Thomas Tuchel: Ein deutscher Nationaltrainer für England?
22. März 2025
Er hat bei der Hymne nicht mitgesungen. Jeder wusste, dass er das nicht tun würde. Thomas Tuchel sagte im Vorfeld, er müsse sich das Recht dazu "verdienen". Auch mit dieser diplomatischen Antwort hat Tuchel die besonderen Anforderungen, die der Job in England abseits des Spielfelds mit sich bringt gemeistert - wie er es im Grunde seit seiner Ernennung als Nationalcoach im Oktober getan hat.
"Wenn er die Mannschaft anführt, sollte er sie auch singen", sagt England-Fan Chris Wilkinson vor dem Wembley-Stadion gegenüber DW. "Man muss mit gutem Beispiel vorangehen. Ich denke, es wird immer Kontroversen geben. Aber wenn er ein guter Manager für uns ist, werden wir englischen Fans ihn gnädig akzeptieren. Vor allem, wenn er uns noch einen Schritt weiterbringen kann."
Herzlicher Empfang in der Heimat des Fußballs
Als Tuchel am Freitagabend im WM-Qualifikationsspiel gegen Albanien erstmals an der Seitenlinie stand, war der Empfang herzlich, wenn auch nicht überwältigend. Ein Interview vor dem Spiel, das auf den großen Bildschirmen gezeigt wurde, brachte nur wenig Applaus, ein Lied mit seinem Namen kam nicht so richtig zur Geltung, und die Fans hinter dem Tor enthüllten ein Transparent mit der Aufschrift: "Willkommen in der Heimat des Fußballs, Thomas".
Die Vorstellung, dass England die "Heimat" des Fußballs ist, hat sich tief in der Kultur verankert, auch wenn dies manchmal mit einem Augenzwinkern gesagt oder gesungen wird. Die Berufung eines Deutschen in das höchste sportliche Amt des Landes sorgte im Oktober zwar für einige Aufregung, doch für die meisten englischen Fans, die das Debüt des "Deutschen" im Wembley-Stadion verfolgten, war Tuchels Nationalität nicht von Belang.
"Wir alle wissen, dass er Deutscher ist, das ist seine Nationalität und das ist sein Job. Ob er die Nationalhymne singt oder nicht, spielt keine Rolle", sagte Katen Amin. "Er sollte immer stolz darauf sein, Deutscher zu sein. Das ist sein Erbe, das ist sein Hintergrund. Jetzt ist er Trainer in England, das ist seine berufliche Position."
Daily Mail: "Deprimierendes Zeichen des Niedergangs"
Tuchel weiß, dass der Posten des englischen Nationaltrainers nach seinen Vereinsstationen beim FSV Mainz, Borussia Dortmund, Paris Saint-Germain, Chelsea und Bayern München ein wenig anders ist. "Das ist die größte Rolle im Weltfußball. Ich werde alles tun, um dieser Rolle und diesem Land gegenüber Respekt zu zeigen", sagte Tuchel. Da könne sich jeder sicher sein, "egal welche Nationalität auf meinem Pass steht".
"Ein dunkler Tag für England, denn die Three Lions setzen auf einen Deutschen", titelte die "Daily Mail" am Tag seiner Ernennung. "Kann es ein deprimierenderes oder offensichtlicheres Zeichen für den nationalen Niedergang geben als diese völlig erbärmliche Kapitulation in dem Sport, den wir am meisten lieben - dem Spiel, das wir erfunden haben, um Gottes Willen - vor unserem größten Rivalen?", fragte eine Kolumne im Wochenmagazin "The Spectator".
Tuchel will mit "Ergebnissen" überzeugen
In einem Land, das seit dem Brexit zunehmend polarisiert ist und in dem die rechtsgerichtete, einwanderungsfeindliche Partei Reform UK bei den Parlamentswahlen 2024 14,3 Prozent der Stimmen erhielt, gibt es viele, die einen Deutschen als Trainer der englischen Nationalmannschaft als Affront betrachten. Teile der englischen Presse hatten "schon vor seinem ersten Spiel ihre ganze Wut an ihm ausgelassen", schrieb das deutsche Magazin "Der Spiegel".
Es gibt auch viele, die beklagen, dass eine der bestausgestatteten Nationalmannschaften des Fußballs nicht in der Lage ist, einen einheimischen Trainer mit dem Stammbaum von Tuchel zu entwickeln. Gary Lineker, der ehemalige englische Stürmer, der zum Podcast-Mogul wurde und von vielen als Liebling der liberalen Linken angesehen wird, war einer von ihnen.
"Ich bin wirklich der Meinung, dass der Trainer einer Nationalmannschaft, insbesondere bei den großen Nationen, aus der Nationalmannschaft kommen sollte. Aus dem Land, in dem sie spielen", sagte Lineker. "Ich denke nicht, dass es zwingend notwendig ist, ich werde nicht darüber nachdenken, aber meine persönliche Präferenz wäre, dass England einen englischen Trainer hat. Ich respektiere Tuchel als Trainer, er ist wirklich clever." Und seine Erfolge sprechen für sich: Er hat die Champions League, die Bundesliga, den deutschen Pokal, die Klub-Weltmeisterschaft und die französische Liga gewonnen.
Weltmeister-Titel als Tuchels einziger Fokus
Sein Vorgänger, Gareth Southgate, hatte bei seiner Ernennung im Jahr 2013 keine vergleichbare Erfolgsbilanz vorzuweisen. Doch Southgate hat nicht nur die Mannschaft verbessert, sondern auch als Staatsmann für das Land und als Vaterfigur für seine Spieler gewirkt: Er hat denjenigen den Rücken gestärkt, die nach dem verschossenen Elfmeter im EM-Finale 2021 rassistisch beschimpft wurden, und er hat sich wortgewandt zu gesellschaftlichen Problemen im Land geäußert.
Obwohl Tuchel sich auf Englisch und Deutsch gleichermaßen gut ausdrücken kann, ist es nicht seine Aufgabe, die durch seine Ernennung aufgewühlten Gemüter zu beruhigen. Er wurde geholt, um die Weltmeisterschaft zu gewinnen, wenn sein Vertrag 2026 ausläuft.
Auf dem Weg dorthin hilft jeder Sieg, jedes gute Spiel. Beim Einstand gegen Albanien gelang ein 2:0-Sieg, ein gutes Spiel seiner Mannschaft war es nicht unbedingt. "Wir können es besser machen, wir müssen es besser machen", gab auch Tuchel zu. "Ich kann verstehen, dass es nicht die aufregendste Partie war, aber wir mussten trotzdem tun, was wir tun mussten."
Kann England also wirklich einen deutschen Trainer akzeptieren? Im Moment hängt das davon ab, welchen Engländer man fragt. Bleiben gute Ergebnisse aus, wird die Zahl der Kritiker wohl schnell steigen und ihre Stimmen lauter. Gewinnt Tuchel mit den "Three Lions" im nächsten Jahr aber tatsächlich die Weltmeisterschaft, wird es wohl kaum noch jemanden geben, der nicht schon immer gewusst hat, dass Thomas Tuchel genau der Richtige für England ist.
Dieser Artikel wurde aus dem englischen Original "Thomas Tuchel: Can English football embrace a German coach?" adaptiert.