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10. Alte Barrieren und neue Normen

9. Dezember 2020

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung. Ob beim Wohnung Suchen, im Straßenverkehr oder auf dem neuen Berliner Flughafen. Der Alltag ist voller Barrieren.

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator Matthias Klaus: Willkommen zu "Echt behindert!" Ich bin Matthias Klaus.

"Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn Sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind." 

Das ist der berühmte und oft zitierte Satz, der Paragraph 4 aus dem Behindertengleichstellungsgesetz. Heute geht es in "Echt behindert!" um besagte Barrierefreiheit, um Gebäude, um Wohnungen, um den öffentlichen Raum: Überall da, wo für Menschen mit Behinderungen Barrieren lauern. Mit mir im Podcast sind zwei Menschen, die damit Erfahrung haben. Judyta Smykowski ist Rollstuhlnutzerin und Jonas Karpa ist sehbehindert. Sie sind Teil der Sozialhelden e.V. Das ist ein Verein, der sich mit allen Facetten von Behinderung beschäftigt. Erst einmal Hallo und schönen guten Tag nach Berlin. 

Jonas Karpa: Hallo!

Judyta Smykowski: Hallo. 

Matthias Klaus: Ihr erlebt Barrieren täglich, darum geht es heute. Aber ihr seid beide auch Medienschaffende mit dem Podcast und dem Online-Magazin "Die neue Norm". Davon reden wir später. Erst einmal zu den alltäglichen Hindernissen.

Judyta, welche Barrieren begegnen dir als Rollstuhl Nutzerin denn täglich?

Judyta Smykowski: Das sind natürlich Stufen, Treppen, kaputte Aufzüge. Aber auch wenn man sich unterhält mit mir - oder auch gerade nicht sozusagen - also eher mit meiner Begleitung, also sich mit mir nicht auf Augenhöhe unterhält. Das sind so Barrieren, die mir begegnen.

Matthias Klaus: Jonas, was behindert dich denn im Alltag?

Jonas Karpa: Also bei mir ist es häufig die Orientierung: Wenn ich auf Treppen stoße, wo die Kanten nicht gut markiert sind, wo es dann für mich nicht ersichtlich ist, "wo fängt die Treppenstufe an"? Generell wenn Ampeln ein relativ schwaches Licht haben oder sehr weit entfernt sind und vielleicht das akustische Signal nicht funktioniert und dann parallel die Sonne irgendwie ein bisschen ungünstig steht und das dann quasi so blendet, dass ich nicht erkennen kann, ob die Ampel grün oder rot ist. Oder generell zum Beispiel im öffentlichen Nahverkehr hier in Berlin: U-Bahn und S-Bahn haben immer schön die Ansage: Welche Linie es ist und wohin es fährt. Busse haben das nicht. Also, ich fahre total ungern Bus, gerade jetzt auch in Corona Zeiten, wo man noch nicht mal den Busfahrer fragen kann "In welche Richtung fährst du"?

Matthias Klaus: Judyta, du als Rollstuhlfahrerin? Darf ich fragen bist du eigenständig unterwegs oder lebst du mit Assistenz?

Judyta Smykowski: Nein, eigenständig.

Matthias Klaus: Das heißt, du kannst schon deinen Rollstuhl selber rollen und bist selber mobil, sozusagen.

Judyta Smykowski: Genau.

Matthias Klaus: Ich stelle mir mal vor: So jemand wie du sucht eine Wohnung. Worauf musst du achten? Oder Wie findet man überhaupt eine barrierefreie Wohnung? So einfach dürfte das nicht sein. 

Judyta Smykowski: Es ist sehr witzig, weil ich gerade wirklich tatsächlich auf Wohnungssuche bin. Deswegen kann ich da auch was zu erzählen. Da bin ich natürlich sehr auf Informationen angewiesen, also auf die Informationen von den Menschen, die das Gesuch oder die Anzeige reinstellen und wirklich sagen, ob es stufenlos, der Zugang wirklich von der Haustür bis zur Wohnungstür möglich ist. Das ist schon mal eine sehr, sehr wichtige Information für mich. Jede Schwelle ist da wichtig für mich, für meine Eigenständigkeit.

Und da ist uns aufgefallen in den letzten Monaten, wenn wir da suchen, dass eine Stufe manchmal keine Stufe ist. Also dass Menschen ohne Behinderung da nicht das Bewusstsein haben, wie wichtig das ist, es zu erwähnen. Und da verlange ich ja noch nicht einmal, dass das irgendwie umgebaut wird, sondern erstmal nur, dass es erwähnt wird und dass es offengelegt wird.

Da ist es manchmal schon so, dass das nicht erkannt wird als Barriere, wenn man halt nicht in dieser Situation steckt. Also das ist ganz, ganz wichtig. Und mehr Barrierefreiheit brauche ich in der Wohnung eigentlich nicht. Natürlich würde ich jetzt keine mehr so nette Wohnung nehmen, die auf zwei Stockwerken ist oder so. Oder diese Lofts, die Industrielofts, die man so kennt, wo man so nach oben gucken kann und da in den zweiten Stock sieht. Das würde ich alles nicht nehmen aus praktischen Gründen. Genau: Also für mich braucht es einfach die Ebenerdigkeit .

Matthias Klaus: Wenn du so Wohnungsanzeigen liest, da steht's ja wahrscheinlich selten drin, ne?

Judyta Smykowski: Genau. Also es steht wirklich selten so genau drin. Vielleicht kennen wir diese Altbauwohnungen oder einige kennen sie vielleicht. Das wäre so mein absoluter Traum — in einer Altbauwohnung zu wohnen. Da ist das Problem, dass die Fahrstühle natürlich hinterher auch eingebaut wurden bzw. auch außen dran gebaut werden. Da ist es meistens so, dass sie nur im Zwischenstock halten und das heißt dann nicht, dass die Wohnung barrierefrei oder rollstuhlgerecht oder ebenerdig zugänglich ist - es gibt ja verschiedene Wörter dafür. Sondern dass man wirklich noch immer ein halbes Stockwerk laufen muss. Und das ist auch eine sehr, sehr wichtige Information, die oft fehlt.

Matthias Klaus: Wohnung ist ja nun ein Feld, was wir haben. Es gibt aber auch Öffentliches, also vom Bürgeramt bis zum Café. Und gerade ist vor ein paar Wochen veröffentlicht worden, dass vor allen Dingen sehr wenige Arztpraxen barrierefrei sind. Wer von euch kann da was zu sagen? Ich hab da neulich was gelesen bei barrierenbrechen.de: 26 Prozent aller Facharztpraxen sind nur barrierefrei. Ist das denn wirklich wahr?

Jonas Karpa: Also zumindest in Berlin kann ich das unterschreiben. In Berlin sind auch viele, viele Arztpraxen, in den - wie Judyta es eben angesprochen hat - wunderschönen alten Altbauwohnungen, wo du so einen langen Flur hast, der ja kilometerweit ins Haus, ins Hinterhaus ragt.

Aber das ist eben nicht ebenerdig erreichbar. Aber Arztpraxen generell: Ich finde die Anekdote immer sehr schön, was ich erlebt habe, damals, als ich in einer Uniklinik war, in einer Augenklinik. Und wo dann immer relativ viel zu tun ist, man ja auch eine Nummer ziehen muss, bis man drankommt. Und dort gab es dann eine Tafel, wo die Nummer erschien, aber ohne akustisches Signal - ohne dass es vorgelesen wurde, in einer Augenklinik! 

Matthias Klaus: Jonas, du hast gesagt: In Berlin, viele Arztpraxen sind im Altbau. Wir in Bonn kennen das in Cafés, die alle die Toiletten im Keller haben, die alle mindestens vier Stufen haben, die alle in wunderschicken Gründerzeitvillen sind. Du hast mir neulich, als wir vorher gesprochen haben, erzählt, dass du zum Denkmalschutz ein spezielles Verhältnis hast. 

Jonas Karpa: Ja, und eben deshalb, weil häufig, wenn man das Thema Barrierefreiheit anspricht, der Denkmalschutz das genannte Argument ist, warum man das nicht machen kann. Das stimmt zum Teil. Also dass man sagt "Hey, wir würden gerne an das Gebäude oder an das Café ... Da muss eine Rampe hin. Die Treppen müssen entfernt werden. Es muss ein Aufzug angebaut werden".

Und manchmal ist es halt so, dass der Denkmalschutz das verbietet, dass im Haus irgendwelche bauliche Veränderungen gemacht werden. Und das wird aber dann so hingenommen. Das heißt also: Wenn das Argument kommt "Ja, wir würden ja sehr gerne, aber der Denkmalschutz...", dann ist es etwas, was alle so hinnehmen. "Die haben alles getan. Aber leider geht es nicht". 

Matthias Klaus: Ihr beide seid Teil der Sozialhelden e.V. oder wie ihr inzwischen selber sagt Sozialheld*innen. Ihr habt verschiedene Barrierefreiheitsprojekte. 

Judyta, vielleicht kannst du ein wenig mal so umreißen, was ihr denn zum Thema gerade bauliche Barrierefreiheit tut oder getan habt?

Judyta Smykowski: Ja, da würde ich als allererstes die Wheelmap nennen: Eine App für rollstuhlgerechte Orte, die man sich aufs Handy laden kann und dann auf der ganzen Welt Orte markieren kann. Also wenn es wieder möglich ist, wenn wir wieder Freiheiten haben und die Freizeit ausleben können, dann können wir Restaurants gucken: Gibt es da eine Stufe vor dem Eingang oder nicht? Oder bei Kinos oder bei Bars, also bei verschiedenen Gebäuden, die wir so besuchen?

Auch euer Redaktionsgebäude z.B. könnt ihr auch mal prüfen, ob es Stufen gibt und dann das eintragen. Das funktioniert mit einem Ampelsystem. Das heißt, rote Orte sind Orte, die wirklich nicht machbar sind, also die auch nicht mit einer Rampe überwindbar sind, wenn es z.B. eine Stufe am Eingang gibt.

Orangene Orte sind Orte wie z.B. Kinos, wo es verschiedene Kinosäle auf verschiedenen Stockwerken gibt. Das heißt, ebenerdig kann man noch Filme angucken, aber alles, was sich oben abspielt erreicht man nicht. Und grüne Orte sind Orte, die wirklich überall erreichbar sind, mit dem Rollstuhl oder auch mit dem Kinderwagen.

Und so wollen wir eigentlich, dass jeder und jede mitmacht. Und wir wollen auch zeigen, dass Barrierefreiheit in diesem Sinne auch etwas für alle ist, dass sie niemandem schadet, dass sie für ältere Menschen wichtig ist: für Menschen, die Eltern sind, aber halt auch für mobilitätseingeschränkte Menschen. 

Damit haben wir 2010 angefangen. Und dann ging es so weiter. Dann kam die Berichterstattung über uns Sozialheld*innen. Dann haben wir angefangen, auch Tipps zu geben für klischeefreie Berichterstattung, weil ein paar Dinge uns da auch ein bisschen sauer aufgestoßen sind: Wie über die Behinderung unseres Gründers Raul Krauthausen berichtet wurde. Das fanden wir ein bisschen zu persönlich und zu krass und zu wenig auf die Erfindung der App gerichtet.

Da haben wir "Leidmedien" mit D, so von Leiden, gegründet, die Seite um Tipps zu geben. Und ja, mittlerweile machen wir da auch noch ganz viele andere Projekte: Das Barrierenbrechen wurde ja schon angesprochen. Wir möchten eigentlich auch ein bisschen die Privatwirtschaft in der Pflicht sehen, sich ein bisschen zu verändern, weil: Gesetzlich sind wir eigentlich gut aufgestellt in Deutschland, was öffentliche Orte angeht. Aber das Problem ist natürlich "Wo würde man eher seinen Kaffee trinken? Auf dem Amt oder in einer Bar oder im Café"? Auf dem Amt kann man das ganz schön barrierefrei tun, aber in der Bahn noch nicht. 

Matthias Klaus: Ihr von den Sozialheld*innen macht auch solche Geschichten wie Begehungen, Orte besuchen. Ihr habt jetzt neulich den neuen Berliner Flughafen besucht. Wie war das? Was konntet ihr da sehen? Haben die es geschafft, die Barrierefreiheit wunderbar umzusetzen? Oder ist das wie der Rest vom Flughafen?

Jonas Karpa: Es war auf jeden Fall sehr interessant, mal schon vorab einen Blick rein zu werfen. Und es ist natürlich so, dass man bedenken muss, dass dieser Flughafen zwar jetzt eröffnet wurde, aber eigentlich schon viel, viel länger eröffnet sein sollte. Und die Planung ja auch: Bis das Architekturbüro sich drum gekümmert hat und so weiter. Das liegt schon sehr, sehr weit zurück. Ich glaube, wenn man jetzt den BER nochmal neu bauen würde, würde man ein paar Sachen auch anders machen.

Ich war persönlich sehr erstaunt, dass es sehr, sehr viele rollstuhlgerechte Toiletten dort gab auf dem Weg. Also das kenne ich sonst von anderen Flughäfen: Da gibt es dann in einem Terminalbereich vielleicht eine, und dann muss man den ganzen Weg wieder zurück.

Aber, dadurch, dass der Flughafen eben jetzt schon etwas älter ist, gibt es z.B. auch ein paar Probleme mit den Aufzügen, weil die jetzt eigentlich schon wieder gewartet werden müssten und es dort immer mal wieder so kleine Problemchen gibt. Und wenn dann bestimmte Aufzüge nicht funktionieren, kommt man eben als gehbehinderte Person oder Person, die im Rollstuhl unterwegs ist, gar nicht zu seinem Gate und kann den Flug gar nicht antreten.

Matthias Klaus: Das Thema "Corona": Ich habe letzte Woche gelesen, dass ihr euch engagiert beim Überprüfen der CoronaTestzentren und die werden in die WheelmMap eingetragen und das ganze soll weltweit laufen. Wie seid ihr denn da drangekommen?

Judyta Smykowski: Da wurden wir von den Vereinten Nationen drum gebeten, ganz offiziell, ganz von oberster Stelle. Und wir rufen halt jetzt alle Menschen auf, wenn sie sich haben testen lassen, die Barrierefreiheit dort zu beurteilen und mit uns das Ergebnis zu teilen. 

Matthias Klaus: Wie sieht es denn aus, was ihr schon gesehen habt? Sind denn Corona-Testzentren soweit barrierefrei? Gibt es das oder gibt es da welche? Die gehen einfach gar nicht. 

Jonas Karpa: Also ich persönlich war — toi, toi, toi — noch in keinem Testzentrum: brauchte es noch nicht. Es ist schwer, dass jetzt pauschal zu sagen und auch da gibt es natürlich viele Punkte, die man auf Barrierefreiheit überprüfen kann. 

Also es geht ja nicht nur darum, ob man da jetzt ebenerdig mit dem Rollstuhl hin kann, sondern auch natürlich die ganzen Unterlagen, die man dort ausgehändigt bekommt: Gibt es die in Brailleschrift? Vielleicht gibt es Gebärdensprachdolmetscher, die einem das erklären.

Und es soll ja nicht nur um die Testzentren gehen, so wie jetzt, sondern auch um potentielle Impfzentren - wenn wir dann mal bald hoffentlich irgendwann einen Impfstoff haben. Und wenn man jetzt bedenkt, wie hoch vielleicht der Ansturm wäre, wenn es dann einen Impfstoff gibt, wie lange die Schlangen sind, dann muss man bedenken: "Okay, Leute, die nicht mehr so gut zu Fuß sind oder generell Menschen mit Gehbehinderung - können die an so einem Zentrum drei Stunden in der Schlange stehen?" Und wenn es dann die Impfung gibt, gibt es danach noch eine Beobachtung, ob es da sofort irgendwelche anderen Symptome gibt. Wie ist das ganze Gebäude aufgebaut? Das soll quasi abgefragt werden. 

Matthias Klaus: Informationen darüber, wie man dazu beitragen kann, dass Corona-Testzentren und Impfzentren weltweit auf der Wheelmap erscheinen und getestet werden auf ihre Barrierefreiheit. Gibt es bei uns auf unserer Podcast-begleitwebseite: dw.com/echtbehindert.

Jingle: Sie hören "Echt behindert!" den Podcast für Barrierefreiheit und Inklusion der Deutschen Welle. Wir sind auf allen gängigen Podcast-Plattformen. Email Feedback und Kommentare an echt.behindert@dw.com. Mehr Infos und Links gibt es unter dw.com/echtbehindert. Und: Bewerten Sie uns, wo immer Sie uns hören.

Matthias Klaus: Thema "Podcast". Das ist das zweite, über das ich mit euch sprechen möchte. Und zwar: Ihr betreibt auch einen Podcast.

Judyta, du bist Leiterin der Redaktion des Online-Magazins "Die neue Norm". Kannst du vielleicht erstmal erklären: Das ist ja ein merkwürdiger Titel. Was bedeutet das?

Judyta Smykowski: Ja. Normen sind natürlich etwas sehr Starres. Sie sind auch wichtig -, dass es sie gibt. Daran hangeln wir uns ja auch daran - besonders in Deutschland muss man sagen. Das Problem ist, dass behinderte Menschen immer so ein bisschen rausfallen aus den sogenannten Normen, auf die wir uns irgendwie geeinigt haben in der Gesellschaft. Und wir werden auch anders betitelt.

Es fängt ja bei der Sprache an: über die Bildsprache, über Zugänge in der Gesellschaft - Stichwort Teilhabe. Und deswegen haben wir einfach gesagt: Wir wollen diese Normen eigentlich aufbrechen. Wir wollen irgendwann auch zu dieser Norm gehören. Aber es braucht irgendwie auch eine neue Norm für behinderte Menschen. Und die wollen wir schaffen.

Also wir wollen, dass behinderte Menschen in allen Diskussionen dabei sind: in gesellschaftlichen Diskursen, in allen Themen sei es gesellschaftlich, technisch, Innovation, Kultur. Es sind alles Themen, die natürlich auch behinderte Menschen betreffen. Also behinderte Menschen sind ja auch Teil der Gesellschaft.

Es wird manchmal auch so ein bisschen medial verkannt: Behinderte Menschen kommen eher vor, wenn es um Soziales geht und Medizinisches oder als ältere Menschen dann mobilitätseingeschränkt sind. Und das wollen wir ändern, denn wir sind ja genauso Wähler*innen. Wir sind Arbeitnehmer*innen. Wir haben Hobbies. Wir sind Aktivist*innen.

Wir müssen uns dafür einsetzen: behinderte Frauen sind noch mehr von sexualisierter Gewalt betroffen als nichtbehinderte Frauen. Darauf wollen wir aufmerksam machen. Wir wollen zum Beispiel, dass der gesellschaftliche Diskurs Behinderung mit einschließt und das wollen wir mit der neuen Norm machen. 

Matthias Klaus: Und die ist ein Online-Magazin und ein Podcast. 

Judyta Smykowski: Genau! Den Podcast machen Jonas, Raul Krauthausen (Unser Kollege) und ich. Der ist beim Bayerischen Rundfunk angesiedelt und wir unterhalten uns viel über ganz verschiedene Themen. Also es geht manchmal auch ein bisschen auf Gedankenreise: z.B. was ist, wenn wir alle Kinder haben? Wie machen wir das dann, wenn wir eine Sehbehinderung haben oder im Rollstuhl unterwegs sind?

Dann erinnern wir uns z.B. auch zurück: Wie war es in unserer Kindheit. Und was ist jetzt eigentlich alles besser geworden? Also die mediale Darstellung oder auch im Fernsehen gibt es ja schon etwas mehr diverse Plots. Es gibt Barbiepuppen, die auch verschiedene Körper zeigen. Also diesen ganzen Fortschritt sozusagen, den wir gerne gehabt hätten, als Kinder, besprechen wir da. 

Wir reden aber auch über Hilfsmittel, was uns hilft, neben der ganzen Antragstellerei bei der Krankenkasse, auch über Life Hacks wie z.B. Kaffeebecherhalterungen, die man sich einfach von Kinderwagen für den Rollstuhl abguckt. Also ja: hoffentlich lebensnah. Und genau das machen wir.

Matthias Klaus: Jonas, was fällt dir zu dem Podcast ein? Indem du selbst Mitglied bist? 

Jonas Karpa: Wir wollen halt generell mit dem Podcast, aber auch mit unserem Online-Magazin die Behinderung in den Mainstream führen. Also wir wollen jetzt nicht nur rein Themen besprechen, wo es nur um Behinderungen geht, sondern Punkte ansprechen, die jeden Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderung irgendetwas angehen.

Nur wir haben halt quasi noch die andere Perspektive. Wir bringen die Perspektive der Behinderung mit in gesellschaftliche Themen. Und das kann Umweltschutz sein. Das kann, wie Judyta es gesagt hat, Eltern-Werden sein. Das kann das Thema sein.

Wir hatten eine Folge, wo es um Kinofilme und Fernsehen ging, wo wir besprochen haben, wie wir uns eigentlich repräsentiert fühlen, wenn wir erstens überhaupt ins Kino rein kommen, beziehungsweise ob es dann Audiodeskription und Untertitel gibt, dass wir die Filme konsumieren können.

Und wenn ja: Gibt es auch Rollenvorbilder für uns? Und wir möchten halt versuchen, Themen so zu setzen, dass es eigentlich sehr allgemeingültige Themen sind. Und die Behinderung ist die neue Perspektive, die wir mit einbringen. 

Matthias Klaus: Judyta, kannst du gerade mal die Webseite sagen? Wir werden das natürlich auch alles hier verlinken bei uns. Aber wenn man es jetzt direkt aufrufen möchte, was muss man da eingeben?

Judyta Smykowski: www.dieneuenorm.de. Also alles zusammengeschrieben.


Matthias Klaus: Ich kann das sehr empfehlen. Ich höre es regelmäßig. Und wir werden mehr - langsam. Also es gibt mehr Podcasts, die sich mit dem Thema "Behinderte" beschäftigen und die, das sagt ihr ja auch gerne und oft, auch endlich von Behinderten selbst gemacht werden. Das war ja früher unüblich. Das, nehme ich mal an, ist ja auch ein starkes Anliegen bei euch. Das ist, wie es in eurem Vorspann heißt: zwei Rollstühle, eine Sehbehinderung oder drei Journalist*innen. Dass es eigentlich darum geht, auch gar nicht immer nur als der Behinderte angesehen zu werden, sondern einfach als der Mensch, der über was Interessantes redet oder Informationen verteilt. 

Judyta Smykowski: Genau. Das ist aber auch ein großes Dilemma in der Arbeit. Da wir ja immer noch als behinderte Menschen viel preisgeben müssen von uns, weil wir ja noch nicht der Norm angehören. Und deswegen gibt es viele Fragen, viele neugierige Blicke von außen. Und wir sind da so ein bisschen in der Rolle des Erklärbären. 

Was wir uns natürlich wünschen würden, dass es nicht mehr so ist, dass Behinderung ein ganz normaler Teil der Gesellschaft ist. Aber ich denke, dass wir im Moment noch so ein bisschen in der Phase sind, wo wir auch noch vieles erzählen, was auch viel Unsicherheit ist, viel Unwissenheit auf Seiten von nicht behinderten Menschen. Aber wo wir hinwollen: Dass es nicht mehr so geteilt ist. Also: "Wir und die" oder so, dass wir dann mehr gemeinsam gucken wer kann was und wie? Und wie können wir das gemeinsam erreichen?

Jonas Karpa: Generell zu welchen Themen man sich äußert. Also das ist natürlich bei Behinderungen insbesondere so. Aber das kriegen wir ja auch mit, wenn es um andere Debatten geht: Wann werden People of Color in deutsche Talkshows eingeladen? Also meistens dann, wenn es um Rassismus geht. Wann werden Menschen mit Behinderung in Talkshows eingeladen? Wenn es um Inklusion geht.

Aber eben, wie es ja eben auch Judyta gesagt hat, dass wir auch Personen sind, die andere Hobbys haben und auch als Journalistinnen über andere Sachen schreiben können. Also es ist wirklich dieses Dilemma, dass wir uns dafür einsetzen, gleichzeitig aber eben genau diese Karte spielen müssen. Also wir sind Journalist*innen mit Behinderung, könnten eigentlich auch journalistisch gesehen über alles Mögliche andere - Dinge, die uns interessieren - schreiben.

Aber wir schreiben halt trotzdem erst einmal über Themen, wo Behinderung drin vorkommt, um überhaupt eine Stimme zu geben. Und wir wollen irgendwann dahin, dass wir natürlich auch genauso in den deutschen Redaktionshäusern vertreten sind wie Journalist*innen ohne Behinderung. Und dass wir genauso über Fußball, Pflanzen, Kultur, was auch immer schreiben können wie alle anderen auch. 

Judyta Smykowski: Ich sehe das auch als sehr wichtige empowernde Aufgabe, Empowerment für andere zu schaffen. Das, was wir uns vielleicht als Jugendliche gewünscht hätten, da jemanden zu sehen, der so ist wie wir, ja da Vorbilder zu sein, andere mitzuziehen und ihnen die Chance zu geben. Also das ist ja auch eine Verantwortung, wenn man so eine öffentliche Arbeit macht, die wir machen. Wir wollen auf jeden Fall auch den Nachwuchs ermutigen. 

Matthias Klaus: Was soll man da noch hinzufügen? Das war "Echt behindert!" mit Judyta Smykowski und Jonas Karpa von den Sozialheld*innen. Vielen Dank, dass ihr da wart. 

Jonas Karpa: Danke schön. Hat Spaß gemacht.

Judyta Smykowski: Danke. Tschüss! 

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Mein Name ist Matthias Klaus.

Erzählerin/Erzähler: Mehr Folgen unter dw.com/echt behindert. 

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis. 

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