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Politik

Tod und Elend im Grenzgebiet

Barbara Wesel Polen
16. November 2021

Eines der ersten Todesopfer von der polnisch-belarussischen Grenze wurde vor Ort beerdigt. Nach wie vor gibt es keine politische Lösung, Tausende von Migranten vor dem nahenden Winter zu retten.

Belarus Grenze zu Polen | Migranten-Lager
Rund 4000 Migranten halten sich zur Zeit im belarussisch-polnischen Grenzgebiet aufBild: Oksana Manchuk/BelTA/dpa/picture alliance

Er wurde nur 19 Jahre alt und nachts in dem winzigen Dorf Bohoniki, nahe dem polnischen Grenzübergang Kuznica, in einer stillen Zeremonie beerdigt. Der Ort, in dem Ahmad al Hasan seinen letzte Ruhe gefunden hat, ist eine historische Kuriosität: Im 17. Jahrhundert siedelten sich dort muslimische Tartaren an. Nur noch eine Handvoll von ihnen lebt heute dort, aber die kleine Gemeinde fühlte sich verpflichtet, Ahmad al Hasan als einen der Ihren zu begraben.

"Er war doch ein Mensch, ein Muslim und noch ein Jugendlicher", meint Ortsvorsteher Maciej Szczesnowicz und man musste ihm "eine würdige Beerdigung" geben. Jetzt liegt sein Grab, Tausende Kilometer von seiner im Bürgerkrieg zerstörten syrischen Heimatstadt Homs, am Ende des muslimischen Friedhofs von Bohoniki. Es ist ein einsamer Platz, mit Blick auf eine Birkenallee und einen ähnlichen Wald, wie der, in dem Ahmad sein Leben verlor.

DW-Reporterin zu Eskalation an Polens Grenze

03:15

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"Es ist eine Tragödie"

Der junge Syrer war aus einem Flüchtlingslager in Jordanien aufgebrochen, weil er wie viele andere auf Social Media gelesen hatte, dass es über Minsk einen leichten Weg in die EU gebe. Er wollte dort seine Ausbildung fortsetzen, eine Chance auf ein Leben haben. Die Regierung Lukaschenko hatte diese Desinformation systematisch verbreitet, mit den inzwischen bekannten Folgen: Tausende machten sich auf den Weg, vor allem aus den Kurdengebieten im Irak, aus Syrien und aus Afghanistan.

Tausende Kilometer von seiner Heimat entfernt - Ahmads Grab in BohonikiBild: Barbara Wesel/DW

Ahmad starb Ende Oktober, zusammen mit einem irakischen Kurden, als die beiden jungen Männer versuchten, den eiskalten Grenzfluss Bug zu durchqueren. Ob belarussische Grenzsoldaten sie an diesen Punkt der Grenze getrieben hatten, ist nicht verifizierbar. Aber zahlreiche Berichte sprechen dafür, dass die Militärs immer wieder versuchen, die Migranten zum Überqueren der Zäune, Waldgebiete und Sümpfe entlang der 400 Kilometer langen Grenze zu zwingen.

In der kleinen Moschee von Bohoniki sprach die Gemeinde in der Nacht ein paar Gebete für Ahmad und gab ihm dann das letzte Geleit. Anwohnerin Eugenia ist verzweifelt über die Situation ihrer Glaubensgenossen an der Grenze: "Es ist furchtbar mit anzusehen, es ist kalt, sie erfrieren da draußen, es ist eine Tragödie. Für mein einfaches Gemüt ist es einfach nur tragisch, ich verstehe nicht, wie man erlauben kann, dass so etwas passiert."

Hilflose Helfer

Bei den Bewohnern der Grenzregion gibt es viel stille Hilfsbereitschaft. Wie in Bohoniki werden überall warme Kleidung und Lebensmittel gesammelt. Aber es gibt nur ein paar Dutzend Helfer von polnischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die verdeckt in der Gegend arbeiten. In die Absperrzone trauen sie sich nicht hinein, denn wer dort der Grenzpolizei in die Hände fällt, wird gleich verhaftet. Sie versorgen in geheimen nächtlichen Aktionen also nur solche Migranten, die ihren Aufenthaltsort per Handy übermitteln können und schon kilometerweit von der Grenze entfernt sind.

Es fehlt ihnen am Nötigsten - doch die Helfer der NGOs kommen kaum zu den Menschen durchBild: Oksana Manchuk/BelTA/dpa/picture alliance

"Das erste was die Grenzschützer machen, ist den Migranten die Handys wegnehmen", erzählt Agata Kolodziej von der Hilfsorganisation "Ocalenie". Sie ist müde und frustriert von ihrer Arbeit, weil die Behörden alles täten, um ihnen Steine in den Weg zu legen. "Es ist sehr emotional", weil sie ständig damit konfrontiert seien, wie wenig sie erreichen könnten.

Illegale Pushbacks

"Manchmal versorgen wir Leute nachts im Wald, und wenn sie dann später auf Grenzschützer treffen, werden sie sofort zurückgeschoben auf die belarussische Seite. Wir treffen Flüchtlinge, die bis zu sechs oder sieben solcher Pushbacks hinter sich haben, und es immer wieder versuchen." Agata hat schon erlebt, wie eine weinende Frau mit kleinen Kindern aus Polen zurück in den Wald auf der Seite von Belarus verfrachtet wurde. Die Grenzwächter machten auch vor einem Herzkranken nicht halt, den die Helfer ins örtliche Krankenhaus gebracht hatten. "In der nächsten Nacht bekamen wir von ihm eine Handybotschaft von der anderen Seite", berichtet Agata. Ihr Einsatz war vergebens.

Trotz Pushbacks - immer wieder versuchen die Migranten die belarussisch-polnische Grenze zu überquerenBild: Oksana Manchuk/BelTA/REUTERS

"Alle diese Pushbacks sind illegal, nach internationalem Recht und nach EU-Recht", betont Agata, aber die Regierung in Warschau habe jüngst eine Verordnung erlassen, wonach sie angeblich rechtmäßig seien. Und die Europäische Union würde sich auch nicht darum kümmern, dass an dieser Grenze tägliche Dutzende Male das Recht gebrochen werde. In der Nacht vom Montag auf Dienstag vermeldete die polnische Grenzpolizei rund 200 Versuche von Migranten, die Grenze zu überwinden und 29 sogenannte "Rückführungen von polnischem Boden".

Ein Propagandakrieg gegen die Migranten

In den polnischen Medien werden die Migranten als Gefährdung der nationalen Sicherheit dargestellt, als illegale Grenzverletzer und Wirtschaftsflüchtlinge, die in Polen und in Europa nichts verloren hätten. Der öffentliche Fernsehsender TVP berichtete etwa am Dienstag: "Schockierende Bilder vom Slum-Lager der Flüchtlinge an der Grenze, wo Migranten ihre Kinder benutzen, um Druck auf Polen auszuüben. Sie atmen Zigarettenrauch in die Gesichter der Kinder, damit sie weinen." Die Gazeta Polska schreibt: "Hilfsorganisationen an der Grenze sind eine hybride Waffe von Putin. Sie werden gegen Polen eingesetzt und schädigen die Sicherheit des Landes, indem sie den Bau eines Zauns blockieren." Die Regierung in Warschau hat gerade angekündigt, sie werde im Dezember mit dem Bau von 180 Kilometern Grenzzaun zu Belarus beginnen.

Die Aufnahme einer belarussischen Drohne zeigt Zusammenstöße zwischen Migranten und polnischen GrenzsoldatenBild: Leonid Shcheglov/BelTA/AP/dpa/picture alliance

Oder wie Krzysztof Bosak von der rechtsextremen Partei "Konfedericja" schreibt: "Ich würde den Migranten keine warme Decke geben, ich habe zwei Brüder gesehen, wie sie ihre eigene Mutter schlugen, in Gegenwart eines Arztes." Man habe es hier mit feindlichen Menschen zu tun, die nicht nach Europa kämen, weil sie zu Hause verfolgt werden, sondern weil sie nach Deutschland wollten.

Geteilte öffentliche Meinung in Polen

Durchgehend werden in der rechten Presse Polens die Migranten an der Grenze nicht als hilfsbedürftige Menschen, sondern als fremde Störenfriede dargestellt. Und die Regierung in Warschau tut alles, um dieses Bild zu bekräftigen und lobt demgegenüber die "heroischen Grenzpolizisten", die in der Kälte ihren schweren Dienst für das Vaterland verrichten würden.

Die öffentliche Meinung in Polen wiederum scheint merkwürdig gespalten. Eine jüngste Umfrage zeigte, dass zwar mehr als 50 Prozent der Befragten Pushbacks für richtig halten, andererseits über 60 Prozent der Polen meinen, Migranten sollten einen Anspruch auf ein Asylverfahren haben. Martin Duma, Chef des Umfrageinstituts "Ibris", erklärte dazu: "Wir wollen eine Entschuldigung haben und uns nicht als grausam und böse betrachten." Was umso leichter fällt, als aus der abgeriegelten Grenzregion keine objektive Berichterstattung möglich ist.

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