas Mann an seinem Roman, der am 28. November 1924 erschien Bild: S. Fischer

Die Spannungen und Gefahren, die später zum Untergang der Weimarer Republik führen sollten - Deutschlands erstem Versuch einer echten parlamentarischen Demokratie, der mit der Machtergreifung der Nazis endete, all das schwingt hier schon mit. 1933 verlässt Thomas Mann Deutschland mit seiner Familie und zieht in die Schweiz. Von 1938 bis 1952 lebt er in den USA, kehrt dann in die Schweiz zurück. Er setzt sich für Toleranz und menschliche Würde ein, bis er 1955 stirbt.

Der Roman war ein "Zufall" 

Kaum zu glauben, dass der Autor ursprünglich nur eine humoristische Kurzgeschichte als Gegenstück zu seiner Novelle "Tod in Venedig" im Sinn hatte. Das Sanatorium als Schauplatz wählte er, weil seine Frau Katia 1912 selbst drei Wochen wegen einer Tuberkulose-Diagnose in einer solchen Klinik verbrachte. "Das ist das Verrückte daran, dass so große Geschichten, über die wir jetzt noch reden und wo man sich denkt, er hat jahrelang gesessen und überlegt, wie mache ich das - dass das Zufall ist", sagt Hans Wißkirchen, der Präsident der Thomas-Mann-Gesellschaft. 

Heraus kam am Ende ein Jahrhundertroman mit über 1000 Seiten. Doch es geht nicht nur um Ideologien im Zauberberg, sondern auch um den Tod- schließlich verlassen die meisten Insassen das Sanatorium im Sarg. Es gab zu der Zeit noch kein Antibiotikum. Es geht aber im Umkehrschluss auch um einen unbändigen Lebenshunger und natürlich um die Liebe.

Homosexuelle Anspielungen und ein "Weltfest des Todes"

Hans Castorp ist der geheimnisvollen Russin Clawdia Chauchat verfallen, die ihm eine einzige Liebesnacht gewährt. Sie erinnert ihn an einen Kameraden aus der Jugend. Der Literaturwissenschaftler Kai Sina sieht darin einen Anspielung Thomas Manns auf seine eigene homoerotische Neigung. "Die Frage, was ein Mann ist, was eine Frau ist, was männlich, was weiblich ist und was jeweils als anziehend empfunden, als attraktiv, erotisch attraktiv gefunden wird, das kommt hier alles irgendwie ins Schwimmen gewissermaßen", sagt er. Nach außen hin war der spätere Literaturnobelpreisträger ein aufrechter heterosexueller Bürger mit Frau und sechs Kindern, sein Verlangen nach Männern durfte er, wenn überhaupt, nur im Geheimen ausleben - und in seinen Büchern. 

Hans Castorp mag auf weitere Gunstbezeichnungen der schönen Russin hoffen, doch beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges verlassen die Patienten fluchtartig den Berghof. Castorp schließt sich einem Freiwilligenregiment an; seine Spur verliert sich auf dem Schlachtfeld. Am Ende des Zauberbergs fragt Thomas Mann: "Wird aus diesem Weltfest des Todes … einmal die Liebe steigen? "

Hans Castorp (links) ist in die Russin Clawdia Chauchat verliebt - sie erinnert ihn an einen früheren KlassenkameradenBild: kpa/United Archives/picture alliance

Der Roman wird ein weltweiter Erfolg, übersetzt in 27 Sprachen. Isabel García Adánez hat den Zauberberg ins Spanische adaptiert. Ihr Fazit: "Es ist ein Jahrhundert vergangen, und wir sind immer noch die Gleichen und lösen Konflikte mit Kriegen."

Gleichzeitig ergänzt sie: "Es geht zwar um sehr ernste Dinge, aber das Buch selbst ist ein vergnügliches Erlebnis. Und es ist nicht notwendig, drei Doktortitel zu haben, um Zugang zu Mann zu haben, denn in Thomas Mann steckt viel Ironie und viel Humor."  

Falls sich jemand von der Aussicht auf eine Lektüre von 1000 Seiten erschlagen fühlt, ein kleiner Rat: Man kann immer mal ein paar Seiten überblättern, der Geschichte tut das keinen Abbruch.

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