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Tiefgründig: Deutsche Filme bei der Berlinale

Jochen Kürten (mit dpa)10. Februar 2014

Kinder ohne Eltern, junge Menschen auf religiösen Abwegen, dazu ein Blick auf die Akteure klassischer Literatur: Das deutsche Kino präsentiert sich im Wettbewerb der 64. Berlinale statisch und ernst.

Filmszene aus Jack von Edward Berger (Foto: Berlinale)
Bild: Jens Harant

Es ist ein Vorwurf, dem man dem deutschen Film gerne macht: Er sei humorlos und schwierig, anspruchsvoll und wenig sinnlich. Bei rund 200 neuen deutschen Filmen, die jährlich ins Kino kommen, lassen sich immer genügend Ausnahmen finden, die dieser These widersprechen. Und doch ist etwas dran. Wer das deutsche Kino für bedeutungsschwer und humorlos hält, wird sich angesichts der eingeladenen Beiträge im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb bestätigt fühlen.

Vier heimische Regisseure hatte Festivalchef Dieter Kosslick in diesem Jahr zum Bärenrennen geladen. Ein großes Festival wie die Berlinale hat auch die Aufgabe, Forum des nationalen Films zu sein. In früheren Jahrzehnten wurde das oft vernachlässigt.

Kinder ohne Eltern

Dieses Jahr sind es also vier Filme! Drei haben die Zuschauer nun gesehen. "Jack" (unser Bild oben) von Edward Berger machte den Anfang. Es ist die Geschichte eines Zehnjährigen, der mit seinem kleineren Bruder in Berlin aufwächst und meist auf sich allein gestellt ist. Den Vater kennen die Kinder nicht, die Mutter lässt sich kaum blicken. Doch "Jack" ist kein Film aus der tiefsten sozialen Unterschicht. Er zeigt das Schicksal von Kindern, die gerade so zurechtkommen, aber viel zu früh auf sich allein gestellt sind.

Die Idee zum Film sei ihm gekommen, als er mit seinem Sohn vor ein paar Jahren beim Fußballspielen zu einem Jungen wie Jack Kontakt bekommen habe, erzählt Edward Berger: "Ich konnte den Jungen nicht vergessen, sein Stolz, die Kraft, mit der er voranschritt, haben mich schwer beeindruckt." Das sei aber nur eine vordergründige Kraft. "Hinter den Kulissen sieht es oft ganz anders aus." Die Vernachlässigung von Kindern sei ein wichtiges und großes Thema, mit dem sich die Gesellschaft auseinandersetzen müsse.

Das Team von "Jack" mit Edward Berger in der MitteBild: Reuters

Vom Glauben an das Leben

Bergers Film beobachtet den Alltag Jacks distanziert und mit fast dokumentarischem Gestus, verzichtet auf jegliche vordergründige soziale Anklage: "Wir wollen nicht agitieren. Für uns steht hinter der Geschichte vor allem diese Frage: Was können wir uns von der Kraft des Jungen abgucken", sagt Berger. Er habe "eine Geschichte vom Glauben an das Leben" erzählen wollen.

Religiöses Drama

Um religiösen Glauben geht es im Film "Kreuzweg" von Dietrich Brüggemann. In vierzehn minimalistisch erzählten Kapiteln, angeordnet nach den Etappen des christlichen Kreuzwegs, fächert der Regisseur die tragisch endende Geschichte einer Glaubensverirrung auf. Die vierzehnjährige Maria wächst in einer nach altem und strengem Ritus praktizierenden katholischen Gemeinde auf. Marias Mutter und der Pfarrer üben großen Einfluss auf das mitten in der Pubertät steckende Mädchen aus.

Orientierungssuche: Maria und der Pfarrer in "Kreuzweg"Bild: Dietrich Brüggemann

Machtmissbrauch in der Familie

Im Glauben, sich für ihren kleinen, sprachgestörten Bruder aufopfern zu müssen, verweigert Maria schließlich die Nahrung und stirbt. "Der Film enthält eine Essenz von dem, was in sehr vielen Familien passiert - egal, ob religiös oder nicht", sagt Brüggemann. "Damit meine ich Machtausübung und das Brechen eines heranwachsenden Individuums." Über subtile Gewalt in der Familie spreche man aber nicht.

Anna Brüggemann, die zusammen mit ihrem Bruder das Drehbuch geschrieben hat, ergänzt: "Als es die vielen Berichte über sexuellen Missbrauch an Schulen und Internaten gab, haben wir uns überlegt, dass eine streng religiöse Erziehung auch immer ein seelischer Missbrauch ist." Genau das habe sie interessiert. "Das Thema der radikalen Religionsausübung ist überall vorhanden", sagt der Regisseur. "Vom radikalen Islam beispielsweise liest man permanent."

Im Film wird die Pius-Brüderschaft nicht namentlich genannt, den Brüggemanns geht es auch um einen erweiterten Blick: "Die Pius-Brüder, um die es in diesem Film geht, sind eher ein Abseits-Phänomen. Gleichzeitig sind sie in der katholischen Kirche aber sehr zentral, denn sie stellen dieser großen Weltreligion die Frage: 'Wie willst du sein? Wir machen es, wie du es immer gemacht hast'."

Friedrich Schiller: Ménage-à-trois

Geradezu entspannen konnten sich die Berlinale-Zuschauer dagegen im dritten deutschen Wettbewerbsbeitrag "Die geliebten Schwestern" - was bei einer knapp dreistündigen Spieldauer des Films eine beachtliche Leistung darstellt. Regisseur Dominik Graf erzählt eine Episode aus dem Leben des Dichters Friedrich Schiller. Seine Beziehung zu den Schwestern Caroline von Beulwitz und Charlotte von Lengefeld sorgte Ende des 18. Jahrhunderts im Umfeld der Weimarer Klassik für einigen Gesprächsstoff.

Dreiecksbeziehung zwischen Glück und Leid: "Die geliebten Schwestern"Bild: Senator Film

Worte und Briefe

Graf stellt Schiller nicht als dichtenden Heros vor, sondern als einen an seiner Liebe leidenden, sensiblen Zeitgenossen. Der Film basiert vor allem auf Briefen: "Die Hauptrolle im Film spielen die Worte", sagt Graf. "Es geht darum, wie über Gefühle gesprochen und geschrieben wird." Ihn habe es gereizt, einen Film über Worte zu machen, Worte der Liebe, der Versprechen, der frohen Sehnsucht nach einem anderen bürgerlichen Leben.

Eine authentische Sozialstudie aus Berlin, ein religiöses Drama aus der deutschen Provinz und eine beschwingt inszenierte Episode aus der Zeit der Klassik - die drei deutschen Wettbewerbsbeiträge hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können. Sie stehen auch für die große Bandbreite des deutschen Kinos. Sie stehen aber auch für die Tendenz, sich mit großer künstlerischer Anstrengung schwierigen und sperrigen Stoffen zu widmen. Im Kinoalltag werden es diese Filme wohl schwer haben.

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