Lange hieß es bei der Tour de France: 22 Teams fahren durch Frankreich und am Ende gewinnt Ineos. Doch nun hat das Team von Egan Bernal mit Jumbo-Visma ebenbürtige Gegner. Das Duell der Teams verspricht Spektakel.
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Eine Unachtsamkeit kann alles ändern. Eine leicht abfallende Landstraße in den Savoier Alpen. Das Peloton des Critérium du Dauphiné rollt zur Halbzeit der vierten Etappe zügig, aber entspannt bergab. Die Straße ist breit, gut asphaltiert und führt geradeaus. Eigentlich kein sonderlich gefährlicher Moment. Doch wie aus dem Nichts liegt Primoz Roglic am Boden, hält sich den Arm. Der Slowene ist nach einem Fahrfehler hart auf der Straße aufgeschlagen. Er kann die Etappe schließlich unter Schmerzen beenden, tritt am nächsten Tag aber nicht mehr an, sondern gibt das Rennen auf. Die Episode aus dem wichtigsten Vorbereitungsrennen vor der großen Schleife durch Frankreich hat womöglich weitreichende Folgen für das größte Radrennen der Welt. Denn plötzlich steht kurz vor der 107. Tour de France (29. August - 20. September) ein Fragezeichen hinter dem Top-Favoriten.
Bis zu jenem Sturz bei der Dauphiné-Rundfahrt schien Roglic nahezu unschlagbar zu sein. In neun Renntagen seit dem Wiederbeginn der durch das Coronavirus unterbrochenen Radsaison feierte Roglic fünf Siege. Wichtiger noch: Er dominierte seine direkten Konkurrenten im Kampf um das Gelbe Trikot. Selbst der kolumbianische Vorjahressieger Egan Bernal hatte mehrfach das Nachsehen, konnte Roglics finalen Attacken am Berg nichts entgegensetzen, auch weil dessen aufstrebende Mannschaft Jumbo-Visma ein infernalisches Tempo anschlug.
Doch nun zweifelt Roglic, der in seinem ersten Sportlerleben Skispringer war, selbst an seiner Form: "Ich habe ehrlich gesagt gedacht, dass ich mich jetzt schon besser fühlen würde", schrieb der 30-Jährige wenige Tage vor dem Tour-Start auf Instagram. Zu allem Überfluss fällt auch einer seiner wichtigsten Helfer, der Vorjahresdritte Steven Kruijswijk aus den Niederlanden, nach einem Sturz aus. Und dennoch stellt Jumbo-Visma das vielleicht stärkste Team der Tour.
Egan Bernal gibt Favoritenrolle ab
Zum Team gehört auch der Deutsche Tony Martin. "Ich bin der Arbeiter, der Mann fürs Grobe", beschreibt der vierfache Zeitfahr-Weltmeister im DW-Interview seine unauffällige, aber wichtige Rolle im gelb-schwarzen Jumbo-Visma-Ensemble. Und das fordert nun die britischen Platzhirschen von Ineos Grenadiers, wie das Team seit kurzem heißt, heraus.
Egan Bernal, der das letzte Vorbereitungsrennen wegen Rückenproblemen aufgeben musste, hat Respekt. "Jumbo-Visma ist aktuell das stärkste Team", ließ er kürzlich wissen, vielleicht auch, weil er die Favoritenrolle gerne los wäre, um etwas befreiter fahren zu können. Lange war darüber spekuliert worden, dass Ineos mit einer Dreifachspitze nach Gelb greifen werde, doch die früheren Tour-Sieger Chris Froome und Gerraint Thomas wurde aufgrund von Formschwäche aussortiert. Nun sind Giro-Sieger Richard Carapaz aus Ecuador und der talentierte Russe Pawel Siwakow die wichtigsten Adjutanten von Bernal.
Das Duell der beiden Teams verspricht insbesondere in den Bergen, aber eventuell auch auf der Windkante Spektakel. Ex-Profi Jens Voigt, der die Tour als Kommentator für den amerikanischen Sender CBS begleitet, sieht die Wachablösung nahen: "Sie können es schaffen, Ineos als Super-Power abzulösen und sowohl die Mannschafts- als auch die Einzelwertung zu gewinnen", sagte er Sport1 mit Blick auf das Team Jumbo-Visma.
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Klassement-Fahrer von Beginn an gefordert
Alle anderen Kandidaten auf das Podium dürften es schwer haben. Das deutsche Kletter-Ass Emanuel Buchmann hat sich mit seiner stillen Art und viel Ehrgeiz nach oben gearbeitet, wurde aber genau wie Roglic von einem schweren Sturz bei der Dauphiné ausgebremst. Das Krankenhaus musste er anschließend im Rollstuhl verlassen, zu groß waren die Schmerzen. Dennoch startet der Kapitän des deutschen Bora-Rennstalls am Samstag in Nizza und will Platz vier aus dem Vorjahr bestätigen. Inwieweit das mit den Sturzverletzungen möglich ist, ist fraglich.
Denn viel Eingewöhnungszeit bleibt Buchmann nicht. Die Tour beginnt anders als üblich nicht mit einigen Flachetappen, sondern schon an Tag zwei mit einem anspruchsvollen Ritt über die Seealpen bei Nizza. Bereits an Tag vier wartet die erste Bergankunft. Die Favoriten auf den Gesamtsieg werden sich also schon in den ersten Tagen vorne zeigen müssen. Dafür darf man den Mittelteil in den Pyrenäen getrost als entschärft bezeichnen, ehe die dritte und letzte Tourwoche folgt, die es in sich hat. Drei schwere Alpenetappen und ein Einzelzeitfahren mit Bergankunft an der Planche des Belles Filles in den Vogesen werden über Sieg und Niederlage entscheiden.
Lässt Pinot die Franzosen nach 35 Jahren jubeln?
Und dabei wird ein Franzose von einem Heimsieg träumen: Thibaut Pinot stammt aus den Vogesen, lebt dort mit Schafen, Kühen und Eseln auf einem kleinen Hof und kennt jeden Anstieg. Der 30-Jährige gilt als derjenige, der die seit 1985 dauernde Durststrecke der Gastgeber beenden kann. Vor 35 Jahren war Bernard Hinault der letzte Franzose, dem der Gesamtsieg gelang. Im Vorjahr war Pinot teilweise der stärkste Fahrer am Berg, musste dann aber mit Knieproblemen und unter Tränen aufgeben. In diesem Jahr geht der Groupama-FDJ-Profi als einziger Top-Favorit ohne Blessuren ins Rennen - das will schon etwas heißen.
Dahinter bringt sich - neben Vorjahressieger Bernal - eine Reihe weiterer Kolumbianer in Stellung, die dank viel Training in der heimischen Höhe am Berg zu beachten sind: Dauphiné-Sieger Daniel Martinez, der wiedererstarkte Nairo Quintana und der junge Bergfloh Sergio Higuita. Der 21-jährige Slowene Tadej Pogacar sowie der erfahrene Spanier Mikel Landa haben Außenseiterchancen, während der französische Publikumsliebling Julian Alaphilippe sein Kunststück von 14 Tagen in Gelb kaum wiederholen können wird.
Angesichts der eher bergigen Parcours werden es die Sprinter schwerer haben, sich zu präsentieren. Die vielen Höhenmeter sprechen einmal mehr für die Chancen von Peter Sagan auf das Grüne Trikot. Der vielseitige Slowake aus dem deutschen Bora-Hansgrohe-Rennstall peilt dank seiner Ausflüge in diverse Ausreißergruppen das achte Trikot des Punktbesten an - es wäre ein einsamer Rekord in 117 Jahren Tour-Geschichte. Auf den Zielgeraden werden der Australier Caleb Ewan, der Ire Sam Bennett, der frischgebackene Europameister Giacomo Nizzolo aus Italien und vielleicht auch wieder der deutsche Altmeister André Greipel Sagan herausfordern.
Wettrennen gegen das Virus
Das gilt zumindest so lange, wie die Tour tatsächlich rollt. Denn die Gefahr fährt mit. Angesichts steigender Corona-Zahlen in Frankreich und mehrerer positiver bzw. falsch-positiver Corona-Tests im Peloton ist längst nicht ausgemacht, dass der Tour-Tross sein Ziel auf den Pariser Champs-Elysées erreichen wird. Zwei positive Corona-Tests innerhalb einer Mannschaft bedeuten den sofortigen Ausschluss des gesamten Teams. Auch in dieser Hinsicht kann also eine kleine Unachtsamkeit alles verändern.
Ein Blick in die Geschichte der Tour de France:
Momente der Tour de France
Sie ist weit mehr als das größte Radrennen der Welt: Die Tour de France ist ein Nationalheiligtum Frankreichs und versammelt jährlich 12 Millionen Zuschauer am Streckenrand. Die Dramen der Landstraße sind legendär.
Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Ena
Rekordvorsprung trotz Rotwein
Maurice Garin (2.v.l.) ist gelernter Schornsteinfeger. Der Franzose legt viel Wert auf eine ausgewogene Ernährung, trinkt andererseits aber auch auf dem Rennrad Rotwein und ist Kettenraucher. Trotzdem gewinnt er 1903 die Premiere der Tour de France - mit dem Rekordvorsprung von fast drei Stunden.
Bild: STR/AFP/Getty Images
"Ihr seid Mörder!"
1910 werden die Fahrer erstmals über den Pyrenäen-Pass am Tourmalet geschickt, damals nicht viel mehr als ein Bergpfad. "Ihr seid Mörder, ja Mörder!", schleudert der Tages- und später auch Gesamtsieger Octave Lapize den Tour-Veranstaltern entgegen. Der 2115 Meter hohe Col du Tourmalet ist heute der am häufigsten gefahrene Pass der Tour und auf seinem Gipfel erinnert eine Statue an Lapize.
Bild: picture-alliance/Leemage
Selbst ist der Radfahrer
Wer auf solchen Pisten fährt, muss immer mit einem Platten rechnen. In den ersten Jahrzehnten der Tour-Geschichte reparieren die Fahrer ihre Räder selbst und tragen deshalb (wie hier 1948) auch einen Ersatzschlauch um die Schultern. Heute gehören Mechaniker in Begleitfahrzeugen wie selbstverständlich zum Tour-Tross.
Bild: picture-alliance/dpa
Der Meister der Meister
Fausto Coppi zählt zu den populärsten Radstars aller Zeiten. Seine Fans rufen den Italiener "Il Campionissimo", den Meister der Meister. 1949 und 1952 triumphiert Coppi nicht nur bei der Tour, sondern auch beim Giro d'Italia. 1952 stehen erstmals Bergankünfte auf dem Plan der Tour de France - gleich drei. Coppi gewinnt sie alle.
Bild: picture-alliance/dpa
Der Meister der Herzen
1964 liefern sich die beiden Franzosen Jacques Anquetil (l.) und Raymond Poulidor eines der spannendsten Duelle der Tour-Geschichte. Anquetil wehrt alle Angriffe Poulidors ab und holt sich seinen fünften Tour-Sieg. Die Fans lieben auch den unterlegenen "Poupou", der in seiner Karriere achtmal auf dem Podium landet, aber nie ganz oben.
Bild: picture-alliance/dpa
Das tragische Ende des Tom Simpson
Er fährt Schlangenlinien: Tom Simpsons tritt immer langsamer, bis der Brite kurz vor dem Gipfel des Mont Ventoux schließlich kollabiert. Herzstillstand. Die Versuche, ihn wiederzubeleben, scheitern. Tom Simpson stirbt während der Tour. Zwar lautet der Obduktionsbefund "Dehydratation", doch in seinem Blut werden Amphetamin und Alkohol gefunden. Zusammen mit Hitze und Anstrengung ein tödlicher Mix.
Bild: Getty Images/AFP
Gedenken an Casartelli
Auf schmalen Reifen mit Tempo 100 den Berg hinab - die Tour ist ein Spiel mit dem Risiko. Für manche endet es tödlich: 1935 stirbt der Spanier Francisco Cepeda bei einem Sturz in den Alpen. 1995 erwischt es Fabio Casartelli. Der Italiener verliert in den Pyrenäen die Kontrolle über sein Rad und stirbt wenige Stunden später an seinen Kopfverletzungen. Er trug keinen Helm.
Bild: picture-alliance/dpa
Der Kannibale
Eddy Merckx gibt alles. Nach dem Etappenerfolg auf dem Mount Ventoux muss der Belgier unters Sauerstoffzelt. Wegen seines unbändigen Siegeswillens wird Merckx "der Kannibale" gerufen. Mit 34 Etappen und fünf Gesamtsiegen steht er in den Rekordlisten der Tour. 1969 gewinnt Merckx neben der Gesamtwertung auch die Sprint- und die Bergwertung.
Bild: picture-alliance/dpa
Frankreichs Tour-Held
Seit 1985 wartet Frankreich vergeblich auf einen neuen Hinault. In jenem Jahr feiert der Franzose Bernard Hinault den letzten seiner fünf Tour-Siege. Auch heute ist der Nationalheld bei der Rundfahrt beinahe täglich im Bild. Als Mitglied des Organisationsteams gratuliert Hinault bei den Siegerehrungen den Fahrern.
Bild: picture-alliance/dpa
Das dramatische Finale
Keine der bisher 99 Auflagen ist so knapp wie die Tour 1989. Nach 3285 Kilometern liegt Sieger Greg LeMond (l.) aus den USA die Winzigkeit von acht Sekunden vor dem Franzosen Laurent Fignon (r.). Vor der Schlussetappe hat Fignon noch einen Vorsprung von 50 Sekunden. Doch der schmilzt im Zeitfahren nach Paris dahin, LeMond triumphiert.
Bild: picture-alliance/dpa
Der Außerirdische
Was Hinault für die Franzosen, ist Miguel Indurain für die Spanier. Der Baske thriumphiert von 1991 bis 1995 als Erster fünfmal in Serie. Vor allem im Zeitfahren dominiert der "Außerirdische" die Konkurrenz fast nach Belieben, auch in den Bergen fährt er stark. Bei Indurain wird ein rekordverdächtiger Ruhepuls von nur 28 Schlägen pro Minute gemessen.
Bild: picture-alliance/dpa
Triumph mit Schatten
Jan Ullrich (Mitte) stürmt mit eleganter Leichtigkeit 1997 zum ersten deutschen Toursieg 1997 und löst gemeinsam mit Grün-Gewinner Erik Zabel eine Radsport-Euphorie in der Heimat aus. Doch in der Rückschau sind die damaligen Helden, die hier mit dem Franzosen Richard Virenque posieren, keine mehr. Heute weiß man: Alle drei waren - zumindest zeitweise - gedopt.
Bild: picture-alliance/dpa
Die Tränen der Lügner
Große Emotionen, großes Drama bei der Tour 1998: Frankreichs Liebling Richard Virenque weint, weil er gemeinsam mit seinem Rennstall Festina die Tour verlassen muss. Zuvor war ein Teamwagen voll mit Dopingmitteln entdeckt worden. Virenque und Kollegen beteuerten ihre Unschuld - und mussten später doch gestehen, gedopt zu haben. Der Skandal erschütterte die Tour in ihren Grundfesten.
Bild: picture-alliance/dpa/G. Breloer
Dunkle Wolken über einem Märchen
Ein Sinnbild? Bei seinem ersten Toursieg 1999 verdunkelt sich der Himmel über Lance Armstrong. Ganz so, als wäre es eine Botschaft. Das Märchen vom Krebs-Bezwinger Armstrong, der wie Phönix aus der Asche steigt und von 1999 bis 2005 siebenmal triumphiert, ist zu schön, um wahr zu sein. 2012 wird er überführt, gesteht Doping, wird lebenslang gesperrt und verliert alle Tour-Titel.
Bild: picture-alliance/dpa
Das böse Steak
Noch ein Held, dessen Story Zweifel weckt: Der Spanier Alberto Contador ist wohl einer der stärksten Bergfahrer der Tour-Gechichte. Doch das Publikum misstraut ihm. Ein Zuschauer verfolgt ihn 2011 verkleidet als Dopingarzt. Sein dritter Tour-Titel im Jahr 2010 ist ihm wegen Dopings aberkannt worden. Contador beteuert bis heute, unwissentlich ein Clenbuterol-verseuchtes Steak gegessen zu haben.
Bild: picture-alliance/dpa
Permanente Sturzgefahr
"Radsport ist stürzen und weiterfahren", sagen die Profis. Auch bei der Tour. So müssen 2012 nach einem Massensturz bei Tempo 70 insgesamt 13 Fahrer das Rennen aufgeben. Gerade bei den ersten, meist flachen Etappen arbeiten die Tour-Ärzte fast im Akkord. Der Grund: Alle Teams wollen Tagessiege, um den Erwartungsdruck der Sponsoren zu erfüllen. Denn ohne die geht im Radsport nichts.
Bild: AP
Der Jogger vom Mont Ventoux
Radschuhe sind für Läufe denkbar ungeeignet. Die Pedalplatten an den Sohlen geben kaum Halt. Dennoch entscheidet sich der Brite Chris Froome bei der Tour 2016 zu einem Läufchen. Sein Rad ist nach einem Crash am Mont Ventoux kaputt, Ersatz nicht in Sicht. Froome will keine Zeit verlieren und läuft, bis er ein neues Rad erhält. Seine Laufeinlage sichert ihm einen weiteren Tour-Sieg.
Bild: picture-alliance/dpa/S. Mantey
Auf Biegen und Brechen
Die Tour ist ein täglicher Kampf: um Positionen im Feld, um Sekunden im Gesamtklassement und natürlich um Tagessiege. Die Sprinter sind dabei wenig zimperlich. Mark Cavendish (links in der Bande) und Peter Sagan (2. v. l.) treiben es bei der Tour 2017 auf die Spitze: Ihr Gerangel in Vittel endet für beide schmerzhaft - Cavendish bricht sich das Schulterblatt, Sagan wird disqualifiziert.
Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Ena
Nicht alle lieben die Tour
Die Tour ist eine große Bühne, die auch ungebetene Nebendarsteller anzieht: So gibt es immer wieder Proteste, die mit dem Rennen wenig zu tun haben. Bei der Tour 2018 blockieren Bauern die Straße, um für den Erhalt der Landwirtschaft in ihrer Region zu protestieren. Die Polizei setzt Tränengas ein, dessen Wolke den Fahrern ins Gesicht weht. Nach einer Rennunterbrechung geht die Tour weiter.