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Kunst

Tom of Finland: Urvater der schwulen Muskelmänner

Marlon Jungjohann
14. Mai 2023

Leder, Lust und Liebesspiel: Tom of Finlands Skizzen entfesseln seit einem halben Jahrhundert immer wieder den queeren Freiheitskampf. Auch jetzt sind sie hochaktuell.

Drei Biker - gezeichnet von Tom of Finland
Drei Biker - gezeichnet von Tom of FinlandBild: Tom of Finland Foundation

Amerikain den 1960er-Jahren: Als die noch junge Schwulenbewegung an Fahrt aufnimmt, bringt ein finnischer Illustrator das neue Selbstbewusstsein der Community auf den Punkt. Touko Laaksonens pornografische Zeichnungen hypermännlicher Biker, Cowboys und Matrosen streifen das uralte Vorurteil vom verweichlichten Schöngeist ab. Die abgebildeten Super-Kerle sind extrem maskulin, stellen ihre gestählten Körper in engen Leder-Outfits zur Schau und zelebrieren den Sex mit anderen Männern.

Tom Finland im Jahr 1984Bild: Jack Shear

In der schwulen Szene bricht Laaksonen, der sich in Anlehnung an seine europäische Heimat Tom of Finland nennt, eine ästhetische Revolution vom Zaun: "Als er mit dem Zeichnen begann, gab es für schwule Männer keine richtigen Vorbilder", erklärt Richard Villani, Kreativ-Direktor der "Tom of Tinland Foundation", im DW-Gespräch. "Mehr als alles andere wollte Tom queeren Männern eine positive Vorstellung ihrer Sexualität vermitteln!" Nach den Stonewall-Aufständen von 1969 treffen die Muskelprotz-Skizzen einen Nerv - sie liefern endlich die lange herbeigesehnten Idole. Liebe zwischen Männern, verheißen die Bilder, ist nicht abwegig, sondern völlig in Ordnung.

Richard Villani kam für das Festival von Los Angeles nach Berlin Bild: Johnny Abbate

Held der "Leder-Szene"

Auch mehr als 30 Jahre nach seinem Tod bannt Toms Kampfgeist die Menschen. Pilgerziel seiner weltweiten Fangemeinde ist ab dem 12. Mai das ehemalige Frauengefängnis in Berlin-Lichterfelde. Künstlerinnen und Künstler, DJs, Galerien sowie Förderinnen und Förderer lassen dort beim 29. "Tom of Finland Art & Culture Festival" das Feuer des schwulen Pioniers wieder aufleuchten. Gerade den sexpositiven Botschaften des Zeichners wohnt etwas Magisches inne, weiß Villani, der die dreitägige Feier organisiert: "Es geht um Freude, Spaß und Lachen. Alle Figuren in seinen Bildern haben eine gute Zeit miteinander."

Skizze Tom of FinlandBild: Tom of Finland Foundation, Los Angeles

Ab seinen Fünfzigern kann Tom von den Erotik-Bildern leben, reist zwischen Europa und den USA hin und her und lebt sogar bis zu seinem Tod 1991 halbjährlich in Los Angeles. Auf beiden Kontinenten hinterlässt er Spuren und stößt ganze Subkulturen an. "Er war der Vater des Leders", so Villani über den Künstler, der als junger Offizier im Zweiten Weltkrieg zunächst eine Vorliebe für Uniformen entwickelt. Die Nazi-Ideologie verabscheute er zwar, aber die Uniformen der Wehrmacht zogen ihn an. "Dann fiel ihm auf, wie schön Leder in seinen Skizzen aussah. Und plötzlich malte er diese Lederuniformen und -stiefel. Er malte, er lebte und er genoss das Leder." Bis heute sind "Leather Lovers" und muskulöse "Hunks" aus der Szene nicht wegzudenken. In einschlägigen Bars, Fetisch-Kreisen oder auf Pride-Märschen halten sie die Fantasien des Finnen lebendig. 

Revolution oder toxischer Schönheitswahn?

Toms Zeichnungen zeugen von Kampf um ein gleichberechtigtes Leben. Seit jeher rühre der kernige Körperkult daher, dass schwule Männer das Vorurteil ihrer vermeintlichen Weiblichkeit kompensieren müssen, sagt Christopher Conner. Der Soziologe erforscht an der University of Missouri, Columbia Schönheitsideale innerhalb der amerikanischen LGBTIQ+. Er berichtet gegenüber DW: "Einige reagieren auf diese Vorurteile, indem sie die männlichsten Typen überhaupt werden wollen."

Oftmals ist es jedoch gänzlich unmöglich, solchen Idealen zu entsprechen. Viele Faktoren, angefangen beim eigenen sozialen Hintergrund, sind laut Conner entscheidend: "Man muss sich das entsprechende Training im Fitnessstudio leisten können und zusätzlich die richtige Ernährung. Außerdem muss man wissen, mithilfe welcher Übungen man die richtigen Muskeln aufbaut, denn Ausdauertraining allein reicht nicht für diese bestimmte Figur." Viele schwule Männer litten unter einer krankhaften Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Diese Unzufriedenheit und ein mit ihr verbundenes schlechtes Selbstbild, so Conner, "sind das Ergebnis einer Gesellschaft, die uns als minderwertig behandelt."

Das Kiasma-Museum erkennt in Toms Kunst finnisches KulturgutBild: Tom of Finland Foundation/Finnish National Gallery/Pirje Mykkäne

Auch wenn Tom zweifelsohne seiner eigenen Community großartige, befreiende Vorbilder schenkte: Spiegeln seine Zeichnungen möglicherweise ein toxisches Schönheitsstreben wider? Diese Problematik bedürfe einer differenzierten Sichtweise, schätzt João Laia im DW-Interview ein. Als Chef-Kurator des Kiasma-Museums im finnischen Helsinki betreut Laia aktuell die bislang größte Retrospektive auf Toms Kunst. "Es ist wichtig, Tom auf komplexe Weise zu interpretieren und sich der Grenzen innerhalb seiner Kunst bewusst zu sein", stellt er klar. "Aber man muss hinter dieser Kunst auch das revolutionäre Potenzial zur Zeit ihrer Schöpfung anerkennen." Toms Ziel sei es gewesen, ein Gegenbild zum klassischen Vorurteil vom femininen schwulen Mann zu schaffen. "Seine Bilder ermutigten Schwule, denen klar wurde, dass es auch diese andere Möglichkeit gab, sie darzustellen." Vor allen Dingen die Spätwerke seien reich an positiven Botschaften über den Körper: "In den 1980ern und 1990ern machte die HIV-Pandemie viele Menschen so dünn und schwach, dass Darstellungen gesunder und muskulöser Männer bestärkend wirkten." Dem Stigma des AIDS-kranken Homosexuellen habe Tom auf künstlerische Weise getrotzt.

Tom of Finland: Immer noch ein Vorbild

Auch heutzutage schöpften queere Communities wieder Kraft aus den ikonischen Werken, ist Laia sicher. "Angesichts eines Wiederaufflammens konservativer Haltungen und Narrative ist es wichtig hervorzuheben, wie Tom das Streben nach Freiheit, Vergnügen und Munterkeit von Identitäten außerhalb der Norm unterstützt hat."

Soziologe Conner sieht das ähnlich. Lange habe er selbst den Hype um die durchtrainierten Ideal-Darstellungen kritisch betrachtet. Nun jedoch, da einzelne US-Staaten vermehrt Gesetze gegen LGBTIQ+-Menschen verabschieden, "denke ich ganz anders darüber. Die Bilder Tom of Finlands sind sehr sexy und promiskuitiv. Sie zeigen, dass es okay ist, das eigene Verlangen, die eigenen Gefühle auszudrücken."

Christoper Conner hofft, dass die Menschen ein besseres Selbstbild entwickeln.Bild: Privat

Villani, Conner und Laia sind sich einig darin, dass Toms Werke, die sich in einem fast 60 Jahre währenden Schaffensprozess stets wandeln, Antworten auf ihren jeweiligen und sehr spezifischen gesellschaftlichen Zeitgeist darstellen. An Strahlkraft hat es ihnen nie gemangelt. Von der schwulen Befreiungsbewegung über die AIDS-Pandemie bis hin zum Widerstand gegen aktuelle Queerfeindlichkeit – Tom bleibt eine Galionsfigur, deren Erbe es immer wieder neu zu deuten gilt.

Das ist auch ganz im Sinne Villanis und der Tom of Finland Foundation: "Mein Ziel mit dem Art and Culture Festival ist es, den Weg für eine neue Generation queerer und erotischer Künstlerinnen und Künstler zu ebnen und dabei neue Städte und Communities auf der ganzen Welt einzubinden."