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PolitikBrasilien

Toledo - die durchgeimpfte Stadt

28. Oktober 2021

In Brasilien wütet COVID-19 so stark wie in kaum einem anderen Land der Welt. Aber was, wenn die gesamte Bevölkerung immunisiert wäre? Pfizer will das wissen - und startet ein Experiment im Südwesten des Landes.

Brasilien Pfizer-Impfstadt Toledo, Brasilien
Bild: Stadtverwaltung Toledo, Brasilien

Vielleicht ist Brasilien weltweit das Land, das beim Thema Corona-Impfungen die größten Gegensätze aushalten muss. Da ist auf der einen Seite ein Präsident, der jüngst einen Zusammenhang zwischen der Impfung und der Übertragung von Aids herstellt und dessen Video wegen Falschinformation daraufhin von Facebook gelöscht wird. Und andererseits eine Bevölkerung, die sich angesichts von mehr als 600.000 Corona-Toten im Land unter allen Umständen impfen lassen möchte, 94 Prozent sind es laut einer aktuellen Umfrage des Institutes Datafolha.

Ausgerechnet im Land des Corona-Verharmlosers Jair Bolsonaro also, für den das Virus nach wie vor nichts anderes als eine "kleine Grippe" ist, beginnt in den nächsten Tagen in der 143.000-Einwohner Stadt Toledo im Südwesten Brasiliens ein Feldversuch, oder wie der Pharmakonzern Pfizer es ausdrückt, die einjährige Langzeit-Beobachtung eines "realen Szenarios". Nämlich die Antwort auf die Frage, was eigentlich in einer Stadt passiert, wenn alle Personen mit dem Vakzin von BioNTech/Pfizer geimpft sind.

Ein Selfie mit dem Präsidenten und Corona-Verharmloser: Jair Bolsonaro beim Besuch in einer indigenen GemeindeBild: O Globo/ZUMAPRESS.com/picture alliance

"Wir haben mittlerweile 99 Prozent der Einwohner über zwölf Jahre einmal geimpft, 65 Prozent der Menschen hier haben bereits eine zweite Dosis erhalten, plus die Booster-Impfungen. Die Bevölkerung hat sich von Anfang an streng an die Abstandsregeln und das Tragen einer Maske gehalten und sehr positiv auf diese Studie reagiert", sagt Beto Lunitti, der Bürgermeister von Toledo. Und fährt mit einem Lachen fort: "Jetzt schaut die ganze Welt auf uns."

Toledo sticht Konkurrenten für die Studie aus

Lunitti weiß selbst am besten, was das Virus anrichten kann. Ende März erkrankte er an COVID-19, wegen seiner Atemnot erhielt er in der Klinik zusätzlichen Sauerstoff. Der 58-Jährige ließ seine Diagnose vom Krankenhaus online stellen, als Warnung an die Bevölkerung, die Pandemie ja nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. "Wir hier in Toledo glauben an die Wissenschaft, und ich muss als Verantwortlicher für fast 150.000 Menschen mit meinem Verhalten ganz besonders als Beispiel dienen", sagt Lunitti, "unser Präsident dagegen ist bei einem so ernsten Problem wie diesem kein Vorbild!"

"Die Welt darf nicht denken, wir alle in Brasilien würden die Position des Präsidenten teilen" - Beto LunittiBild: Stadtverwaltung Toledo, Brasilien

Für die Impfstoffforschung ist Toledo wie ein Jackpot-Gewinn: eine überschaubare Stadt, nicht zu groß und nicht zu klein, dazu Gesundheitsbehörden, Krankenhaus und Universität, welche die Studie wissenschaftlich begleiten und keine Impfskeptiker in der Bevölkerung. Die Agrar-Metropole im westlichen Bundesstaat Paraná setzte sich am Ende gegen mehrere Mitbewerber durch. "Wir haben den Höchstwert 100 von den Aufsichtsbehörden bekommen, für die Einhaltung der Impfpläne von Bund, Ländern und Gemeinden", sagt der Bürgermeister stolz.

Gibt es Varianten, wie lange hält der Impfschutz?

Gabriela Kucharski ist die Frau, die den besten Überblick über die Corona-Pandemie beim künftigen Impf-Champion Toledo hat, die gelernte Kinderärztin ist seit Januar die lokale Gesundheitsministerin. "Durch den Fortschritt bei den Impfungen sind sowohl die Infektionen als auch die Krankenhauseinweisungen und die Todesfälle in den letzten zwei Monaten deutlich zurückgegangen", sagt sie, "sechs Patienten liegen derzeit auf unseren Intensivstationen, und wir verzeichnen zwei Todesfälle pro Woche".

"Die Menschen in Toledo haben den starken Wunsch, zu einer neuen Normalität zurückzukehren" - Gabriela KucharskiBild: Ricardo Morante/Stadtverwaltung Toledo, Brasilien

Kucharski und ihr Team wollen die Zahlen noch weiter drücken, derzeit läuft die Impfkampagne für die Jugendlichen über zwölf Jahren auf vollen Touren. Die Corona-Neuinfektionen seien in der Altersgruppe bis 19 Jahre innerhalb eines Monats von 49 auf 7 geschrumpft, erzählt die Ärztin. Wurde zu Beginn der Pandemie in Toledo noch mit Sinovac, AstraZeneca und Johnson & Johnson geimpft, spritzen die Ärzte jetzt komplett mit BioNTech/Pfizer.

"Mit dieser Studie einer zu 100 Prozent geimpften Bevölkerung werden wir in Echtzeit Ergebnisse erhalten, was Hospitalisierungen, Todesfälle und insbesondere das Auftreten von Varianten angeht. Wir wollen verstehen, wie sich das Virus in einer immunisierten Stadt verhält, wie lange zum Beispiel der Impfschutz anhält", sagt Kucharski. Abstandsregeln und Maskenpflicht sollen dabei weiterhin zunächst Vorschrift sein.

Toledo Fortsetzung des "Projekts S" von Serrana

Dabei ist Toledo eigentlich nur die Kopie eines Impfstoff-Experiments, das Original fand Anfang des Jahres im knapp 900 Kilometer nordöstlich gelegenen Serrana statt. Auch das 45.000-Einwohner-Städtchen in der Nähe von Sao Paulo wurde komplett immunisiert, mit zwei entscheidenden Unterschieden: geimpft wurden nur alle Erwachsenen, und dies mit dem chinesischen Impfstoff CoronaVac.

"In Serrana mussten die Menschen weiterhin eine Maske tragen und Menschenaufläufe vermeiden" - Marcos BorgesBild: Privat

Niemand als Marcos Borges weiß besser, wie das sogenannte "Projekt S" von Serrana ausgegangen ist, der Arzt ist der Direktor des staatlichen Krankenhauses der Stadt. Die Statistiken seien ermutigend, sagt er: "Die Zahl der symptomatischen COVID-19-Fälle ist um 80 Prozent zurückgegangen, die der Krankenhauseinweisungen um 86 Prozent und die der Todesfälle sogar um 95 Prozent."

Schutz auch für die Ungeimpften

Die Forschungsergebnisse zeigten auch, welche Auswirkungen die Impfung einer ganzen Stadt auf die weiterhin ungeimpfte Bevölkerung hat, wie geschützt also in Serrana Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren waren. "Die Neuinfektionen gingen auch bei der ungeimpften Bevölkerungsgruppe deutlich zurück, wir haben einen klaren Rückgang der Viruszirkulation festgestellt", sagt Borges.

Am Ende könnte die größte Herausforderung für Toledo in den nächsten zwölf Monaten nicht einmal die Beobachtung, Überwachung und Nachverfolgung des Virus in der Stadt selbst sein, sondern zu verhindern, dass die Pandemie von außen nach Toledo hineingetragen wird. In Serrana wurden die Zufahrtsstraßen streng kontrolliert, Besucher mussten ihre Daten hinterlassen und durften sich nur eine limitierte Zeit in der Stadt aufhalten. Toledo ist gewarnt: Die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen liegt in Brasilien gerade bei 13.424. Tendenz steigend.