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21. Gewalt gegen Menschen mit Behinderung

27. Mai 2021

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: das Thema Gewalt gegen behinderte Menschen wird gerne missachtet oder verschämt behandelt.

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!". Mein Name ist Matthias Klaus. Am 28. April wurden in einer Wohneinrichtung in Potsdam vier behinderte Menschen getötet und eine Bewohnerin schwer verletzt. Die Tat wurde vermutlich von einer Pflegerin verübt, die dort arbeitet. Im Januar konnte man lesen, dass Anklage gegen 145 Mitarbeitende einer Wohneinrichtung in Bad Oeynhausen erhoben wurde, mit dem Verdacht, dass dort lebende Menschen systematisch misshandelt worden sind. Heute geht es in "Echt behindert!" um Gewalt gegen Menschen mit Behinderung. Meine Gesprächspartnerin ist Julia Zinsmeister. Sie ist Professorin für öffentliches Recht an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln.

Matthias Klaus: Guten Tag, Frau Zinsmeister.

Julia Zinsmeister: Guten Tag, Herr Klaus.

Matthias Klaus: Was dachten Sie, als Sie die Nachricht aus Potsdam gehört haben?

Julia Zinsmeister: Ja, im ersten Augenblick überwiegt sicher die Emotion, der Schock, die Erschütterung. Und dann wirft eine solche Tat natürlich Fragen auf: Wer waren die Menschen, die da sterben mussten? Was hat die Täterin bewegt? Und gab es im Vorfeld, wie die Einrichtungsleitung sagt, wirklich keinerlei Hinweise darauf, dass sich diese Mitarbeiterin in einem emotionalen Ausnahmezustand befand? Also gab es keine Möglichkeit, hier vorzeitig die Menschen zu schützen?

Aber darüber hinaus stellt sich mir auch die Frage: "Wie überlebt man eine solche Tat?" Und damit meine ich nicht nur die Bewohnerin, die den Angriff als einzige überlebt hat und nun in das Wohnheim zurückgekehrt ist, sondern auch, wie es überhaupt für die Bewohnerinnen dort ist. Ja, dass ihr Zuhause zu einem Tatort geworden ist. Kann man einen solchen Ort noch sein Zuhause nennen? Und wie sicher können Menschen überhaupt in Einrichtungen sein?

Matthias Klaus: Vor allen Dingen, wenn man bedenkt, dass diese Menschen ja im Normalfall nicht wegkönnen.

Julia Zinsmeister: Das ist richtig. Sie können nicht weg. Und sie können auch anders als diejenigen von uns, die ein eigenes Zuhause, eine eigene Wohnung haben, nicht selbst entscheiden, wer tagtäglich und auch des Nachts in ihr Zimmer kommt oder nicht. Sie können sich die Menschen nicht auswählen, die einen Schlüssel zu ihrem Zimmer haben, sofern das Zimmer überhaupt abschließbar ist. Und sie suchen sich auch die Bewohnerinnen und Bewohner nicht selber aus.

Matthias Klaus: Gerne wird ja über solche Taten nicht gesprochen. Die Medienberichterstattung kam ja auch eher langsam schleppend in Gang. Was glauben Sie? Wird die Tötung von behinderten Menschen anders medial wahrgenommen und verarbeitet, als wenn es um andere Fälle gehen würde?

Julia Zinsmeister: Ich bin keine Medienwissenschaftlerin, von daher kann ich es sicherlich schwer beurteilen, aber zumindest ist auffällig, wie über die Tat berichtet wurde. Also wenn wir uns anschauen: Wie wird eigentlich überhaupt Gewalt gegen Menschen erklärt? Dann gibt es verschiedene Erklärungsansätze: Und in Potsdam überwog jetzt sehr stark auf der einen Seite so ein individualistischer Blick. Den kennen wir auch aus dem Bereich des sexuellen Kindesmissbrauchs, nämlich dass ganz schnell die Erklärung da ist: Naja, sie war krank. Wahrscheinlich eine Mitarbeiterin, die tatsächlich in einer psychischen Ausnahmesituation war.

Das mag richtig sein, das haben wir auch in vielen anderen Fällen. Aber trotzdem muss man sehen: Auch diejenigen, die vielleicht in einem psychotischen Zustand andere Menschen angreifen und ermorden, richten ihre Gewalt ja sehr häufig gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Und das sind eben dann sehr häufig Minderheiten - ob das dann Jüdinnen und Juden sind, ob das Menschen sind, die eingewandert sind oder eben auch Menschen mit Behinderung, Frauen und so weiter.

Von daher: Auch kranke Menschen sind Teil der Gesellschaft. Und das ist auffällig, dass es so eine Individualisierung der Erklärung gibt und zugleich auch sehr stark, sehr schnell darauf abgestellt wurde, wie überlastet doch auch die Mitarbeitenden in diesen Einrichtungen sind und wie aufopferungsvoll sie ja in der Regel ihre Arbeit vollbringen - wo man einfach sagen muss: Sie werden auch dafür bezahlt.

Und das Risiko ist hier ja, dass es zu einem "victim blaming" kommt. Also letztlich quasi am Schluss es heißt: "Na ja, es ist ja auch schwere, harte Arbeit, einen solchen Menschen mit Behinderung zu pflegen. Da kann das mal passieren."

Matthias Klaus: Das Merkwürdigste, was man lesen konnte, war eigentlich die These, dass es vielleicht darum gegangen sei, diese Menschen von ihrem Schicksal zu erlösen. Auch noch mit dem Angang, dass dafür auch noch Verständnis gehabt werden soll.

Julia Zinsmeister: Ja, das ist diese immer wiederkehrende Gleichsetzung von Behinderung mit Leid, die mit Sicherheit nicht nur in den Medien, sondern auch noch in den Köpfen sehr verbreitet ist. Das kann ich mir gut vorstellen.

Matthias Klaus: Aber mal grundsätzlich weg vom aktuellen Fall: Behinderte Menschen sind häufiger Opfer von Gewalt als andere. Sie haben da den Überblick. Wie schlimm ist das dann? Lässt sich das in Zahlen ausdrücken? Und um welche Form von Gewalt geht es hier eigentlich? 

Julia Zinsmeister: Das lässt sich in Zahlen ausdrücken, sofern man eben auch die Gelegenheit hat, entsprechende Studien durchzuführen, also auch repräsentative Studien.

Dazu hatten wir Gelegenheit in der Vergangenheit, wenn auch noch nicht flächendeckend. Aber wir können auf jeden Fall sagen, dass Menschen mit Behinderungen generell einem hohen Risiko ausgesetzt sind, Gewalt zu erfahren und zwar in allen unterschiedlichen denkbaren Formen, angefangen von psychischer Gewalt über physische, über sexualisierte Gewalt bis hin zu struktureller Gewalt, wie wir sie z.B. in Einrichtungen haben, wenn Menschen hier mit freiheitsentziehenden Maßnahmen konfrontiert werden, am Bett fixiert werden. Oder aber auch bei Frauen mit Behinderung haben wir einen sehr, sehr hohen Grad an Sterilisationen - immer noch, von denen viele, wie wir in einer Untersuchung feststellen konnten, keineswegs immer mit Einvernehmen und wirklich auch nach zutreffender und umfassender Aufklärung erfolgt sind. 

Matthias Klaus: Geht es da, vor allem um Gewalt in Einrichtungen oder hat man auch einen Überblick, wie es um Familien, das häusliche Umfeld und so steht? Oder kann man da gar nichts erfahren?

Julia Zinsmeister: Doch es betrifft tatsächlich alle Lebensbereiche. Das beginnt eben bei Erfahrungen von Gewalt in der Kindheit über Gewalt in der Partnerschaft. Und das sind vor allem Erfahrungen, die von Frauen geschildert werden.

Es ist generell so, dass Frauen, egal ob mit oder ohne Behinderung, vor allem Gewalt im sozialen Nahraum erfahren, während Männer vor allem im öffentlichen Raum von Gewalt betroffen sind. Und hier, wenn man jetzt quasi vergleicht zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, können wir eben feststellen, dass dann diejenigen mit Behinderung im Vergleich zu ihrer nicht behinderten Vergleichsgruppe des gleichen Geschlechts im Zweifelsfall eine deutlich höhere Gewaltbelastung haben. Also Frauen mit Behinderung berichten z.B. in fast allen Formen zweimal bis dreimal häufiger von Gewalt.

Matthias Klaus: Haben Sie, als jemand, der sich damit beschäftigt, eine Erklärung warum das so ist?

Julia Zinsmeister: Also es gibt verschiedene Erklärungstheorien. Eine ganz wichtige ist sicherlich, wenn man sich eben genau diese Zahlen anguckt, dass hier auch letztlich Gewalt ein Instrument ist, um Machtverhältnisse zu schaffen und aufrechtzuerhalten.

Also: Wir haben eben einen sehr hohen Grad der Gewalt gegen Frauen in der Gesellschaft. Und wenn es um Frauen mit Behinderung geht, haben wir nochmal eine deutliche Erhöhung. Also es sind immer wieder auch erkennbare Hierarchien in der Gesellschaft, die auch in der Gewalt ihren Ausdruck finden oder durch Gewalt aufrechterhalten werden.

Und gleichzeitig haben wir es bei Menschen mit Behinderung teilweise mit Personen zu tun, die in erhöhtem Maße abhängig sind im Alltag, weil sie auf mehr Unterstützung angewiesen sind. Und diese Unterstützung ist nach wie vor sehr häufig so organisiert, dass sie selber wenig Einfluss darauf haben, wer sie wann und in welcher Form unterstützt. Dadurch entsteht Abhängigkeit und wo Abhängigkeit entsteht, da ist immer das Risiko des Machtmissbrauchs besonders hoch.

Matthias Klaus: Ich habe gelesen, dass besonders gehörlose Frauen besonders von sexueller Gewalt betroffen sind. Haben Sie da Hintergründe dazu?

Julia Zinsmeister: Ja, auch hier gibt es tatsächlich eine Studie, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstützt wurde, die das belegen.

Matthias Klaus: Worum geht es da? Lässt sich das fassen? Könnte man sagen: "Das sind Menschen, die, weil sie sich weniger lautlich äußern können oder weil sie weniger Zugang zu Schrift haben?" Ich weiß es nicht. Vielleicht wissen sie da mehr drüber.

Julia Zinsmeister: Also es sind verschiedene Faktoren, letztlich wieder ähnliche, wie ich sie schon genannt habe, nämlich dass es auch hier eben vermehrte Abhängigkeit gibt. Wir haben einen hohen Grad der sozialen Isolierung bzw. der Angewiesenheit auf die eigene Community der Gehörlosen, einfach weil in Bezug auf die hörende Welt massive Barrieren bestehen.

Und das sind genau natürlich Faktoren, die Gewalt begünstigen, also z.B. in der Partnerschaft zu einem höheren Gewalt-Risiko führen können oder auch in der Familie: Kinder, die sich noch schwerer an andere hilfesuchend wenden können, wenn sie von Misshandlungen bedroht und betroffen sind. 

Matthias Klaus: Eigentlich dachte ich ja immer, dass zum Beispiel Geschichten über Gewalt in Wohnheimen irgendwie in diese dunkle Nachkriegszeit gehören. Und natürlich: Vom Dritten Reich brauchen wir gar nicht reden. Aber dass das so ein frühe-Bundesrepublik-Phänomen ist und dass damals alles ganz furchtbar war und inzwischen sind wir alle aufgeklärt und so etwas passiert nicht mehr. Ist es denn in irgendeiner Form besser geworden, wenn Sie das so betrachten? Die letzten 60 bis 70 Jahre?

Julia Zinsmeister: Also die Einrichtungen haben sich sicherlich geändert. Wir haben ja in der Zwischenzeit eine ganze Reihe von Studien, in denen eben auch wirklich die Geschichte der Einrichtungen, gerade auch im Hinblick auf Gewalt, Misshandlung, Ausbeutung aufgearbeitet wurde.

Und natürlich hat sich einiges geändert. Aber letztlich ist ja immer die Frage: "Was eigentlich bezwecken Einrichtungen?" Und: "Für wen hält man die Einrichtungen für den geeigneten Ort, dort zu leben?" Das war früher sicherlich so, dass generell Menschen mit Behinderungen auf Einrichtungen verwiesen wurden. Heute ist das ein bisschen differenzierter. Heute leben in Einrichtungen vor allem Menschen, die die Diagnose einer schweren geistigen Behinderung oder Mehrfach-Behinderung haben und Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Und das sind häufig dann Menschen, denen nachgesagt wird, dass sie sich selbst gefährden oder sich nicht selbst ausreichend vor Risiken schützen können. Aber dahinter steckt ja gleichzeitig auch die Idee, dass sie in diesen Einrichtungen besser vor sich selbst geschützt werden könnten.

Quasi: "Hier in der Einrichtung gibt es Fachkräfte, die besser für die Personen sorgen können als sie selbst" und die sich damit natürlich auch in einer Machtposition sehen, aus Fürsorge heraus motiviert dennoch die Person in ihrer Freiheit einschränken zu können.

Und das ist ein Kontinuum. Das hat sich nicht geändert. Ob das rechtlich alles zulässig ist, was in den Einrichtungen gemacht wird, sei dahingestellt. Aber diese Idee, dass man Menschen quasi in ihren Freiheiten beschränken darf, nur weil sie in einer Einrichtung leben, die hält sich kontinuierlich. 

Matthias Klaus: Was natürlich der UN-Behindertenrechtskonvention wahrscheinlich überhaupt nicht entspricht. Wenn ich da lese, dass es eher darum geht, dass Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit gefördert werden soll.

Julia Zinsmeister: Das ist richtig. Und die UN-Behindertenrechtskonvention sagt genau aus diesem Grunde ja auch in Artikel 19, dass jeder Mensch mit Behinderung selbst entscheiden kann, selbst entscheiden muss, ob sie oder er in einer sogenannten besonderen Wohnform leben möchte.

Damit ist genau gemeint, dass jeder, egal wie hoch der Unterstützungsbedarf ist, die Möglichkeit haben muss zu sagen: "Ich möchte in einer eigenen Wohnung leben und ich möchte persönliche Assistenz haben und nicht auf ein Heim verwiesen werden." Und dass ist in Deutschland in diesem Umfang leider noch nicht realisiert.

Matthias Klaus: Ist es jetzt einfach nur billiger oder gibt es irgendetwas, was gerade in Deutschland das selbstbestimmte Wohnen verhindert?

Julia Zinsmeister: Es sind sehr häufig Kostenfaktoren, also dort, wo eben tatsächlich mal die ambulante Pflege teurer ist als die stationäre. Da wird der Leistungsträger schon versuchen, eben auch die stationäre Unterbringung zu forcieren.

Das andere ist aber auch, dass wir natürlich zunehmend einfach Wohnungsmangel in Deutschland haben. Und der trifft natürlich gerade dann Gruppen wie diese Menschen mit Behinderungen in besonderem Maße.

Es gibt einen Mangel an barrierefreiem Wohnraum sowieso. Aber selbst, wenn ich nicht auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen bin, aber jetzt z.B. mich vorstelle und sage: "Ich bin Julia und ich habe eine geistige Behinderung," dann kann ich wahrscheinlich nicht damit rechnen, dass ich unter den 150 Bewerberinnen und Bewerbern auf die Wohnung sofort als erste den Zuschlag bekomme.

Und das führt auch immer mehr dazu, dass eben viele, die vielleicht die Chance hätten, eigentlich selbstständig zu wohnen, auch mit Billigung und Kostenzusage des Leistungsträgers einfach nicht den passenden Wohnraum finden.

Matthias Klaus: Sie haben sich mit dem Thema Schutz von behinderten Menschen vor Gewalt in Einrichtungen aus juristischer Sicht beschäftigt. Was sind denn die Ergebnisse Ihrer Untersuchung?

Julia Zinsmeister: Also ich habe jetzt gerade wieder eine Untersuchung abgeschlossen. Aber das Thema beschäftigt mich seit über 25 Jahren. Und wenn man an Schutz vor Gewalt denkt, dann denken die meisten natürlich immer zuerst ans Strafrecht. Aber letztlich hat das Strafrecht ja nicht vorrangig eine schützende Wirkung, sondern es geht darum, eine bereits begangene Tat quasi dann durch den Staat zu sanktionieren.

Und von daher interessiert mich immer vorrangig auch: Wie können wir Rechte von Menschen in anderer Form stärken, um eben auch tatsächlich präventiv Gewalt entweder zu verhindern oder aber dort, wo sie stattfindet, möglichst schnell auch Schutz herzustellen? Das ist im Bereich der familiären Gewalt die Frage nach wirkungsvollem Kinderschutz. Und hier haben wir zum Beispiel, wenn es um Kinder und Jugendliche mit Behinderungen geht, extreme Defizite, weil sich die Jugendämter häufig für diese Kinder gar nicht zuständig fühlen bislang, sondern sagen: "Dafür ist doch die Behindertenhilfe zuständig," die aber gar nicht diese Schutzkompetenz hat, die das Jugendamt hat.

Matthias Klaus: Bei Jugendämtern kennt man das ja, wenn sie der Meinung sind: "Kinder müssen aus einer Familie raus oder müssen geschützt werden", dass sie handeln dürfen. Die Leute, die Behindertenhilfe machen, dürfen das gar nicht.

Julia Zinsmeister: Genau. Die Behindertenhilfe hat nicht die Möglichkeit der Inobhutnahme - ein Kind aus der Familie herauszunehmen. Das muss das Jugendamt machen. Und dann muss aber natürlich für dieses Kind auch ein anderer sicherer Ort gefunden werden, wo es untergebracht werden kann.

Und auch da geht's wieder los. Wo sind die Pflegefamilien, die bereit sind, ein gehörloses Mädchen, das in der Familie sexuell missbraucht wurde, aufzunehmen und die auch in der Lage sind, es gut zu unterstützen? Wo sind die barrierefreien Einrichtungen, die genau auf diese Kinder auch eingestellt sind, also auch mit traumatisierten Kindern arbeiten können?

Und so passiert es dann eben, dass die Kinder nicht etwa in der Einrichtung landen, die am besten geeignet ist, mit ihnen mit ihren Misshandlungserfahrungen umzugehen, sondern sie landen halt in einer Behindertenhilfeeinrichtung, die zwar dann barrierefrei ist und die richtigen Physiotherapeutischen Angebote vielleicht bereithält, aber überhaupt nicht auf diese familiäre Situation der Kinder eingerichtet ist.

Matthias Klaus: Es sind 145, eine erschreckend hohe Zahl, Menschen mehr oder weniger angeklagt, da in Bad Oeynhausen. Die sind sich ja bestimmt nicht alle irgendwelcher Straftaten bewusst, sondern glauben im besten Wissen und Gewissen gehandelt zu haben. So etwas wie: ans Bett fixieren, einsperren. Da war auch vom Einsatz von Betäubungsgas die Rede. Gibt es juristische Konstellationen, wo sowas in Deutschland erlaubt ist?

Julia Zinsmeister: Also Freiheit-entziehende Maßnahmen sind in Deutschland in einem gewissen Rahmen erlaubt. Allerdings bedürfen sie immer der gerichtlichen Genehmigung. Bei Kindern und Jugendlichen ist diese Regelung ehrlich gesagt noch ziemlich neu. Bis 2017 war es tatsächlich möglich, dass alleine die Eltern darüber entschieden, ob ein Kind z.B. mit Bettgittern im Bett fixiert wird oder auch mit Gurten.

Jetzt unterliegen solche Maßnahmen einem gerichtlichen Genehmigungsvorbehalt. Ich habe vergangenes Jahr im Auftrag des Landesjugendamtes NRW eine Untersuchung durchgeführt, wo wir uns gerichtliche Beschlüsse gerade auch bei Kindern und Jugendlichen angeguckt haben und festgestellt haben, dass hier häufig freiheitsentziehende Maßnahmen genehmigt werden, obwohl sie nicht den gesetzlichen Voraussetzungen entsprachen oder das zumindest den Gerichtsbeschlüssen nicht zu entnehmen war.

Solche freiheitsentziehenden Maßnahmen sind nur zulässig, wenn sie der Abwendung einer erheblichen Fremd- oder Selbstgefährdung dienen und es kein milderes Mittel gibt. Wir haben bei vielen dieser Eingriffe durchaus den Eindruck gehabt, dass entweder es von vornherein an so einer erheblichen Gefährdung fehlte und über Alternativen, über alternative Schutzmöglichkeiten gar nicht erst groß nachgedacht wurde.

Matthias Klaus: Das heißt, es ist schlichtweg für die handelnden Personen einfacher.

Julia Zinsmeister: Das ist ein großes Risiko, tatsächlich immer bei solchen freiheitsbeschränkenden und eingreifenden Maßnahmen. Je weniger Personal (und wir haben zunehmend ein riesiges Personalproblem in den Einrichtungen, auch bei ambulanten Diensten) vorhanden ist, umso eher wird man dazu neigen, dann tatsächlich auch Freiheitseingriffe vorzunehmen. Also wenn man einen Menschen hat, der nachts z.B. immer aufsteht, durch die Einrichtung geht, alle aufweckt, dann wäre eine Möglichkeit zu sagen, wir legen eine Matte vors Bett, die ein entsprechendes Signal abgibt, wenn jemand drauf tritt und dann kommt sofort die Nachtwache und begleitet die Person einfach wieder zurück ins Bett oder beschäftigt sie eine Weile, damit die anderen nicht gestört werden. Es geht aber natürlich, wenn man diese Nachtwache nicht hat, auch so, indem man einfach die Bettgitter hochzieht - ja!

Matthias Klaus: Da sitzt man da und hört sich das an! Gibt es aus Ihrer Meinung gesetzliche Regelungen, die geändert werden müssten in Deutschland, um solche Vorkommnisse zu verhindern oder die Menschen in den Einrichtungen besser zu schützen?

Julia Zinsmeister: Also im Moment ist die Politik tatsächlich dabei, auch durchaus quasi unter dem Einfluss der UN-Behindertenrechtskonvention, unter dem Einfluss anderer völkerrechtlicher Konventionen hier nachzubessern, Einrichtungen in erhöhtem Maße zu verpflichten, gewaltpräventiv tätig zu werden, Schutzkonzepte zu entwickeln und so weiter.

Da tut sich einiges. Meines Erachtens nach müssen wir aber noch viel grundlegender nach der Legitimation von stationären Einrichtungen fragen, weil sich bestimmte strukturelle Ursachen eben nicht einfach beseitigen lassen. Das ist die eine Sache.

Das andere ist: Auch Gesetze sind immer nur so gut, wie sie umgesetzt werden. Und Gesetze sind leicht zu machen. Die Umsetzung hingegen, die ist häufig teuer. Da muss einfach auch wirklich Geld in die Hand genommen werden, um es gut zu machen. Und das bedeutet insbesondere für Menschen mit Behinderung wirklich alle Einrichtungen und Organisationen, die es gibt, wirklich für sie zu öffnen, barrierefrei zu gestalten. 

Wir haben insgesamt in Deutschland das Problem, dass viele der Organisationen, die ganz wichtige Anlaufstellen sind, zum Beispiel für Frauen, nach sexualisierter Gewalt, keine gesicherte staatliche Finanzierung haben.

Und wenn man sowieso immer quasi um die eigene Existenz bangen muss, dann ist das Thema Barrierefreiheit und Zugänglichkeit nicht unbedingt immer ganz oben auf der Agenda. Also da gibt es einiges zu tun. Und da reicht es nicht, immer nur die Gesetze zu ändern, sondern es muss tatsächlich auch in der Praxis einiges getan werden.

Matthias Klaus: Aber Sie würden schon auch sagen, dass es eigentlich bei zumindest großen Gruppen in Heimen, bei Unterbringung in Heimen mit wenig Personal, mehr oder weniger unausweichlich ist, dass da Sachen geschehen?

Julia Zinsmeister: Ja, davon gehe ich aus. Insbesondere, weil es ja auch quasi hier immer wieder auch um Menschen geht, die in diesen Heimen untergebracht werden, von denen es heißt, dass sie keine oder wenig Sozialkompetenz haben, dass sie z.B. sogenannte herausfordernde Verhaltensweisen an den Tag legen, quasi von vornherein eigentlich schwer gemeinschaftsfähig zu sein scheinen.

Ich sage das extra so vorsichtig, weil auf der anderen Seite, ihnen ja dann Lebensbedingungen angeboten werden. Die - finde ich - in vielerlei Hinsicht Aggression zwingend fördern müssen.

Matthias Klaus: Noch viel zu tun in Sachen Gesetz, noch viel zu tun in Sachen Heimunterbringung: Wie Menschen mit Behinderungen überhaupt leben, wie Selbstbestimmtheit ermöglicht wird, aber auch bei Fragen nach Gewalt in Familien und warum Menschen mit Behinderungen grundsätzlich Opfer von Gewalt sind. Heute im Podcast "Echt behindert!" war das Julia Zinsmeister. Ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie mir Auskunft gegeben haben.

Julia Zinsmeister: Sehr gerne.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Jingle: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.