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Politik

Hilferuf im Europaparlament

Barbara Wesel
24. November 2021

In einer emotionalen Rede an das Europaparlament bat die exilierte Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja um Hilfe für Belarus. Die EU müsse mehr Druck auf Machthaber Lukaschenko ausüben.

Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja  spricht in Straßburg im EU-Parlament
"Mehr politische Gefangene in Belarus als Abgeordnete in diesem Haus": Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja Bild: Julien Warnand/REUTERS

Am Dienstag hatte sich das Europaparlament ausführlich mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko und seinem Erpressungsversuch gegenüber der EU befasst. Abgeordnete und EU-Kommission geißelten den Einsatz von Migranten an der Grenze zu Polen als Akt der "hybriden Kriegsführung", bei dem "Menschen als Waffen" eingesetzt würden. Was dabei eher nebenbei vorkam, war die verzweifelte Lage der demokratischen Opposition im Land. In ihrer leidenschaftlichen Rede versuchte die belarussische Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja nun an die Opfer unter den Regimegegnern zu erinnern und forderte die EU zum Handeln auf. 

Erinnerung an rund 900 politische Häftlinge

"Es gibt mehr politische Gefangene in Belarus als Abgeordnete in diesem Haus", begann die Oppositionsführerin ihre Rede im Straßburger EU-Parlament. Und sie rief inzwischen schon wieder vergessene Einzelschicksale ins Gedächtnis: Ihren Ehemann Siarhei, der im Gefängnis sitzt, seit seinem Versuch, für die Präsidentschaftswahl 2020 zu kandidieren, womit seine Frau Swetlana in ihre prominente Rolle katapultiert wurde.  

Oder Bürgerrechtler Ales Bialitztki, der mit ihr gemeinsam im vorigen Jahr den Sacharow-Preis des EU-Parlamentes bekommen hatte. Nur Monate später wurde er wegen seiner Arbeit für das Bürgerrechts-Zentrum "Viasna" verhaftet. In Straßburg hätten ihm noch alle gratuliert - jetzt hinter Gittern sei er allein. 

Seit Wochen ist das Schicksal der Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze ungewiss Bild: Leonid Shcheglov/AP/picture-alliance

Im vorigen Dezember habe sie 2021 noch als "Jahr des Erwachsens für Belarus" angekündigt - stattdessen aber sei das Regime noch rücksichtloser in seinem Missbrauch geworden. Die belarussische Oppositionelle erinnerte an die vielen inzwischen verhafteten Journalisten und Demonstranten oder vom Sicherheitsdienst in Haft erschlagenen Regimegegner. Weil aber keine Bilder von Massendemonstrationen mehr zu sehen sind, hätten Medien und Politik in der EU das Interesse an Belarus verloren. Viele hätten gehofft, dass die politische Krise im Land zu Ende sei, die Situation sich stabilisiert hätte. Aber das Gegenteil sei der Fall. 

Ende für unabhängige Medien und NGOs

Die Zerstörung der Zivilgesellschaft sei im vergangene Jahr fortgeschritten. Im Mai wurde die Website TUT.be geschlossen, im Juli folgten die letzten unabhängigen Medien und 270 NGOs, ein weiterer Präsidentschaftskandidat wurde verhaftet und zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Reaktionen aus der EU hätten lediglich "tiefe Sorge" ausgedrückt und allein auf die Entführung des Ryanair Fluges im Sommer habe Europa mit Sanktionen gegen Alexander Lukaschenko reagiert. Im September gab es dann noch einmal Schlagzeilen, als Bürgerrechtlerin Maria Kalesnikava zu elf Jahren Haft verurteilt wurde.

Erst als dann im Oktober die Flüchtlingskrise an der Grenze "explodiert" sei, habe es Telefonate und Versuche gegeben, die Lage der Menschen zu verbessern. Gleichzeitig aber seien mehr als neun Millionen belarussische Bürger Geiseln des Regimes geblieben - der unausgesprochene Vorwurf von Tichanowskaja an die EU heißt hier: Ihr kümmert euch um das Schicksal der Flüchtlinge, aber nicht um unseres. 

Mehr Druck auf Lukaschenko

Die Lektion aus der europäischen Vergangenheit heiße doch, so erinnert die Oppositionsführerin, dass Tyrannen durch Befriedungsversuche nur ermutigt würden. Sie beklagt also, dass "gut-finanzierte Lobbyisten unermüdlich arbeiten, um neue Sanktionen gegen das Willkür-Regime zu verhindern". Lukaschenko aber werde nach dem Missbrauch von Flüchtlingen an der Grenze vor weiteren Aktionen nicht haltmachen: Mehr Drogenschmuggel, eine militärische Provokation oder ein Nuklearunfall nahe der Grenzen der EU - all das seien mögliche Szenarien.  

Die Arbeiter und Aktivisten in Belarus aber hätten keine Zeit zu verlieren. Swetlana Tichanowskaja appellierte deshalb an Europa: "Vielleicht haben wir kein Recht, eure Hilfe oder Unterstützung zu fordern. Vielleicht lehnt ihr das ab, weil es euren nationalen Interessen zuwiderläuft. Oder weil es schlecht für das Geschäft ist". Trotzdem würde sie diese Hilfe erbitten.

"Belarus hat nicht noch ein Jahr Zeit": Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja im EU-ParlamentBild: Julien Warnand/REUTERS

Denn die Zeit laufe ab: "Belarus hat nicht noch ein Jahr Zeit, und die EU auch nicht". Die Exilpolitikerin schlug drei Maßnahmen vor, um das Regime zu schwächen: Lukaschenko müsse isoliert und dürfe nicht anerkannt werden, es sei ein Fehler ihn in den Medien "Präsident" zu nennen, denn er habe Macht mit Gewalt an sich gerissen. 

Sie forderte auch schärfere wirtschaftliche Maßnahmen: "Sanktionen funktionieren, sie spalten die Eliten und die Anhänger von Lukaschenko und stören deren Korruption". Alle verbliebenen Schlupflöcher müssten geschlossen werden und es dürfe keine weiteren Investitionen in das "Mafia-Regime" geben. Stattdessen solle Europa die Zivilgesellschaft, die Familien der Inhaftierten, Bürgerrechtler und Journalisten stärker unterstützen. 

Viel Applaus 

Schließlich endete Swetlana Tichanowskaja mit einem emotionalen Aufruf, den für Belarus so schwer gewordenen Weg zur Demokratie gemeinsam zu gehen. Sie bekam viel Applaus für ihre Rede und für die Europaabgeordneten lieferte sie eine Erinnerung an Werte und Ideale der EU. 

Für die Grünen forderte Viola von Cramon nach der Rede im EP "ein breites Spektrum von Sanktionen gegen Personen und Wirtschaftssektoren (…), allen voran gegen die chemische Industrie, gegen Banken und Finanzdienstleistungen". Tatsache ist, dass die zuletzt verhängten EU-Sanktionen dem Regime in Minsk nur wenig schaden, sich die Exporte teilweise sogar erhöht haben sollen. Man müsse den diplomatischen Druck auf das Lukaschenko Regime aufrechterhalten, sagt Martin Schirdewan von der Linken, so dass es zu einem Diskurs in Belarus kommt und das Regime einen Demokratisierungsprozess erlaube. Genauso hatte sich die EU noch im vorigen Jahr die Zukunft von Belarus vorgestellt, aber die Rede von Swetlana Tichanowskaja macht deutlich, dass das Land davon heute weiter entfernt scheint als im November 2020.   

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