Kluger Freigeist: Tilda Swinton wird 60
4. November 2020Bekleidet mit einem dunkelbraunen, knielangen Rock und einem luftigen, weißen T-Shirt radelt eine Frau, die braunen Haare im Nacken geknotet, geradewegs auf das Brandenburger Tor in Berlin zu. Vor dem Tor erstreckt sich eine Mauer, die die Radfahrerin zum Abbiegen zwingt. Die Frau auf dem Rad ist Tilda Swinton - die Mauer, jene, die die ganze Stadt in Ost und West teilt und für viele eine unüberwindbare Grenze darstellt. In diesem 27-minütigen Film von Cynthia Beatt aus dem Jahr 1988 hört man Swinton sagen: "Was wäre, wenn sie (die Mauer, Anm. d. Red.) einfach umfiele? Bäume fallen um - und sind viel stärker." Ein Jahr später war es so weit: Die Mauer fiel.
Blickt man heute auf die beachtliche Filmografie der nun 60-jährigen Schauspielerin Swinton, finden sich darin Thriller, Horrorfilme, romantische Komödien - filmhistorische Zeitdokumente wie Beatts Berlinfilm "Cycling the Frame" - entstanden als Produktion für die Reihe "Das kleine Fernsehspiel" des Fernsehprogramms ZDF - dagegen seltener.
Swintons Umwege zum Film
Jim Jarmusch, Wes Anderson, die Coen-Brüder - die Reihe namhafter Regisseure, für die Tilda Swinton gelegentlich in die unterschiedlichsten Rollen schlüpft, ist lang. Seit ihrem Leinwand-Debüt 1986 ist kaum ein Jahr vergangen, in dem kein Film mit ihr erschienen ist. Vor allem in den letzten Jahren war ihr Output beachtlich. 2019 kamen gleich vier Filme heraus, in denen sie eine der Haupt- oder Nebenrollen übernommen hatte - darunter auch die Marvel-Produktion des Epos "Avengers: Endgame". Seit Juli 2019 ist dieses weltweit der erfolgreichste Film der Kinogeschichte.
Im Hinblick auf Swintons Zugehörigkeit zu altehrwürdigem, schottischen Adel, ihren zeitgleichen Besuch eines englischen Privatinternats mit Diana Spencer - der späteren Lady Di - ihrem anschließenden Studium der Sozial- und Politikwissenschaften an der Eliteuniversität von Cambridge sowie ihrem sozialen Engagement in einem südafrikanischen Township, liegt eine Karriere beim Film nicht gerade nahe. Doch ihr Interesse an der Schauspielerei wuchs mit den Jahren. Bevor Filmregisseur Derek Jarman sie erstmalig für eine Leinwandproduktion ("Caravaggio", 1986) besetzte, war sie schon Mitglied der "Royal Shakespeare Company" gewesen. Auch hatte sie bereits diverse Bühnenrollen an Theatern übernommen.
Swinton - ein androgyner Typ
Dabei verriet Swinton der "Süddeutschen Zeitung" einmal, dass sie sich gar nicht als Schauspielerin sehe, "sondern als Performerin, als so etwas wie das Modell für den Maler". Im Theater und auf der Leinwand: Schon früh zeigte die 1,80 Meter große Swinton ein Faible für die Übernahme männlicher Rollen.
In vielen Berichten über die mit drei Brüdern in einem herrschaftlichen Anwesen aufgewachsene Schauspielerin ist darum ihre angebliche Androgynität ein Thema; mit ihrer Größe und ihrem Kurzhaarschnitt passt sie eben nicht in das traditionelle Bild einer Hollywood-Schauspielerin. In jenem SZ-Interview gestand sie: "Tatsächlich habe ich Schwierigkeiten damit, wenn jemand behauptet: Ich fühle mich zu hundert Prozent als Mann, oder: Ich fühle mich zu hundert Prozent als Frau." Eine eindeutige Identitätszuschreibung erscheine ihr "sehr rätselhaft und unverständlich", sie fühle sich eher "ungeformt und fließend".
Swinton als Mode-Ikone
Auch in der Art, sich zu kleiden oder zu posieren, lässt Swinton gern mal das, was als "typisch weiblich" gilt, hinter sich. Bei der Premiere zu "The Grand Budapest Hotel" (Regie: Wes Anderson, 2014), worin sie eine über 80-Jährige spielt, die auf rätselhafte Weise umkommt, trug sie beispielsweise über einer legeren weißen Hemdbluse ein schwarzes Sakko, die Schuhe offen und flach. Für die Fotografen und Kameraleute nahm sie eine mit nach innen gerichteten Knien, leicht nach vorn geneigte Haltung ein.
Die Modeschauen von namhaften Designern besuchte Swinton in der Vergangenheit immer wieder mal - beispielsweise 2016 die erste Chanel-Schau in Kuba. Gerne ließ sie sich von Karl Lagerfeld, dem einstigen Chefdesigner des französischen Modehauses, auch selbst einkleiden. Doch nicht nur: Im Frühjahr/Sommer 2015 nahm sie selbst am Modezirkus teil - als Gesicht der Kampagne für die Berliner Fashion Week.
Die Grenze von der Mode zur Kunst überschritt sie außerdem: Mit einem über drei Jahre andauernden Projekt für das Pariser Modemuseum "Palais Galliera". In der ersten Performance 2012 lief sie in historischen wie kulturell bedeutenden Kleidern der letzten 200 Jahre über den Laufsteg. Das Cover des daraus entstandenen, gemeinsam mit Museumsdirektor Olivier Saillard herausgegebenen, dreibändigen Buchsets "Impossible Wardrobes" zeigt sie in einem aufwändig bestickten Kleid mit Ärmeln, die an Engelsflügel erinnern.
Mann, Hexe, Außerirdische: Tilda Swintons Filmrollen
Extravagante Posen und ein extravaganter Kleidungsstil sind ihr Metier, auch im Film. Vermutlich gibt es kaum ein Wesen, das Tilda Swinton in ihrer filmischen Laufbahn noch nicht verkörpert hat. Gegenüber der Londoner Zeitung "The Independent" sagte die 2008 mit einem Oscar als "Beste Nebendarstellerin" Ausgezeichnete einmal, ob sie in einem Film mitspielen wolle, entscheide sie anhand dessen experimentellen Gehalts. Ob es sich um ein Independent Werk oder die Produktion eines großen US-amerikanischen Studios handelt, scheint dabei nachrangig.
Filme, in denen sie eine Rolle übernommen hatte, eröffneten zuletzt häufig die Internationalen Filmfestspiele von Cannes, Venedig und Berlin. 2016 etwa begann mit der Filmkomödie "Hail, Caesar" von den Coen-Brüdern die Berlinale. Außer Swinton spielen darin viele weitere internationale Stars mit, zum Beispiel George Clooney, Ralph Fiennes und Scarlett Johansson. 2018 war Luca Guadagninos "Suspiria" Eröffnungsfilm der Filmfestspiele von Venedig. In diesem Horror-Historyfilm verkörpert Swinton gleich drei Rollen, darunter auch eine männliche. Im letzten Jahr war es die Zombie-Komödie "The Dead Don't Die" von Jim Jarmusch, die die Filmfestspiele in Cannes eingeleitet hat. Swinton wird darin im Kampf gegen Untote zu einer Außerirdischen.
Im Film und im Leben: Verbundenheit mit Berlin
2009 war Swinton nicht nur Berlinale-Gast, sondern sogar deren Jury-Vorsitzende. In ihrem Team war auch der Filmemacher, Performer und Künstler Christoph Schlingensief. Die Beiden hatten sich Jahre zuvor ebenfalls bei den Berliner Filmfestspielen kennengelernt. Sie verband eine langjährige Freundschaft, die erst mit Schlingensiefs Tod 2010 endete. In seinem Film "Egomania - Insel ohne Hoffnung" stand Swinton 1986 vor der Kamera - es war ihr zweiter Film überhaupt. Die Beiden sollen damals kurzzeitig ein Paar gewesen sein, wie Schlingensief einmal gegenüber der "Welt" erzählte.
Im Jahr ihres Berlinale-Vorsitzes war Swinton auch aus anderen Gründen nach Berlin gekommen: Gemeinsam mit Cynthia Beatt begab sie sich diesmal auf die Spuren der einstigen Grenzmauer. In "The Invisible Frame" konnte Swinton nun beide Seiten der in "Cycling the Frame" noch geteilten Stadt aufsuchen. Seither hat sich Berlin weiter gewandelt. Ob es einen dritten Essay-Film über die Stadt geben wird, für den sich Swinton auf ein Rad schwingt? Gegenüber dem Berliner Stadtmagazin "tip" blieb sie vage: "Vielleicht! Man weiß ja nie. Aber wirklich gerne würde ich diese Art von Film in Palästina drehen, wo es bekanntlich auch eine Mauer gibt."