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29. Wie geht eigentlich taub sein?

15. September 2021

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: 83.000 Menschen in Deutschland gelten als gehörlos. Sie nutzen Gebärdensprache und sie haben eine eigene Kultur.

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus. Vor ein paar Monaten gab es hier eine Folge zum Thema "Blindheit". Ich bin blind, da kenne ich mich aus, will ich mal so sagen. Also Blindheit ist für mich überhaupt kein unvertrautes Gebiet. Heute gibt es eine Folge zum Thema "gehörlos" zum Thema "Taubheit". Da habe ich überhaupt keine Ahnung von.

Und das hat neben dem normalen "keine Ahnung von etwas haben" auch noch andere Gründe: Denn Verständigung zwischen blind und taub ist eine schwere Sache. Was ich sage, kann der Mensch, der taub ist, nicht hören. Was er oder sie mir zeigt, gebärdet mit Gesten kann ich natürlich auch nicht wahrnehmen. Das heißt, wir haben ein Verständigungsproblem.

Um dieses Verständigungsproblem zu überbrücken, brauchen wir Dolmetschung. Deshalb wundern Sie sich nicht, wenn ich gleich Fragen an einen Mann stelle und eine Frauenstimme antwortet. Heute bei mir zu Gast ist Wille Zante vom Deutschen Gehörlosen-Bund.

Wille Zante: Ja, hallo und vielen Dank für die Einladung,

Matthias Klaus: Herr Zante, Sie sind vom Deutschen Gehörlosen-Bund. Können Sie mir sagen, wen vertreten Sie?

Wille Zante: Ich bin Referent für Presse und Öffentlichkeitsarbeit. Das heißt, ich vertrete den Deutschen Gehörlosen-Bund und der Deutsche Gehörlosen-Bund vertritt alle tauben Menschen, die Gebärdensprache benutzen in Deutschland. Der Deutsche Gehörlosen-Bund ist Dachverband für mehrere Landesverbände und fast alle Bundesländer in Deutschland haben einen Landesverband und sind Mitglied im Deutschen Gehörlosen-Bund. Und es gibt auch noch Fachverbände und andere Verbände, zum Beispiel der Dolmetsch-Verband und verschiedene andere, die auch Mitglied im Deutschen Gehörlosen-Bund sind. Das ist die grobe Struktur.

Matthias Klaus: Wie groß ist denn die Gruppe der gehörlosen Menschen in Deutschland?

Wille Zante: Man sagt in Deutschland gibt es etwa 83.000 Gehörlose. Und dann gibt es auch eine Zählung derjenigen, die einen Schwerbehinderten- oder Behindertenausweis haben und die darin das Merkzeichen "GL" haben für gehörlos. Und da gibt es die genaue Zahl von 50.000. Aber die Dunkelziffer ist möglicherweise noch etwas höher. Das könnte also stimmen mit der Anzahl von 83.000. Und das ist auch die Zahl, die der Deutsche Gehörlosen-Bund nutzt.

Und wenn darin auch die Menschen sind, die Gebärdensprache nutzen, das heißt gehörlose Familien, wo die Eltern vielleicht gehörlose Kinder haben und die Eltern auch Gebärdensprache nutzen, oder andere Familienmitglieder, die die Gebärdensprache auch nutzen, die so  ein bisschen gebärden können - wenn man die alle zusammenzählt, dann sind es vielleicht 250.000, die die Gebärdensprache nutzen.

Matthias Klaus: Es gibt in der deutschen Sprache das Wort "taubstumm". Das gibt es immer noch. Es gibt eine Website, die heißt nichtstumm.de Die wendet sich gegen das Wort taubstumm. Können Sie mir sagen, was ist problematisch am Wort taubstumm? 

Wille Zante: Das ist sehr einfach zu beantworten, weil ich die Texte dieser Webseite selber geschrieben habe. Das Grundproblem ist eigentlich, dass das Wort "taubstumm" das Wort "stumm" enthält, und etymologisch kommt das von "dumm". Das ist irgendwann zu stumm geworden und deswegen lehnen wir das ab.

Das heißt, diese Assoziation besteht immer noch, dass Menschen, die stumm sind, dumm sind. Im Englischen zum Beispiel ist es auch immer noch so. Da gibt es das Wort "deaf" und "deaf and dumb", und das Wort "dumb" bedeutet "stumm" und "dumm" tatsächlich. Also da ist das Wort tatsächlich auch immer noch genau das gleiche.

Und deswegen ist es einerseits problematisch wegen der Bedeutung. Und zum anderen bedeutet das, wenn man das Wort stumm hört, dass man sich nicht ausdrücken kann, dass man keine Sprache hätte. Und das stimmt nicht. Wir haben die Gebärdensprache. Wir können uns ausdrücken. Wir sind nicht stumm. Wir können unsere Meinung sagen. Wir können uns ausdrücken, nur eben über eine andere Modalität.

Matthias Klaus: Es gibt das Wort "gehörlos" und es gibt das Wort "taub". Welches finden Sie besser?

Wille Zante: Das ist tatsächlich unterschiedlich: Es gibt ja gehörlose taube Menschen. Ich benutze es mal so, mal so. Ich benutze es auch abhängig davon, mit wem ich spreche oder um wen es geht. Auch die Menschen sind unterschiedlich. Auch von den Fragen hängt es ab: Kann die Person gebärden oder nicht? Nutzt sie das Mundbild beim Gebärden oder lässt sie es weg? Wenn man zum Beispiel das Wort "gehörlos" ausführt, als Gebärde, kann man das Mundbild dazu weglassen, so dass man weder taub noch gehörlos sieht im Mundbild, sondern einfach den Mund geschlossen hält. Dann ist das umgangen, dieses Problem.

Ursprünglich war die Entwicklung quasi so: Vor 10 oder 20 Jahren wurde nur noch "gehörlos" genutzt und plötzlich kam es auf, dass man gesagt hat: "Hmmm, lass uns lieber 'taub' benutzen". Und genau das kam in den USA auf. Das Wort "deaf" wurde da genutzt für "taub" oder auch für "gehörlos". Und wenn man es dort mit kleinem "d" schreibt, dann ist das die medizinische Perspektive, die ich vorhin erwähnt hatte, dass etwas kaputt ist. Wenn man das "Deaf" mit großem "D" schreibt, dann wird damit die kulturelle Identität ausgedrückt und die kulturelle sprachliche Identität.

Und im Deutschen kann man das so nicht eins zu eins umsetzen, weil wir unterschiedliche Wörter dafür nutzen. Und deswegen hat man gesagt: "Okay, das Wort 'taub' würde das doch vielleicht wiederspiegeln". Und das kann man so ein bisschen vergleichen mit der englischen Schreibweise von "deaf" mit kleinem bzw. großem "D".

Und ich kenne auch Gehörlose, die sagen, ihre kulturelle Identität ist "taub" und die benutzen aber trotzdem das Wort "gehörlos". Die sind aber total in der Kultur drin, benutzen die Gebärdensprache, deren Eltern sind vielleicht sogar auch taub und vielleicht auch weitere Verwandte, und trotzdem benutzen sie lieber das Wort "gehörlos". Das ist wirklich absolut individuell. Aber so mal grob, das ist die Entwicklung oder was damit angedacht ist mit diesen Wörtern.

Matthias Klaus: Es ist aber also auch so einer dieser Begriffe der Selbstaneignung, Selbstermächtigung auch...

Wille Zante: Ja, das kann man so sagen. Viele sagen auch "gehörlos": da steckt das Wort "los" drin wie: etwas verloren - man hat etwas nicht und das ist doch recht negativ konnotiert. Bei "taub", da hat man andererseits ja auch taub wie: die Hand ist taub, das Bein ist taub. Da fehlt ja auch irgendwas - "empfindungslos" sozusagen. Beide Wörter haben eigentlich so negative Konnotationen.

Matthias Klaus: Das kennen wir von "blind" auch. Das Wort wird ja auch gern benutzt für ignorant, unverständig, dumm. All diese Dinge. Wir haben ein ähnliches Problem da an der Stelle.

Wille Zante: Ah ja!

Matthias Klaus: Eine Frage zum Alltag: Haben Sie ein paar Beispiele, wo der Alltag von gehörlosen Menschen anders ist als der von Hörenden?

Wille Zante: Ein einfaches Beispiel wäre beim Fernsehen: Ganz oft, renne ich gegen Barrieren, weil Untertitel fehlen oder die Untertitel funktionieren nicht. Oder grundsätzlich fehlt das Angebot immer noch häufig oder die Untertitel sind einfach fürchterlich schlecht. Ganz oft wird da quasi einfach zusammengefasst. Wörter werden weggelassen und so weiter. Das wäre ein ganz einfaches Beispiel.

Oder bei Terminen zum Beispiel: Für Termine brauche ich in der Regel Dolmetscher, zum Beispiel, wenn ich zum Anwalt gehen möchte. Sagen wir mal: Ich möchte eine Person verklagen zum Beispiel. Ich habe also Lust und möchte jetzt eine Person verklagen. Ich habe auch eine Rechtsschutzversicherung und alles. Und dann brauche ich aber logischerweise Dolmetscher für das Gespräch und die muss ich aber selber bezahlen.

Das ist natürlich ziemlich teuer. Ich kann auch einen Antrag stellen für den privaten Bereich. Da werden manchmal die Kosten übernommen. Aber das ist von vielen Faktoren abhängig. Und dann muss man auch noch in Deutschland überhaupt erst mal Dolmetscher finden. In Deutschland gibt es nach wie vor einen großen Dolmetschermangel. Für 80.000 Gehörlose gibt es ungefähr 800 oder 900 Dolmetscherinnen - wenn's hoch kommt. Es gibt auf jeden Fall viel zu wenig. Das ist eine große Schwierigkeit.

Auch das Thema Telefonieren: Es gibt einen  Telefon-Dolmetschdienst. Per Kamera schaltet man sich zusammen. Das heißt, ich kann dann gebärden und wir telefonieren oder rufen an - per Telefon. Das muss aber auch bezahlt werden. Private Nutzung und berufliche Nutzung werden da getrennt, was die Kosten angeht. Für die private Nutzung kostet das ein paar Cent pro Minute. Das sollte eigentlich so nicht sein. Es sollte eigentlich mehr oder weniger kostenlos sein. Und interessanterweise ist weltweit Deutschland das einzige Land, wo es so ist, dass es überhaupt etwas kostet und auch, dass es eine Trennung gibt zwischen beruflichen und privatem Bereich.

Angenommen, ich würde jetzt eine Firma gründen und möchte irgendwo anrufen oder muss auch irgendwo anrufen, vielleicht um etwas zu bestellen oder, oder, oder. Dann muss das bezahlt werden. Und zwar muss dann erstmal ein Antrag beim Integrationsamt gestellt werden. Der muss erstmal bewilligt werden. Das kann sich bis zu sechs Monate hinziehen, bis ich überhaupt den Bescheid bekomme, dass der Bewilligungsprozess läuft. Da können schon mal sechs Monate vergehen und dann geht es überhaupt erst los. Und dann kann ich natürlich im Voraus erst mal selber bezahlen aus eigener Tasche. Das sind aber monatlich 250 Euro Grundgebühr und dazu kommen dann noch 1,70 Euro pro Minute. Das sind einfach unglaubliche Kosten. Und das ist für mich einfach eine unglaubliche Diskriminierung, weil wir so einfach diesen Zugang gar nicht haben.

Matthias Klaus: Reden wir mal konkret über Gebärdensprache: Gebärdensprache ist ja etwas, was man eigentlich sehen muss. Um es zu verstehen, lässt es sich in Worte fassen. Jetzt hier im Podcast wie Gebärdensprache funktioniert oder geht das gar nicht?

Wille Zante: Doch, klar! Das geht: Es gibt linguistische Forschung dazu. Gebärdensprache hat verschiedene Bestandteile. Einmal natürlich, die Hände. Die Hand besteht einmal aus der Handform. Es gibt verschiedene Handformen und wo sich die Hand befindet, an welcher Position: Weiter oben, weiter unten, rechts, links. Dann gibt es die Handstellung: ob die Hand gerade ist, ob sie waagerecht ist. Und dann kommt noch die Bewegung dazu, was für eine Bewegung ausgeführt wird, mit der Hand. Dann kommt aber auch noch der Körper dazu, der Oberkörper. Ist der dem Gegenüber komplett zugewendet oder ein wenig nach rechts oder links gedreht? Der Kopf kommt dazu. Wie wird der gedreht? Dann kommt noch die Mimik dazu. Die ist sehr wichtig, dass Mundbild!

Das sind ganz viele verschiedene Bestandteile. Da kann man sagen, das sind sozusagen "die Phoneme". Wenn man das vergleicht mit der Lautsprache. Wenn man einen Teil von diesen Bestandteilen, die ich gerade genannt habe, verändert, dann kann das schon direkt die Bedeutung verändern.

Matthias Klaus: Es gibt Gebärdensprachen überall auf der Welt. Gibt es auch so etwas wie Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Gebärdensprachen?

Wille Zante: Das ist ähnlich wie bei der Lautsprache. Es gibt sicherlich teilweise Ähnlichkeiten, aber tatsächlich sind ansonsten die Gebärdensprachen unterschiedlich. Also wenn ich jetzt nach Bayern fahre, zum Beispiel, dann ist das für mich schon eine Umstellung, wenn ich dort Gebärdensprache rezipieren möchte. Das ist dann manchmal schon etwas schwierig.

Zwischen unterschiedlichen Ländern bestehen dann noch größere Unterschiede. Aber klar, es gibt auch etwa, das nennt sich International Sign. davon  gibt es auch verschiedene Formen: Es gibt das mehr Europa-zentrische International Sign und das mehr USA-zentrische International Sign. In den USA wird ASL genutzt "American Sign Language" und in Europa setzt sich das International Sign mehr aus den verschiedenen Gebärdensprachen der europäischen Länder zusammen. Das ist so ein bisschen eine Mischform.

Und dann gibt es auch Abstufungen. Also eine sehr einfache Form von International Sign. Und dann gibt es immer feinere Abstufungen zum Beispiel für Fachkonferenzen: Da braucht man natürlich eine etwas feinere Abstufung, weil die Inhalte einfach sehr komplex sind.

Matthias Klaus: Erst seit 2002 ist in Deutschland Gebärdensprache überhaupt als Sprache anerkannt. Können Sie erzählen, wie das vorher war, wenn es keine Sprache war, wenn es sozusagen kein offiziell zugelassenes Kommunikationsmittel war?

Wille Zante: Ich selber habe da ganz persönlich wenig Erinnerung. Im Jahr 2000 war ich 16 Jahre alt, da habe ich tatsächlich selber erst angefangen Gebärdensprache zu lernen. Also recht spät. Und wie das vor der Anerkennung war, kann ich aus persönlicher Erfahrung gar nicht berichten. Ich weiß nur, dass zum Beispiel das Angebot von Dolmetscherinnen an Unis sehr gering war. Es war ganz schwierig.

Ich hatte zum Beispiel beim Fach Rechtsgrundlagen gar keine Dolmetscherinnen. Im Einzelfall hatte ich vielleicht mal Glück, dass es finanziert wurde und da irgendwie jemand kam zum Dolmetschen. Aber es war wirklich extrem schwierig für mich damals an der Uni. Und in der Schule: Für gehörlose Kinder gab es damals auch noch gar keine Inklusion.

Matthias Klaus: Waren Sie auf einer Gehörlosenschule?

Wille Zante: Ich war zehn Jahre auf einer Hörenden-Schule und habe dort einen Realschulabschluss gemacht. Das war eine Regelschule nur mit Hörenden. Und nach der zehnten Klasse bin ich dann nach Essen gegangen, nach Nordrhein-Westfalen. Dort ist deutschlandweit die einzige Möglichkeit für Gehörlose, mit Gebärdensprache auch das Abitur zu machen. Deswegen bin ich dann dort ins Internat gegangen. Damals war es die einzige Möglichkeit. Jetzt ist das vielleicht anders. Damals war es so.

Matthias Klaus: Und in der Schule wurde dann praktisch nur geschrieben?

Wille Zante: Es wurde viel geschrieben. Und manche Lehrer und Lehrerinnen waren bereit, sich an meine Bedürfnisse anzupassen. Ich habe dann zum Beispiel Diktate so geschrieben, dass ich den Text bekommen habe und die Lehrer/innen hatten da vorher Fehler eingebaut, die ich dann finden musste und das Diktat noch mal sauber fehlerfrei schreiben musste. Das war dann die angepasste Variante für mich.

Matthias Klaus: Heute in den Medien gibt es ja relativ viele Untertitel. Das war natürlich früher auch nicht so. Auch könnten es immer noch mehr sein. Aber Gebärdensprache gibt es nicht besonders viel. Am Ende wird immer sehr positiv bemerkt, wenn überhaupt mal etwas in Gebärdensprache ist. Zum Beispiel jetzt, wenn zum Beispiel das Kanzler/-innen-Triel ja gerade mit Gebärdensprache war. Aber, es ist wenig. Was ist der Vorteil von Gebärdensprache zu Untertiteln im TV? Lässt sich das sagen?

Wille Zante: Grundsätzlich ist es so, dass viele Gehörlose mit Gebärdensprache aufgewachsen sind und das deren Muttersprache ist. Sie können Gebärdensprache unglaublich schnell und gut wahrnehmen und haben auch einfach das Gefühl: Das ist meine Sprache. Da bin ich zu Hause. Das kann ich gut verstehen.

Für die ist das ein riesiger Vorteil, wenn es Gebärdensprache gibt. In Fernsehsendungen, besonders wenn Redewendungen genutzt werden oder ähnliches oder in Diskussionen, kann es für Gehörlose sehr schwierig werden, Untertitel richtig wahrzunehmen oder zu verstehen, weil sie diese Redewendungen vielleicht nicht kennen oder bestimmte Wörter nicht kennen. Und dann geht einfach vom Inhalt sehr viel verloren.

Andererseits ist auch die technische Umsetzung der Barrierefreiheit schwierig. Bei Untertiteln zum Beispiel. Bis die Untertitel geschrieben sind, möglichst fehlerfrei und eingeblendet sind, ist man einfach schon zeitlich sehr weit ins Hintertreffen geraten.

Das ist einfach technisch schwierig mit Untertiteln in dieser Hinsicht. Verdolmetschung ist da einfach dann doch der schnellere Weg, der direktere Weg und man kann so eine Diskussion besser verfolgen. Gerade für Live-Diskussionen funktioniert einfach Gebärdensprachverdolmetschung sehr viel besser als Untertitelung.

Aber es gibt natürlich dann auch Nachteile für schwerhörige Menschen, die einfach keine Gebärdensprache können. Wenn da dann nur die Gebärdenspracheinblendung ist, aber keine Untertitel, ist das für diese Gruppe wieder schwierig.

Matthias Klaus: Das heißt, man braucht eigentlich beides. 

Wille Zante: Ja, unbedingt. Und wir vom Deutschen Gehörlosen-Bund fordern auch unbedingt beides. Wir fordern gute Untertitel und gute Dolmetscher und die Untertitel müssen zeitgleich sein und die Dolmetsch-Einblendung muss größer sein. Da gab es auch bei diesem Triell eine ziemliche Diskussion: Das Dolmetsch-Bild war wirklich unglaublich klein, quasi Briefmarkengröße. Und eigentlich muss es mindestens ungefähr ein Drittel des Bildschirms sein, damit das einfach gut anzuschauen und gut zu verstehen ist. 

Matthias Klaus: Wir müssen mal über Gehörlosenkultur sprechen. Gehörlosenkultur klingt, wenn man nichts davon weiß, erst mal wie: "Wir sind was anderes. Wir sind was Besseres. Wir sondern uns ab." Also etwas, wo man denkt: "Wir sind nicht gehörlos, also können wir diese Kultur gar nicht haben." Was ist Gehörlosenkultur und wie ist das entstanden?

Wille Zante: Entstanden ist das wie andere Kulturen auch entstanden sind. Das heißt, Menschen, die die gleiche Sprache nutzen oder gleiche Erfahrungen teilen, als die aufeinander getroffen sind, hat sich das angefangen zu entwickeln. Die Gebärde für "Kultur" ist auch so ähnlich wie "Brunnen". Das heißt also: "Da kommt etwas, da entsteht etwas".

Und ich würde nicht sagen Gehörlosenkultur oder die Kultur ist besser als die andere, sondern jede Kultur hat ihre eigene Berechtigung. zum Beispiel gibt es auch Gebärdensprach-Poesie. Sie ist auch ein fester Bestandteil der Gehörlosenkultur, Gehörlosen-Theater und auch ein besonderer Gehörlosenhumor. 

Auch wie Gehörlose miteinander untereinander umgehen: Wie man auf sich aufmerksam macht. Wie man sagt: "Hey!" Also wie Hörende zum Beispiel rufen würden: "Hey! Schau mal her" oder "Hör mir mal zu." So haben natürlich Gehörlose andere Wege auf sich aufmerksam zu machen, sich zum Beispiel anzutippen oder das Licht an und auszumachen. Einfach um solche haptischen oder visuellen Signale zu geben. Das sind so ganz kleine, feine Bestandteile der Kultur. 

Matthias Klaus: Ich habe gelesen, es gibt auch Gehörlosen-Rap. Wie funktioniert das? Das ist ja doch eine sehr schnelle Sache. Kann man so schnell gebärden, wie das beim Rap eventuell gefordert ist?

Wille Zante: Ja, ja, das geht. Das geht. Klar, kann man. Das ist wie laute Musik. Oder wenn Musik laut ist, Und dann spüren wir sie auch und gerade den Bass. letztendlich ist auch das einfach nur Übungssache. Ob man so schnell gebärden kann. 

Matthias Klaus: Eine Frage, die sich da für mich daraus ergibt, also aus dem Thema "Gehörlosenkultur": Wirklich spezielle Dinge, die man nur untereinander tun kann, wie stehen die im Verhältnis zur "Inklusion"? Zum Beispiel an Schulen?

Zum Beispiel ist es bei blinden Menschen inzwischen sehr oft so: Ich war auf einer Blindenschule, aber viele heute gehen da gar nicht mehr hin, sondern werden in einer Regelschule oder in einer inklusiven Schule mit beschult. Wie Ist das mit Gehörlosen? Meinen Sie (sie haben es ja selbst gemacht, aber...) ist Inklusion möglich und wünschenswert? Oder braucht man immer eine gewisse Menge von Gehörlosen zusammen in einer Schulklasse, damit auch untereinander zum Beispiel Gebärdensprache gesprochen werden kann?

Wille Zante: meine Situation damals kann man eigentlich mit der heutigen Inklusion nicht vergleichen. Das war schon ungewöhnlich, weil ich zum Beispiel keine Dolmetscher in der Schule hatte. Das heißt, ich habe wirklich unglaublich viele Inhalte einfach verpasst und nicht mitbekommen.

Heute ist es so, dass wenn gehörlose Schüler/Schülerinnen inklusiv beschult werden, dann sind da Dolmetscher durchgehend dabei. Das heißt, die können dadurch auch alle Informationen mitbekommen. Dann gibt es eben noch Förderschulen für Gehörlose und Schwerhörige. Und üblicherweise können dort an den speziellen Förderschulen die Lehrerinnen keine Gebärdensprache.

Diese Anforderungen der Gebärdensprachkompetenz gab es lange nicht und ist auch immer noch nicht so wirklich vorhanden. Und deswegen werden auch die Unterrichtsinhalte vom Niveau her etwas runtergeschraubt, einfach weil diese sprachliche Barriere besteht. Und das ist ein großer Nachteil der Förderschulen.

Der Vorteil ist natürlich, dass in der Klasse und auch an der Schule alle Schüler innen zumindest gebärden können. Für mich war es eben so, dass ich von der ersten bis zur zehnten Klasse an einer Hörenden-Schule war und dann erst aufs Internat gewechselt bin. Und ich habe (erst dort) Gebärdensprache durch die Mitschülerinnen gelernt.

Da hatte ich das erste Mal so ein soziales Netzwerk, konnte mich unterhalten und so weiter. Und die ersten zehn Schuljahre hatte ich da tatsächlich sehr, sehr wenig. Also ich hatte wenig Kontakte, kaum ein soziales Netzwerk. Ich war das gar nicht gewohnt und deswegen ist es auch heute noch ein bisschen schwierig mit der inklusiven Beschulung. Es sind zwar dann Dolmetscherinnen da, zum Dolmetschen, zum Gebärden. Aber wenn ein einzelner Schüler, eine einzelne Schülerin in die Regelschulklasse kommt, ist natürlich trotzdem eine gewisse Isolation möglich. Oder die Gefahr besteht. 

Matthias Klaus: Gibt es da eine optimale Variante? Was halten Sie selbst für erstrebenswert, wie man das machen sollte mit der schulischen Inklusion? Angenommen Geld spielt keine Rolle und Unflexibilität von Schulbehörden spielt keine Rolle, sondern das Paradies. Wie würde das aussehen?

Wille Zante: Da könnte ich mir vorstellen, dass an Schulen nicht nur ein gehörloses Kind beschult wird, sondern 4 oder 5, eine kleinere Gruppe, dass die zusammen in eine Regelschulklasse kommen, so dass die eben auch einen freien Austausch untereinander haben und aber eben Hörende natürlich auch dabei sind.

Hörende und Gehörlose gemischt und jeweils mehrere. Und in der Pause wäre so auch gewährleistet, dass die Kinder untereinander gebärden können. Und im Unterricht können sie natürlich auch quatschen, so wie alle anderen auch. Der Vorteil wäre auch, dass die anderen, die hörenden Schüler die Gebärdensprache so lernen würden bzw. es wäre schön, wenn einfach überall auch das Unterrichtsangebot wäre: Deutsche Gebärdensprache, so dass die Hörenden das auch lernen können.

Heutzutage - ganz ehrlich - wer braucht heute noch Latein? Es wäre doch eigentlich sehr vorteilhaft, wenn man schon gehörlose Kinder in der Klasse hat und dann einfach alle auch Gebärdensprache lernen. Das wäre doch ein großer Vorteil für alle. Das hätte natürlich dann auch wiederum Auswirkungen auf später, weil wenn die Kinder schon früh einfach gelernt und verstanden haben, ganz auf natürliche Weise, was Gehörlosigkeit ist, wie Gebärdensprache funktioniert, hat das ja dann einfach später auch unglaubliche Auswirkungen auf das Leben nach der Schule.

Matthias Klaus: Wie ist das dann später nach der Schule mit der Arbeit? Gibt es besondere Hürden oder gibt es so etwas wie die durchschnittliche Hürde, die einem gehörlosen Menschen begegnet, der einen Job sucht oder der dann am Arbeitsplatz ist? Was sind da die größten Probleme?

Wille Zante: Typischerweise geht es um hörende Arbeitgeber. Die sind dann häufig etwas in Sorge und sind skeptisch, ob das nun klappt mit gehörlosen Arbeitnehmern. Und die werden dann mitunter gar nicht erst zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Das ist eine häufige Barriere.

Man kann den Integrationsfachdienst (IFD) einladen. Der IFD kann den Arbeitgeber beraten und informieren darüber, wie man am besten kommunizieren kann mit Gehörlosen, was zu beachten ist, wie man die Situation am besten lösen kann. Was ich wirklich brauche ist eine Basisbereitschaft das auch umzusetzen. Das braucht es von Arbeitgeberseite natürlich.

Matthias Klaus: Eine letzte Frage, die ich gerne stellen würde, die vielleicht etwas privat ist, aber auch so ein bisschen mit dem Selbstverständnis der eigenen Behinderung zu tun hat, etwas nicht zu haben, also gehörlos zu sein. Wir hatten das ja vorhin schon als man definiert: Etwas fehlt einem. Das kann ja bedeuten, dass man es vermisst. Vermissen Sie etwas? Vermissen Sie das Hören?

Wille Zante: Ich würde sagen, das Hören vermisse ich nicht. Was ich vermisse, ist Teilhabe an der Gesellschaft. Das vermisse ich tatsächlich: an der Gesellschaft teilhaben können. Das Nichthören ist eine riesige Bremse, Was das angeht,

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" für heute. Bei mir zu Gast war Wille Zante vom Deutschen Gehörlosen-Bund. Wir haben uns unterhalten über Gebärdensprache, Gehörlosenkultur und Gehörlosigkeit im Allgemeinen. Vielen Dank, dass Sie bei uns waren.

Wille Zante: Ja, sehr gerne. Tschüss. Vielen Dank!

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Sprecher: Mehr Folgen unter dw.com/echtbehindert.

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.