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Tod auf dem Tahrir-Platz

20. November 2011

Sein Name war Tarek Abdel Latif, er starb einen Tag nach seinem 36. Geburtstag, weil er auf dem Tahrir-Platz für ein demokratisches Ägypten demonstrierte. Seine Frau fand seine Leiche erst fünf Wochen nach seinem Tod.

Der Ägypter Tarek Abdel Latif (Foto: DW/Diana Hodali)
Tarek Abdel Latif starb, als er für ein freies und besseres Ägypten demonstrierte.Bild: DW

Tarek Abdel Latif hatte die Hoffnung für Ägypten schon aufgegeben. Er sah keinen Ausweg mehr und war der festen Überzeugung, dass er, seine Frau und seine zwei Töchter einen alternativen Plan für die Zukunft brauchten. Das Leben in dem Land am Nil war ihm zu unsicher. Sein Wunsch war es, nach Kanada auszuwandern – seine Kinder sollten eine gute Bildung genießen. Die Papiere für sich und seine Familie waren fast vollständig. Lediglich die medizinischen Unterlagen fehlten noch.

Ende dieses Jahres sollte es losgehen. Doch dann kam es anders. Dann kam der 25. Januar 2011 – der Tag an dem die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo begannen. Erst war er skeptisch, erzählt seine Frau Rania. Sollten sich die Menschen wirklich gegen das Mubarak-Regime erheben? Er wollte sich mit eigenen Augen ein Bild von der Lage machen und fuhr ins Stadtzentrum. Als er zurückkam, erzählte er seiner Frau von den vielen kaputten Autos in der Stadt, und dass er das Gefühl habe, dass sich in Ägypten gerade etwas verändere. Das seien keine normalen Demonstrationen. Dieses Mal sei es anders. Tarek wollte unbedingt dabei sein.

Die Stimme gegen das Regime erheben

Wochenlang demonstrierten die Gegner von Ägyptens Ex-Präsident Mubarak auf dem Tahrir-Platz in KairoBild: AP

Dabei war Tarek eigentlich kein politischer Mensch. Der Maschinenbauer hatte nie Lust, sich über Politik oder Geschichte zu unterhalten. Seine Liebe galt der Technik und der Naturwissenschaft. Am Morgen des 28. Januar ging der 36-jährige wie immer zum Freitagsgebet und danach wollte er zu den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz. An dem Tag, an dem es zu den blutigsten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten kommen sollte. "Ich habe ihm gesagt, er solle auf sich aufpassen und er hat mir versprochen sich nicht in Gefahr zu begeben", erinnert sich seine Frau Rania. "Er hat mir versprochen, dass er nicht zum Tahrir-Platz fährt, um sich zu prügeln, sondern um seine Stimme gegen die Situation im Land zu erheben." Für Tarek war es die letzte Möglichkeit, überhaupt noch einmal gehört zu werden.

Das war der letzte Morgen, an dem Tareks Frau mit ihrem Mann und seine Töchter mit ihrem Vater gesprochen haben. Ein Freund erzählt ihnen später, dass er Tarek noch um 23 Uhr vor dem Innenministerium in der Nähe des Tahrir-Platzes gesehen habe. Ein anderer schickt der Familie ein Foto der Demonstrationen auf dem Tarek bei zufällig zu sehen ist. Seine Familie sucht ihn überall – in jedem Krankenhaus, jeder Leichenhalle, aber auch in jeder Polizeistation. Vielleicht wurde er ja verhaftet, denkt seine Frau immer wieder. "Bis Anfang März haben wir immer widersprüchliche Aussagen gehört. Mal sagte man uns, er sei im Gefängnis, dann wieder, das Militär habe ihn festgenommen", erzählt Rania. Zweifel kommen auf. Lebt er wirklich noch? Rania glaubt fest daran. Ihre beiden kleinen Töchter Mariam und Sarah fragen immer wieder nach ihrem Vater. Rania erzählt ihnen, dass ihr Papa gemeinsam mit anderen auf einer Demonstration sei. "Ich habe ihnen dann erzählt, dass die Menschen dort laut rufen müssen, weil die Verantwortlichen in hohen Häusern sitzen und sie sonst nicht hören können."

Durch Zufall gefunden

Rania Shahin hat ihren Mann fünf Wochen lang gesucht.Bild: DW

Doch leider ist Tarek weder im Hotel noch im Gefängnis noch hat er sich vor der Sicherheitspolizei irgendwo versteckt. Am 8. März – also fünf Wochen nach seinem Verschwinden – taucht plötzlich ein fremder Mann bei Tareks Eltern auf. Er fragt sie, ob sie jemanden vermissten. "Tareks Eltern erzählten ihm, dass ihr Sohn verschwunden sei", erinnert sich Rania. "Er hat sie und Tareks Bruder dann mit ins Leichenschauhaus mitgenommen."

Auch der Fremde hatte jemanden vermisst – seinen Bruder. Im Leichenschauhaus hatte man ihm Tarek gezeigt. Der Mann war unsicher, denn nach so vielen Wochen im Kühlraum konnte er die Gesichtszüge nicht wirklich erkennen. Und so wusste er nicht, ob es sich um seinen Bruder Ibrahim handelte oder nicht. Ein Angestellter sagt ihm dann, man habe in der Hosentasche einen Ausweis gefunden und darauf stünde der Name Tarek Abdel Latif. Warum man seine Familie nicht verständigt habe, damit sie ihn abholt, fragte der Fremde. Die sei nicht ausfindig zu machen. Dabei stand die Adresse seiner Eltern auf der Rückseite des Ausweises.

Im Leichenschauhaus identifizieren Tareks Eltern ihren Sohn. Aber erst einen Tag später kann sich Tareks Mutter dazu durchringen, Rania zu informieren. "Ich habe ihr nicht geglaubt und ihr gesagt, dass keiner außer mir weiß, wie mein Mann aussieht." Nur sie könne sagen ob es wirklich Tarek sei, Tarek hatte am linken Fuß einen braunen Fleck, den nur seine Frau kannte.

Rania identifiziert ihren Mann anhand dieses braunen Fleckes. Tarek erlitt zwei Kopfschusswunden, erfuhren sie später. Er wurde wohl bereits am 28. Januar tot im Krankenhaus eingeliefert – lag sogar in der Leichenhalle des Krankenhauses, in dem Ranias Vater als Anästhesist arbeitet. Dort war er als "unbekannt" gelistet. Später haben Rania und ihre Angehörigen gehört, dass es Befehle gegeben haben soll, nicht alle Leichen frei zu geben. Die Menschen sollten annehmen, dass die Vermissten in Haft waren, und Angst bekommen, weiterhin auf dem Tahrir-Platz zu demonstrieren.

Tareks Traum erfüllen

Die Straße, in der Rania wohnt, soll eines Tages in "Tarek Abdel Latif Straße" umbenannt werdenBild: DW

Ranias Leben und das ihrer Kinder hat sich seither sehr verändert, erzählt die 34-jährige Frau. "Ich musste mich von so vielen Träumen verabschieden", sagt sie. "Ich wollte als Familie mit meinem Mann verreisen, wir hatten einfach gemeinsam noch so viel vor." Bevor der Umbruch in Ägypten begann, wollte die ganze Familie das Land verlassen. Das will Rania jetzt nicht mehr. Sie will das fortsetzen, wofür ihr Mann und viele andere Demonstranten gestorben sind. Sie betreibt Aufklärung bei den Leuten, die besonders schwer von der Revolution getroffen wurden – dem Bäcker, der Friseurin und dem Hausmeister. Diese Leute, so Rania, würden seither einfach viel weniger Geld verdienen und bereuten bereits die Revolution. "Ich versuche, sie in Gesprächen vom Gegenteil zu überzeugen, damit sie nicht aufgeben. Ich sage ihnen, dass die Profiteure des alten Regimes versuchen, die Revolution so weit hinauszuzögern, dass wir Ägypter aufgeben und sie ihre Macht wieder stärken können."

Die 34-jährige Frau ist tapfer. Sie will ihre Heimat Ägypten nicht aufgeben und hofft, dass die Wahlen einen Wandel vorantreiben. Rania wünscht sich, dass Ägypten ein Vorbild wird, nicht nur in der arabischen Welt. Und mit dem bisschen Deutsch, dass sie an der Schule in Kairo gelernt hat, sagt sie: "Ich wünsche mir, dass die Menschen einmal sagen, dass mein Land so wird wie Ägypten."

Autorin: Diana Hodali
Redaktion: Thomas Latschan

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