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23.Meistens unsichtbar – Behinderung ohne äußere Merkmal

24. Juni 2021

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Viele chronische Krankheiten oder psychische Behinderung haben jedoch keine äußeren Merkmale. Das Hat Folgen.

Zum Podcast geht es hier. 

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. Ich bin behindert, sozusagen: "echt behindert" und man sieht es mir auch an. Ich laufe mit Blindenlangstock durch die Gegend, habe eine, sagen wir mal ungewöhnliche Mimik und Gestik und ich schaue Menschen nicht direkt ins Gesicht, wenn ich mit ihnen rede.

Naja, man sieht es eben einfach eigentlich so gut wie immer. Das hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil ist: Ich muss nicht immer sagen, was mit mir ist - nicht immer alles erklären. Der Nachteil ist: Ich kann mich nicht verstecken. Wirklich niemals. Ich bin immer markiert. Ich falle immer auf. Heute in "Echt behindert!" geht es genau darum, um sichtbare und vor allen Dingen um unsichtbare Behinderungen, auch um unsichtbare Krankheiten. Dazu begrüße ich Karina Sturm. Sie hat vorsichtig ausgedrückt Erfahrung mit diesem Thema. Guten Tag, Frau Sturm.

Karina Sturm: Hallo.

Matthias Klaus: Wie und wann hat das denn angefangen, dass Sie gemerkt haben: "Mit mir stimmt etwas körperlich nicht?"

Karina Sturm: Also in 2010 ging es bei mir ganz akut los mit neurologischen Beschwerden. Ich war damals bei einer ärztlichen Behandlung, hab Spritzen in meine Halswirbelsäule bekommen und dabei lief irgendwas ziemlich schief und ich war fast gestorben, und seitdem ging es praktisch stetig bergab.

Ich hatte dann ganz viele motorische Ausfälle. Das heißt, ich habe teilweise meine Beine nicht richtig gespürt. Meine Arme waren taub, meine halbe Gesichtshälfte war taub, aber ich habe verschwommen gesehen. Mir war die ganze Zeit schwindlig. Ich konnte kaum noch geradeaus laufen. Und daraufhin bin ich von Arzt zu Arzt.

Ich habe wahrscheinlich fast alle Fachrichtungen gesehen, die man nur sehen kann. Und unglaublich viele Fehldiagnosen erhalten hauptsächlich psychische Fehldiagnosen. Da war von Depressionen über Angststörungen fast jede Fehldiagnose dabei. Und dann hieß es immer, das wäre alles in meinem Kopf. Ich würde mir das nur einbilden.

Und daraufhin habe ich angefangen, selbst zu recherchieren, bin auf ein Krankheitsbild gestoßen: Das nennt sich Craniocervical Instabilität. Es ist im Endeffekt eine Instabilität von der oberen Halswirbelsäule, d. h. die ersten 2 Wirbel unter dem Kopf werden von den Bändern nicht richtig gehalten, Dadurch können die sich verschieben und drücken dann auf den Hirnstamm oder aufs Rückenmark. Und dadurch hatte ich diese ganzen Beschwerden. Das war meine erste Diagnose nach 6 Monaten. Das war aber noch nicht das Ende.

Matthias Klaus: Ja, also Sie waren lange unterwegs...

Karina Sturm: Ja.

Matthias Klaus: ...bei Ärzten. Heute wissen Sie ja, was sie haben. Wie lange hat es gedauert, bis es denn so weit war?

Karina Sturm: Ja, das hat insgesamt 4 Jahre gedauert. Also von 2010 bis 2014 - was aber eigentlich ziemlich schnell ist, also für die Seltenheit meine Erkrankung. Normalerweise brauchen Betroffene deutlich länger, bis sie eine Diagnose kriegen - teilweise sogar ungefähr 14 Jahre.

Das zeigt eine Studie der Europäischen Organisation für seltene Erkrankungen. Die haben herausgefunden, dass über die Hälfte der Betroffenen 14 Jahre oder länger bis zur Diagnosestellung brauchen. Also ich war noch sehr sehr schnell.

Matthias Klaus: Das Ehlers-Danlos-Syndrom kannte ich auch nicht. Wie... Wie selten ist es denn?

Karina Sturm: Da sind Sie in sehr guter Gesellschaft! Die meisten Menschen kennen das Ehlers-Danlos-Syndrom nicht und die meisten können es nicht mal aussprechen. Man sagt es betrifft einen in 5.000. Also das ist die aktuelle Aussage. Aber es gibt verschiedene Typen.

Manche sind extrem selten. So selten, dass sie kaum eine Handvoll von Leuten weltweit betreffen. Andere sind häufiger. Der häufigste Typ ist das hypermobile Ehlers-Danlos-Syndrom. Und da geht man mittlerweile von aus, dass das vielleicht nicht mal selten ist. Da denkt man, dass es sogar einen in 500 betreffen könnte. Aber da gibt's noch keine tatsächlichen Studien zu.

Matthias Klaus: Was bedeutet denn jetzt Ehlers-Danlos-Syndrom genau? Was haben Sie denn da jetzt eigentlich? Wenn es nicht nur der Nacken oder die Halswirbelsäule ist, sondern wahrscheinlich noch irgendwas anderes?

Karina Sturm: Ja, das ist sehr viel mehr: Das Ehlers-Danlos-Syndrom ist eine angeborene Bindegewebserkrankung. Und Bindegewebe ist praktisch überall im Körper. Das ist quasi der Kleber, der alles zusammenhält: in jedem Organ ist, in Bändern, in den Sehnen. Das heißt, es kann schlichtweg zu Symptomen überall im Körper kommen.

Das Problem ist aber, dass die Ehlers-Danlos-Syndrome selten alleine Auftauchen. Es gibt ganz ganz viele Begleiterkrankungen, von denen ich mittlerweile über 20 habe, habe ich heute gezählt. Und diese Begleiterkrankungen selber können auch wieder Symptome im ganzen Körper auslösen. Es ist im Endeffekt eine Multisystemerkrankung. 

Matthias Klaus: Ein paar Beispiele für Begleiterkrankungen?

Karina Sturm: Da gibt's zum Beispiel etwas, das nennt sich Mastzell-Aktivierungs-Syndrom. Es ist relativ häufig. Und dann gibt's etwas, das heißt, Dysautonomie. Die häufigste Form davon ist das posturale orthostatische Tachykardie-Syndrom. Es gibt Small-Fiber-Neuropathie. ...chronische Schmerzen. Ich meine, es ist mehr ein Symptom, aber das ist es, was die meisten Leute betrifft. Chronische Müdigkeit, und solche Dinge. 

Matthias Klaus: Fassen wir das mal zusammen: Ihnen tut einfach alles weh.

Karina Sturm: Das auch. Ja. (Karina lacht)

Matthias Klaus: (Matthias lacht) Was ist das denn jetzt? Eine Behinderung? Eine Einschränkung oder eine Krankheit? Wie würden Sie denn selber drüber reden?

Karina Sturm: Also generell würde ich sagen, es ist eine Krankheit. Ob sich jemand, als Mensch mit Behinderung oder als behindert sieht, das ist glaube ich sehr individuell. Vor allem, weil das Ehlers-Danlos-Syndrom ein Spektrum ist. Also die Leute können mild betroffen sein und wenig eingeschränkt. Und es gibt Leute, die sind sehr, sehr schwer betroffen.

Persönlich würde ich sagen, dass ich behindert bin. Ich bin auch eher auf der schwer betroffenen Seite. Also meine Einschränkungen im Alltag sind schon ziemlich groß und daher identifiziere ich mich als Behinderter. Aber ich glaube, der Übergang ist relativ fließend. Es gibt da einen Haufen chronische Krankheiten, die nicht gleichzeitig auch eine Behinderung sind. Und andersherum gibt es auch Behinderungen, die keine chronische Krankheit zugrunde liegen haben.

Matthias Klaus: Aber weggehen tut es nicht wieder.

Karina Sturm: Nein, das wird nicht wieder weggehen. Zumindest gibt es noch keine Heilung. Aber wer weiß, was die Forschung da irgendwann in der Zukunft bringt?

Matthias Klaus: Zum Thema Was ich angekündigt habe "sichtbar und unsichtbar." Das ist jetzt erst mal unsichtbar. Letzte Folge habe ich hier mit Eileen Lensch gesprochen. Es ging darum, wie es das erste Mal ist, wenn man mit Rollstuhl im Büro aufschlägt. Sie haben auch einen Rollstuhl. Wie war das, den zum ersten Mal benutzt zu haben? So rein gefühlsmäßig?

Karina Sturm: Also ich habe selbst für mich zuhause noch keinen Rollstuhl. Aber ich nutze gerade für längere Strecken am Flughafen z.B. oder wenn ich irgendwie in einem Freizeitpark bin einen Rollstuhl. Das erste Mal war sehr, sehr seltsam. Vor allem: plötzlich ist die Behinderung sichtbar.

Aber man wird deswegen trotzdem nicht unbedingt besser behandelt. Es ist nur eine andere Art von Erfahrung. Aber es ist z.B. gerade dieses Konzept, dass man im Rollstuhl ist, aber dann trotzdem aufstehen und gehen kann. Das ist für viele Leute sehr, sehr schwer verständlich.

Und da hört man ganz viele sehr unangenehme Sprüche von Leuten. Wenn man dann z.B. am Flughafen zum Gate gefahren wird, weil es die lange Strecke ist. Aber dann kann ich trotzdem aufstehen und die paar Schritte zur Toilette zurücklegen. Und ja, da wird man sehr, sehr krumm angeschaut und es ist extrem unangenehm. 

Matthias Klaus: Und dann gelten Sie als Simulant?

Karina Sturm: Zum Beispiel, ja! (beide lachen) Das ist das Konzept, das in den Köpfen von den Leuten ist: Jemand, der im Rollstuhl sitzt, der darf nicht laufen können. Und jemand, der läuft, der darf nicht ab und zu einen Rollstuhl benutzen müssen, weil man nicht versteht, warum das so ist. 

Matthias Klaus: Sie sind dann mal sichtbar und mal unsichtbar behindert, aber tendenziell eher unsichtbar behindert. Bis Sie Klarheit über Ihre Erkrankung hatten, ging das ja eine Weile. Ärzte haben Ihnen ja auch erst mal nicht geglaubt, dass sie überhaupt was hatten. Wie fühlt man sich denn da, wenn man dann immer wieder erzählt, bekommt: "Ach, geben Sie sich mal ein bisschen Mühe. Vielleicht tut Ihnen was weh. Sie haben ja gar nichts."

Karina Sturm: Erstmal ist man sehr, sehr wütend und fühlt sich extrem hilflos. Ich meine, als Patient ist man ja ständig in dieser Abhängigkeits Position von Ärzten. Ich brauch was von den Ärzten, aber ich bekomme es nicht. Ich meine, gerade am Anfang, wo ich ganz, ganz schwere Symptome hatte, wo ich teilweise nachts aufgehört habe zu atmen, haben die Ärzte mir einfach gesagt, ich wäre bissel hysterisch und ich würde mir das einbilden.

Oder andere haben mir erzählt: Das ist bloß ein bisschen niedriger Blutdruck. Ich bin eine junge Frau, ich soll einfach mehr Sport machen. Und ich lag quasi zuhause und dachte: "ich muss sterben" und habe im Endeffekt keine Hilfe von irgendjemandem bekommen. Also für mich war das wie als würden mir die Leute, denen ich eigentlich immer vertraut habe, beim Sterben zuschauen.

Und natürlich hat man dann auch wahnsinnige auch. Und die nächste Reaktion dann, nachdem ich diagnostiziert worden bin und endlich wusste, was mit mir nicht stimmt und ich dann ja schon Jahre an falschen Diagnosen hinter mir hatte...

Und was man auch immer wissen muss, ist: Falsche Diagnosen führen zu falschen Therapien und diese falschen Therapien führen zu sehr, sehr viel Schaden. Also ich habe im Endeffekt mehr Schäden an meinen Gelenken, jetzt von falschen Therapien, die ich damals bekommen habe.

Und dann wird man natürlich extrem wütend, weil man sich denkt: "wieso hat das jetzt sein müssen." Da gab es keinen Grund für. Also es gab keinen Grund dafür, dass man mir meine Symptome nicht hätte glauben sollen. Die waren alle eigentlich sehr eindeutig.

Matthias Klaus: Hängengeblieben bin ich in ihrem Blog am Wort "Gaslighting." Was ist das und was hat das jetzt mit Ihnen zu tun?

Karina Sturm: Ich glaube die einfache Erklärung in Bezug auf Medizin und als Patient ist, dass der Arzt einem praktisch einredet, dass man sich die Erkrankung nur einbildet und einen quasi dahin manipuliert, dass man sich selbst anzweifelt. Und das geht so weit, dass man irgendwann als Patient dem Arzt auch glaubt und sich denkt: "Okay, vielleicht hat er Recht. Vielleicht rede ich mir das wirklich einfach nur ein."

Es ist extrem traumatisierend und hat ganz, ganz starke Langzeit-Konsequenzen, weil die Patienten den Ärzten nicht mehr trauen. Selbst wenn sie die Diagnose haben, haben sie immer wieder Angst, dass sie so behandelt werden und dann gehen sie einfach auch gar nicht mehr zum Arzt deswegen.

Matthias Klaus: Aber was glauben Sie warum tun Ärzte sowas? Ein Arzt oder eine Ärztin, sind doch dafür da, um Kranke zu heilen oder herauszufinden, was den Leuten fehlt, die zu ihnen kommen.

Karina Sturm: Ich glaube, da gibt's mehrere Gründe. Einmal gerade in Deutschland, glaube ich, hängt es auch ein bisschen mit am Zeitmangel. Jemand wie ich, der so viele verschiedene Symptome und Krankheiten hat, ist sehr, sehr komplex und vielschichtig. Und das Gesundheitssystem, glaube ich, ist nicht darauf ausgelegt, auf solche Patienten. 

Und die Ärzte bekommen die Zeit halt auch nicht bezahlt die sie investieren müssten. Also: Mit 5 Minuten kommt man halt einfach nicht weit und auf der anderen Seite glaube ich liegt es auch daran, dass ganz wenig Wissen zu EDS (Ehlers-Danlos-Syndrom) gerade im Medizinstudium beigebracht wurde.

Ich meine: Wenn die Ärzte einmal im Studium von der Erkrankung hören und dann sehen die 20 Jahre später vielleicht mal einen Patienten, ist es wahrscheinlich sehr schwer, die Krankheit zu erkennen. Und das dritte, was ich immer wieder sehe, gerade auch als Journalistin in dem Bereich, ist der Gender Bias - also, dass immer noch die Frau gesehen wird, als diese hysterische Person, die übertreibt und die dann sagt, sie hat Schmerzen, "Aber so schlimm ist es eigentlich nicht."

Wohingegen Männer oft immer noch als "die starken Männer" gesehen werden, die ihre Schmerzen eher untertreiben, obwohl das natürlich beides eigentlich Quatsch ist.

Matthias Klaus: Sie sind, wie soll man sagen, entmündigt worden. Sie schreiben auch von "traumatisiert." Das ist ja jetzt erst einmal ein starkes Wort. Können Sie da drüber sprechen, was das für ein Trauma ist? Vor was haben Sie Angst? Was könnte Ihnen passieren oder was bringt Sie in Zustände, die nicht gut für Sie sind? 

Karina Sturm: Ich glaube, das Trauma ist sogar das richtige Wort dafür. Viele Betroffene von EDS haben sowas wie eine posttraumatische Belastungsstörung. Dadurch, dass sie von Ärzten so oft so schlecht behandelt werden.

Und das sind nicht nur die Ärzte. Wenn man chronisch krank ist, muss man zum Beispiel auch viel mit der Krankenversicherung um Hilfsmittel streiten, Rente beantragen und die Rentenverfahren sind ewig und die Gutachten sind wahrscheinlich noch traumatisierender als alles andere.

Also das ist dieses ständige angezweifelt-werden und ständig zu hören, dass man sich die Sachen nur einbildet oder, dass man vielleicht einfach nur zu faul zum Arbeiten ist und sich nicht genug anstrengt und solche Dinge.

So ist es extrem schwer zu ertragen. Also auch die ganze Wut und der Frust, der damit kommt, sind schwierig zu ertragen. Und generell: Wenn man eh schon mit einer chronischen Krankheit lebt, dann durchläuft man auch schon irgendwie diesen Trauerprozess, wo man am Anfang die Krankheit nicht wahrhaben will, wo man sehr wütend drüber ist, und irgendwann kommt man halt bei Akzeptanz raus. Aber das ist ein Prozess, der ewig lang dauern kann. 

Matthias Klaus: Akzeptanz stellt sich ja nicht einfach so von selbst ein. Wie sind Sie denn da rausgekommen, dass Sie jetzt irgendwann sagen: "So, und jetzt lasse ich mich davon aber nicht mehr (sozusagen) lähmen." Sondern - was macht man dann? Sagt man dann: "Blöde Ärzte, ihr habt sowieso keine Ahnung!"? Oder wie geht das dann weiter?

Karina Sturm: Ich hab an dem Punkt, an dem ich langsam nicht mehr so wütend über das war, was mir passiert ist, mit Ärzten und so...

Weil irgendwann denkt man sich halt auch: "Ich habe gar nicht die Energie dafür, in der Vergangenheit zu leben und muss irgendwann einfach loslassen und halt nach vorne schauen und versuchen, das Beste aus seinem Leben zu machen." Aber ich habe schon den Ärzten, die mich besonders schlecht behandelt haben, damals Briefe geschrieben und ihnen erzählt, dass ich jetzt eine Diagnose habe und was sie alles übersehen haben. Aber da kam nie irgendetwas. Das hat mich auch nicht wirklich weiter gebracht.

Matthias Klaus: Das heißt, es gab keine klärenden Gespräche oder vielleicht mal eine Entschuldigung?

Karina Sturm: Es gab tatsächlich einen Arzt, bei dem bin ich auch heute noch in Betreuung. Der hat halt damals auch nicht genau gewusst, was es ist und hat mir eben auch gesagt, dass er nicht glaubt, dass das was körperliches ist, sondern dass ich einfach depressiv bin.

Und als ich den drauf angesprochen hab nach der Diagnose hat er sich tatsächlich entschuldigt und hat gesagt, es tut ihm wahnsinnig Leid. Und er wird sich das für den nächsten Patienten merken. Und seitdem ist es einer meiner größten Unterstützer. Also das rechne ich ihm sehr sehr hoch an. Es hat kein anderer Arzt gemacht. 

Matthias Klaus: Das gibt es also auch.

Karina Sturm: Ja.

Matthias Klaus: Inzwischen schreiben Sie Artikel und machen Filme, unter anderem über das Ehlers-Danlos-Syndrom. Woher kam dann der Entschluss mit diesen Themen, die ja auch persönlich sind? Sie sind ja jetzt auch hier mit Ihrer persönlichen Geschichte. Woher kam der Entschluss damit an in die Öffentlichkeit zu gehen?

Karina Sturm: Ich glaube einfach aus Notwendigkeit. Ich wollte einfach nicht, dass es anderen Leuten genauso geht wie bei mir. Und ich hatte schon immer einen sehr, sehr starken Gerechtigkeitssinn und ich wollte einfach etwas verändern. Ich dachte mir, das kann doch nicht sein, dass ich vier Jahre gebraucht habe, bis ich eine Diagnose kriege und so viel Schaden erleide während der Zeit.

Und dann war halt die Sache, dass ich ohnehin schon immer viel geschrieben habe. Ich habe als Kind immer Tagebuch geschrieben. Dann, als ich chronisch krank geworden war, war mein Tagebuch praktisch mein Bewältigungsmechanismus, also wie ich in irgendeiner Form einigermaßen stabil geblieben bin.

Und ja, der Journalismus war quasi der nächste logische Schritt. Und dadurch, dass ich... ich habe eine Ausbildung zur Arzthelferin abgeschlossen und dann eine Ausbildung zur Medizinisch-Technischen Laborassistentin (MTLA) und habe dann in der Forschung gearbeitet.

Und dann hab ich eben dadurch, dass ich in der Forschung tätig war, ein paar akademische Publikationen geschrieben. Und ich dachte: Das ist mein medizinisches Wissen, das ich habe. Zusätzlich hab ich die persönliche Erfahrung mit chronischer Krankheit und Behinderung. Das Beste, was ich mache ist, dass ich dieses ganze Wissen einfach bündele und dann auf einem Blog kombiniere.

Matthias Klaus: Sie haben Journalismus studiert, allerdings nicht in Deutschland, wie ich lesen konnte.

Karina Sturm: Nee, ich habe Journalismus in Edinburgh studiert, in Schottland. Aus dem einfachen Grund, weil es tatsächlich weltweit nicht einen Studiengang für Journalisten gab, den ich machen hätte können mit meinen Einschränkungen. Also weil das sehr, sehr flexibel hat sein müssen. Es musste ein vollständiger Online Studiengang sein und natürlich musste der auch bezahlbar sein, weil als chronisch Kranke hat man jetzt auch nicht unbedingt die Mengen an Geld. Und Edinburgh war der einzige Studiengang, der zugänglich für mich war.

Matthias Klaus: Das heißt, die haben nicht erst einmal geguckt: "Oh, behindert, wie geht das denn?" Sondern "hier kommen Sie mal einfach." Oder wie ging das?

Karina Sturm: Wir haben schon drüber gesprochen über Dinge, die ich brauche. Aber das war relativ einfach, nachdem es vollständig online war. Also hab ich da nicht sonderlich viele Dinge gebraucht, was Barrierefreiheit angeht. 

Zum Beispiel hätte ich die Möglichkeit gehabt, dass ich z.B. Verlängerungen für Prüfungen beantragen hätte können, was ich zum Glück nicht musste. Aber halt alles, um ein bisschen besser angepasst zu sein auf mögliche Komplikationen:  Wenn mein Ehlers-Danlos-Syndrom sich mal wieder irgendwie verschlechtert und ich halt zwei Wochen flach liege und ich in der Zeit Natürlich keine arbeiten einreichen kann, dann wäre das auch gegangen. Also das war sehr flexibel.

Matthias Klaus: Und das wäre in Deutschland so nicht gegangen?

Karina Sturm: Nee, ich hab's versucht, aber das war alles mit Präsenzzeiten. Und die haben da auch keine Ausnahme gemacht, auch wenn ich meine Situation erklärt habe. Und auch wenn ich gesagt hab: "Ich kann Atteste vorlegen und ich kann das zu Hause nachholen. Ich kann mich via Skype zuschalten für die Präsenz Zeiten". Aber das war alles ein absolutes "No go." Das war allerdings vor COVID. 

Matthias Klaus: Ja, ja, das ist interessant. Seit 16 Monaten ist keine Uni auf. Also jetzt ist das auch kein Problem.

Karina Sturm: Auf einmal geht das alles. Das ärgert mich furchtbar. Das ist im Endeffekt wie ein Schlag ins Gesicht! (Karina lacht)

Matthias Klaus: Das kann ich mir vorstellen. Sie schreiben... Sie machen Filme - jetzt vielleicht nicht nur über das Ehlers-Danlos-Syndrom. Was sind die Themen, über die Sie schreiben? Lustigerweise, ja: Behinderungsbedingt entstandener Journalismus. Worum geht es bei Ihnen?

Karina Sturm: Also ich habe den einen großen Bereich: Das ist  Medizinwissenschaft. Das sind dann eher so Fachartikel, die schreibe ich meistens für die Österreichische Ärztewoche. Und der andere große Bereich ist chronische Krankheit und Behinderung.

Und ich habe auch meine Masterarbeit darüber geschrieben, wie man die Darstellung von Menschen mit Behinderung in Medien verbessern kann, weil die ja doch oftmals sehr wenig akkurat ist. Und genau da versuche ich mich darauf zu spezialisieren, dass ich Leute eben akkurat darstelle. Allerdings ist das auch ein Lernprozess. Ich lerne auch praktisch jeden Tag wieder was Neues dazu.

Matthias Klaus: Ah. Das mache ich hier auch seit einem Jahr! Das ist sehr interessant. Was haben Sie herausgefunden? Wie kann man Menschen mit Behinderung akkurater darstellen in den Medien, als das bisher geschehen ist?

Karina Sturm: Ganz einfach, indem man sie mit einbezieht. Gerade was die Sprachwahl angeht, habe ich festgestellt: Ich fahre eigentlich am besten, wenn ich die Person einfach frage: "Wie willst du genannt werden?" Also ich entscheide nicht!

Da gibt's dieses "Identity First vs. Person First" -  also ob man sagt "Mensch mit Behinderung" oder "behinderter Mensch". Und da streiten sich ja auch so ein bisschen die Leute, was ihnen halt Lieber ist. Und ich frag einfach die Person: "Willst du lieber Mensch mit Behinderung genannt werden oder behinderter Mensch?" Und dann bekommt man die Antwort, die man will und dann ist es relativ einfach, die akkurat darzustellen.

Ich meine, man muss einfach nur mit den Leuten reden und die mit einbeziehen. Und ich glaube auch was einen großen Unterschied macht ist, wenn die Journalisten, die über das Thema schreiben, selber mit einer Krankheit oder Behinderung leben, weil die einfach auch schon ganz andere Fragen stellen und anders auf die Leute zugehen.

Matthias Klaus: Sie sind eine eifrige Bloggerin. Wie muss denn so ein Thema sein, dass Sie selber den Impuls verspüren, drüber schreiben zu wollen?

Karina Sturm: Ich glaube, ich schreibe viel vom Herzen raus! Also für mich ist das ganz oft ganz sicher, wenn man was Negatives erlebt, ist das immer gerne ein Anlass, dass man was drüber schreibt, dass man die Leute aufklärt. Ich meine, das ist ganz oft, wenn ich irgendwie negative Kommentare bekomme von Leuten, die nicht wirklich verstehen, was unsichtbare Behinderungen sind, dass ich dann eben einen Blogpost basierend auf diesem Kommentar verfasse und dann halt versuche darüber aufzuklären.

Oder wenn mein Arzt mir sagt, ich soll keinen Rollstuhl nutzen, weil er Angst hat, dass ich sonst gar nicht mehr laufe. Was auch so ein Typisches ja, Fehlbild von dem Rollstuhl ist. Das sind so Anlässe, wo ich dann das Gefühl habe, da muss ich irgendwas drüber schreiben, damit Leute das verstehen. Wobei ich gar nicht weiß, ob ich die Leute, die es verstehen müssen, überhaupt erreiche damit.

Matthias Klaus: Ja, das ist die Frage. Wenn Sie schreiben, z.B. bei "Die neue Norm" oder Sie sind jetzt hier in diesem Podcast und natürlich haben wir immer wieder irgendwie den Verdacht wir... Wie heißt das? "Preaching to the choir." 

Karina Sturm: Ja, genau! (Karina lacht)

Matthias Klaus: Also man erzählt es den Leuten, die es eh alle schon wissen und dann fühlen sie sich wie im Kabarett und dann fühlen sich alle wohl zusammen und sagen "Ja, genauso ist es."

Karina Sturm: Genau.

Matthias Klaus: Aber wie kriegen wir das unter die Leute? Also - haben Sie da eine Idee? Wie kann man das machen? Diese Themen, die ja doch vor allen Dingen dadurch so wichtig sind, dass eben viele Menschen gar nichts oder sehr wenig wissen, dass die das Lesen?

Karina Sturm: Das ist eine wahnsinnig gute Frage. Das versuche ich auch herauszufinden. Ich versuche halt oftmals, Themen so zu verpacken, dass die auch für Leute interessant sind, die nicht behindert oder chronisch krank sind. Das ist aber wirklich schwer, weil: Wieso soll ich mich als gesunder Mensch mit dem Thema befassen, wenn ich überhaupt keinen Bezug dazu habe?

Ich weiß nicht, ob ich das machen würde, wenn ich noch gesund wäre. Man will nicht die ganze Zeit was über Krankheit hören. Es ist immens schwierig. Ich glaube, "Die neue Norm" und Ihr... Ihr macht da schon total einen guten Job! 

Ich denke, was halt auch wichtig ist, ist, dass man die Leute einfach draußen auf der Straße anspricht und aufklärt. Wenn ich irgendeinen komischen Kommentar krieg, dafür, dass ich einen Rollstuhl nutze, versuche ich, dass ich zu den Leuten freundlich bin und die darüber aufkläre, warum ich im Rollstuhl bin, aber trotzdem laufen kann. Und ganz oft verstehen die Leute das auch.

Die meinen meistens eigentlich gar nichts Böses. Die haben einfach halt nur eine völlig falsche Vorstellung von dem ganzen Thema.

Matthias Klaus: Wie ist das? Kann man das immer trennen, dass man sagt: "Okay, Behinderung, wir werden behindert, soziales Modell und das alles. Das ist die Umwelt, die mich behindert." Oder gibt's einen Tag, wo sie ihre körperlichen... Ich sage jetzt mal vorsichtig das Wort "leiden" auch richtig nicht leiden können?

Karina Sturm: (Karina lacht) Ja, das gilt auf jeden Fall. Also ich glaube, man muss da manchmal auch ein bisschen unterscheiden zwischen Leuten, die eine Behinderung haben aufgrund von einer chronischen Erkrankung und Leuten, die eine Behinderung haben ohne eine chronische Erkrankung.

Da gibt's ja immer diese Diskussionen drüber, die so ganz, ganz gefährlich sind über das Thema: "Sollen wir eine Behinderung heilen. Weil Behinderung an sich ist nichts, was geheilt werden muss". Es ist nicht wie ein kaputtes Auto, das man reparieren muss. Aber dann gibt's auf der anderen Seite Leute wie mich, die behindert sind wegen einer doch ziemlich einschränkenden, schweren, chronischen Erkrankung. Und da denkt man sich natürlich schon manchmal: "Würde ich, wenn es eine Heilung gäbe, würde ich die nicht nehmen?"

Also ich bin mir echt nicht drüber klar, ob ich es machen wird oder nicht. Aber sicher denkt man manchmal darüber nach, gerade an den ganz, ganz schlechten Tagen, wo man halt irgendwie in einem dunklen Raum auf dem Sofa liegt und sich den ganzen Tag nicht bewegen kann. Fragt man sich schon: "Muss das jetzt sein?" Also dann zweifelt man doch schon öfter mal dran.

Matthias Klaus: Es ist ja umstritten. Gerade in der aktivistischen Szene ist man sich nicht immer sicher, ob das nicht sozusagen: "Wer geheilt werden will, fördert die alten Denkweisen über Behinderung. Und das verdirbt uns die Preise. Und dann? Dann haben wir Diskussionen, die wir nicht wollen, weil dann die Leute, die mit ihrer Behinderung klar kommen, auch wieder bedauert werden. Und kann man euch nicht auch heilen?" Wie sehen Sie das?

Karina Sturm: Ich kann beide Seiten verstehen. Und ich muss ehrlich sagen, dass ich glaube, dass meine Krankheit und Behinderung mir sehr, sehr viel beigebracht hat und auch meine Perspektive unglaublich erweitert hat in Bezug auf ganz, ganz viele Themen. Also nicht nur in Bezug auf Behinderung, was ja auch eine Minderheit ist im Endeffekt, sondern auch auf andere Minderheiten, z.B. weil es so viele Überlappungen gibt, dass man sich plötzlich für ganz andere Themen interessiert.

Ich glaube generell, dass ich, seit ich krank bin, eine deutlich nettere, verständnisvollere Person geworden bin und das möchte ich alles eigentlich nicht hergeben. Das sind Sachen, die mich wahnsinnig bereichert haben. Ich glaube auch, dass ich nie im Journalismus gelandet wäre, wenn ich nicht krank geworden wäre.

Das ist im Endeffekt meine absolute Leidenschaft und irgendwie meine Berufung, deswegen. Aber natürlich, wie gesagt: An schlechten Tagen würde man sich manchmal schon wünschen, dass das Leben vielleicht ein bisschen einfacher wäre.

Matthias Klaus: Wenn jemand von Ihnen, Karina Sturm, mehr lesen möchte: Wo muss er/sie da hingehen? TikTok. Facebook. Twitter. Normales Internet? Wo findet man Sie?

Karina Sturm: Also ich habe einen Blog, der ist unter www.holy-shit-i-am-sick.de. Ich habe so ein journalistisches Profil unter www.karina-sturm.com. Ich hab eine Film Website für meinen Film "We are Visible." Und dazu hab ich auch überall Facebook, Twitter, LinkedIn, Vimeo, YouTube. Ja, das war's, glaube ich.

Matthias Klaus: All die Links dazu gibt's hier natürlich auf unserer Begleit-Webseite. Man kann es ja nicht so schnell mitschreiben. Karina Sturm heute über sichtbare und unsichtbare Behinderung und chronische Krankheit. Das war "Echt behindert!" Frau Sturm, ich danke Ihnen sehr herzlich, dass Sie Zeit für uns hatten.

Karina Sturm: Vielen lieben Dank, dass ich da sein durfte.

Matthias Klaus: Mein Name ist Matthias Klaus.

Jingle: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.

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