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Politik

"Sprachlos, wie tatenlos Europa auftritt"

Daniel Derya Bellut
10. Oktober 2019

Ankara hat die Syrien-Offensive begonnen. Die kurdische Region droht im Chaos zu versinken. Ziel der Operation sei es, Kurden zu vertreiben, sagt der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Ali Ertan Toprak im DW-Interview.

Ali Toprak
Bild: privat

Die türkischen Streitkräfte haben am Mittwoch ihre Offensive gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Nordsyrien gestartet. Nach intensiven Artillerie- und Luftangriffen auf nordsyrische Städte entlang der Grenze drang die türkische Armee mit Bodentruppen über die Grenze vor. Die türkische Militäroffensive im Norden Syriens stößt auf scharfe Kritik. Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschlands Ali Ertan Toprak bewertet im DW-Interview die Entwicklungen im Norden Syriens.

DW: Die dritte Militäroperation in Nordsyrien hat begonnen. Sie sei vor allem gegen kurdische Milizen wie die YPG gerichtet. Terroristen werde man im syrisch-türkischen Grenzstreifen "auslöschen", heißt es von der türkischen Regierung. Nehmen Sie Ankara dieses erklärte Ziel ab?

Ali Ertan Toprak: Der türkische Präsident Erdogan hat schon immer alle Kurden als Terroristen dargestellt. Die nordsyrischen Kurden haben nie eine Gefahr für die Sicherheit der Türkei dargestellt - nie haben sie die Türkei attackiert; sie waren viel eher damit beschäftigt, sich selbst zu verteidigen. Dass es ihm bei dem Militäreinsatz um Terrorbekämpfung geht, ist nur ein Vorwand, um einen völkerrechtswidrigen Krieg zu rechtfertigen.

Wenn es Ankara bei der Operation nicht um Terrorbekämpfung geht - welche Interessen verfolgt die türkischen Regierung dann?

In erster Linie geht es darum, zu verhindern, dass an der syrisch-türkischen Grenze ein kurdischer Korridor entsteht, aus dem ein kurdischer Staat hervorgehen könnte. Erdogans langfristiges Ziel ist es, die nordsyrischen Gebiete zu annektieren. Es ist der Wahnsinn, mit was für einer neo-osmanischen Rhetorik da gerade gesprochen wird: In manchen türkischen Medien wurde gestern noch diskutiert, ob man gleich bis nach Jerusalem weiter marschieren sollte. Während türkische Bodentruppen die Grenzen überquerten, wurden die Soldaten mit osmanischer Janitscharenmusik bespielt. Was ist das für eine absurde Inszenierung? Mit der Operation werden Großmacht-Phantasien der Nationalisten befriedigt. Es ist wirklich eine Schande. Man darf nicht vergessen: Die Türkei ist ein EU-Beitrittskandidat und NATO-Mitglied.

Tobrak: Erdogans Militäroperation eine "absurde Inszenierung"Bild: picture-alliance/Photoshot

Es gibt natürlich auch eine innenpolitische Dimension: Erdogan steht unter Druck. Er möchte mit einem Krieg die Reihen hinter sich schließen - sogar die Opposition muss sich hinter ihm positionieren, denn beim Kriegseinsatz erwartet die türkische Öffentlichkeit, dass alle Parteien geschlossen die türkischen Streitkräfte unterstützen.

Der Militäroperation ist der Abzug von US-Soldaten aus Nordsyrien vorausgegangen. Viele Kritiker vertreten die Meinung, dass der US-amerikanische Präsident Donald Trump auf diese Weise den Einmarsch der Türkei ebnete. Fühlen sich die Kurden nun im Stich gelassen?

Natürlich fühlen sich nordsyrische Kurden alleine gelassen - auf der ganzen Welt fühlen sich Kurden alleine gelassen. Unsere Verwandten und Freunde in der Region sind niedergeschlagen - die Enttäuschung ist sehr groß. Denn die Kurden haben im Syrischen Bürgerkrieg nicht nur für sich selbst gekämpft. Sie haben für die Sicherheit des Westens gekämpft und sie standen für westliche Werte ein. Eines ist sicher: Ohne die Unterstützung der Kurden hätte man den IS nicht besiegt. Die kurdischen Milizen in Syrien und im Irak waren quasi die Bodentruppen des Westens.

In der Region soll nach Beendigung der Militäroperation eine "Friedenszone" entstehen. In dieser nordsyrischen Pufferzone sollen syrische Flüchtlinge angesiedelt werden. Was halten Sie von diesem Plan? 

Vor der Ansiedlung wird eine ethnische Säuberung stattfinden. Ziel ist es von dort die Kurden zu vertreiben. Das ist ein Menschheitsverbrechen und verstößt gegen das Völkerrecht. Bereits die Militäroffensive auf Afrin im Januar 2018 ging mit einer ethnischen Säuberung und Vertreibung einher - gestern sind die türkischen Streitkräfte also auch in die anderen kurdischen Kantone einmarschiert. Die ganze Welt hat das einfach so hingenommen. Man sollte sich an den Balkan-Krieg zurück erinnern, damals ist ein Krieg losgebrochen und die NATO intervenierte, als ethnische Säuberungen durchgeführt wurden.

Nach Beginn der Militäroperation - Tausende Kurden auf der FluchtBild: Reuters/R. Said

Heißt das, dass Sie sich mehr Solidarität oder sogar eine Einmischung des Westens wünschen?

Ja. Wenn die Welt weiter zuschaut, wird Erdogan seine Expansionspolitik endlos fortsetzen. Alle hauen immer auf Trump, aber Deutschland und Europa tragen eine Mitschuld. Der EU-Türkei-Deal hat nichts bewirkt. Es ist absurd, die türkische Regierung mit Milliarden an Steuergeldern zu unterstützen, obwohl sie nun mit dieser Operation neue Fluchtbewegungen verursacht. Ich bin sprachlos, wie tatenlos und schwach Europa gegen Erdogan auftritt. Spätestens diese Woche hätten die Außenminister der EU-Länder nach Ankara fliegen müssen. Die NATO-Mitgliedschaft müsste sofort in Frage gestellt werden. Der türkische Präsident versteht nur klare Botschaften - ihm müssen die Konsequenzen klargemacht werden. Diese "Appeasement-Politik" muss ein Ende nehmen, wir benötigen eine aktive Friedenspolitik. Die Ereignisse in Nordsyrien betreffen uns alle, es werden neue Flüchtlinge kommen und mit ihnen auch Islamisten.

Es ist die Rede von zivilen Opfern und tausenden Menschen, die aufgrund der Militäroperation auf der Flucht sind. Steht Ihre Gemeinde im Kontakt mit den Betroffenen vor Ort?

Viele Mitglieder unserer Gemeinde haben Verwandte in der Region. Sie haben uns von den ersten Luftangriffen berichtet. Aber irgendwann sind die Telefonverbindungen abgebrochen - die türkischen Behörden habe sie gekappt. Ich bin mir sicher, dass es eine humanitäre Katastrophe geben wird. Tausende Menschen haben bereits ihre Sachen gepackt und müssen flüchten. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand. Aber eines macht mir noch Hoffnung: Wir haben so viele freundliche Schreiben erhalten: Wir spüren überall Solidarität in Deutschland, viele stehen uns zur Seite.

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