Tour de France: Wie sicher sind die Abfahrten?
13. Juli 2023Alpe d'Huez, Col du Tourmalet oder Mont Ventoux mögen die klingenderen Namen haben, in Sachen Drama steht der Col de Joux Plane den legendären Tour-de-France-Anstiegen in Nichts nach. 1997 setzte hier Marco Pantani den jungen Deutschen Jan Ullrich mächtig unter Druck, 2000 schwächelte Lance Armstrong im Anstieg und war einer Niederlage nah und 2006 zeigte Floyd Landis hier seinen ebenso denk- wie fragwürdigen Husarenritt auf dem Weg zum später wegen Dopings aberkannten Tour-Sieg.
Doch nicht nur der Anstieg, auch die Abfahrt in den Zielort Morzine ist ein Garant für Spektakuläres: Auf den acht Kilometern hinab ins Tal mit ihren durchschnittlich acht Prozent Gefälle riskieren die Fahrer alles für den Etappensieg - und manchmal zu viel. Roberto Heras stürzte 2000 hier in Führung liegend und Wilco Keldermann rutschte 2016 auf regennasser Fahrbahn mit hoher Geschwindigkeit in die Absperrgitter. Genau diese Abfahrt wird am Samstag wieder über den Tagessieg entscheiden, wenn die Tour zur 14. Etappe von Annemasse nach Morzine in die französischen Alpen kommt.
Welche Lehren sind nach dem Unfall von Gino Mäder zu ziehen?
Braucht es solch ein riskantes Etappenfinale? Nikias Arndt sagt: Nein. "Vor dem Hintergrund der Ereignisse bei der Tour de Suisse sehe ich das sehr kritisch, ob es wirklich sein muss am Ende einer Etappe eine technische Abfahrt zu haben." Der deutsche Profi vom Team Bahrain Victorious war im Juni dabei, als sein Teamkollege Gino Mäder auf einer Abfahrt der Tour de Suisse bei hoher Geschwindigkeit stürzte und an den Sturzfolgen verstarb. Eine Sicherheitsdebatte im Radsport war die Folge.
Auf den Trikots der Bahrain-Mannschaft prangt nun der Hashtag #rideforGino. Es ist ein schwieriger Spagat zwischen Trauer um den Teamkollegen und der nötigen Konzentration auf den Saisonhöhepunkt Tour de France. Bisher gelingt er dem Team gut, der Spanier Pello Bilbao gewann eine Etappe, der deutsche Sprinter Phil Bauhaus war mit drei Podestplätzen mehrfach nah dran. Und doch ist die Erinnerung an das, was Gino Mäder widerfahren ist, gegenwärtig. So etwas soll nicht noch einmal passieren.
Nun kommen die Alpenetappen und mit ihnen zwei finale Abfahrten ins Ziel: auf der 14. Etappe nach Morzine und auf der 17. Etappe nach Courchevel. Das erinnert die Fahrer bei Bahrain Victorious an jenen tragischen 15. Juni in den Schweizer Alpen, als Gino Mäder ebenfalls auf einer finalen Abfahrt stürzte.
Nikias Arndt sieht hier ein grundsätzliches Problem: "Wer einen kleinen Vorsprung von zehn Sekunden über die Bergkuppe rettet, wird alles versuchen, seinen Vorsprung in der Abfahrt zu verteidigen, beziehungsweise, der Fahrer, der hinten dran ist, probiert natürlich die zehn Sekunden aufzuholen. So wie man am Berg alles gibt, gibt man auch alles in der Abfahrt. Das ist für uns ein natürlicher Prozess, dass wir hier ans Limit gehen", so Arndt zur DW. "Das heißt aber auch, dass wir in einer finalen Abfahrt mehr riskieren, als es sinnvoll ist."
Der Radsport wird schneller - und soll langsamer werden
Wie viel Risiko ist nötig, um erfolgreich zu sein? Wie viel Risiko ist zu viel? Der Grat ist schmal. Auf nur 28 Millimeter breiten Reifen rauschen die Profis mit Spitzengeschwindigkeiten von teilweise über 100 Km/h talwärts. In einem Sport, in dem es darum geht, möglichst schnell von A nach B zu kommen, versucht Adam Hansen nun ausgerechnet etwas Tempo rauszunehmen. Der Chef der Rennfahrergewerkschaft CPA war bis vor kurzem selbst Radprofi und hat die Sicherheit der Fahrer zu seinem großen Thema gemacht. "Wir wollen die Fahrer mehr darüber aufklären, wie gefährlich der Radsport ist und sie mehr für Risiko und Gefahren sensibilisieren", sagt Hansen im DW-Interview. "Ich denke, wir müssen sie etwas langsamer machen."
Wie soll das gehen? Die Tour 2022 war mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von über 42 km/h die schnellste der Geschichte. Technische Innovationen wie Aero-Kleidung, Aero-Rahmen, Aero-Laufräder oder Tubeless-Reifen mit reduziertem Rollwiderstand machen die Fahrer immer schneller. Und frisch asphaltierte Straßen in den Bergen - ein expliziter Wunsch der Profis - machen die Fahrt bergab zwar sicherer, aber eben auch erneut schneller. Hohe Geschwindigkeiten verkürzen die Zeit zu reagieren, etwa auf Steine, gestürzte Fahrer oder andere Hindernisse auf der Fahrbahn. Und dazu trägt scheinbar ironischerweise auch eine weitere, inzwischen fest etablierte Sicherheits-Innovation bei: "Scheibenbremsen machen eine Gefahrenstelle in einer gewissen Hinsicht noch gefährlicher", meint Adam Hansen. "Denn mit den Scheibenbremsen, die besser verzögern als früher die Felgenbremsen, bremsen die Fahrer jetzt später. Für die Fahrer dahinter bleibt nur eine kurze Zeit, auf etwas vor ihnen zu reagieren."
Akustische Warnsignale und gepolsterte Barrieren
Beim Weltradsportverband UCI zeigt man sich problembewusst. "Die Geschwindigkeit der Fahrer wird höher und höher, es wird deutlich gefährlicher", sagte UCI-Präsident David Lappartient vor dem Tour-Start. "Unsere Mission ist es, die Straßen sicherer zu machen". Das soll mit verschiedenen Maßnahmen geschehen. Im Rahmen des Projekts "SafeR" werden nun in einer Datenbank gefährliche Situationen in Rennen erfasst und ausgewertet. Die erste Bilanz gibt Anlass zur Sorge: In diesem Jahr liegt man mit fast 200 Vorfällen bereits 24 Prozent über dem Niveau des Vorjahres zum selben Zeitpunkt.
Deswegen ergreift man bei der Tour de France zusätzliche Maßnahmen: Gefährliche Kurven werden mit gepolsterten Barrieren abgesichert. Zudem warnen akustische Signale die Fahrer bereits seit einer Weile vor brenzligen Streckenabschnitten. Für Nikias Arndt "ein großes Sicherheitsfeature. Vor scharfen oder uneinsichtigen Kurven hört man ein schrilles Pfeifen und schon aus einer relativ großen Entfernung weiß man so, dass dort eine Gefahrenstelle kommt. Das ist für unsere Sicherheit sehr gut."
Die Maßnahmen sind wichtige Schritte zu mehr Sicherheit im Rennen - und doch nur kleine Bausteine eines größeren Mosaiks. Beim größten Radrennen der Welt wird ein immenser Aufwand betrieben, um das Rennen gegen äußere Gefahren zu schützen. 300 Polizisten begleiten die Tour permanent, hinzukommen insgesamt 28.000 weitere Polizisten und Feuerwehrleute, die die Strecke sichern. 1000 ausgebildete Ordner sollen zusätzlich auf Gefahrenstellen hinweisen und für Sicherheit sorgen. Zehn Ärzte und sieben Krankenschwestern sorgen neben den Teamärzten für die medizinische Versorgung der Tour de France.
Und doch bleibt ein Sicherheitsrisiko: der Fahrer selbst. Deshalb hob Routinier John Degenkolb kürzlich im DW-Interview die Eigenverantwortung der Fahrer hervor. Neben dieser bleibt für die Fahrergewerkschaft CPA Streckenführung der entscheidender Faktor für die Sicherheit der Fahrer: Abfahrten unmittelbar vor dem Ziel werden dabei von den Fahrern als Sicherheitsrisiko wahrgenommen, wie Adam Hansen berichtet. "Ich habe eine Umfrage unter den Fahrern gemacht. Die Mehrheit sagte, dass es mindestens drei flache Kilometer vor dem Ziel geben muss, manche waren für mindestens zehn Kilometer. Ich stimme dem zu, wir brauchen ein Flachstück am Ende, damit nicht alles auf die Abfahrt ankommt."
In Morzine wird am Samstag alles auf die Abfahrt ankommen. Gewinnen kann nur, wer die technische Abfahrt vom Col de Joux Plane gekonnt und mit Risiko nimmt. Denn nach der Abfahrt bleibt gerade einmal ein Kilometer bis ins Ziel.