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Politik

Transnistrien: Eine offene Wunde im Osten Europas

Cristian Stefanescu Artikel | Kateryna Ivanova Video
23. Mai 2019

Weniger als 200 Kilometer trennen Transnistrien von der östlichen EU-Außengrenze zwischen Rumänien und der Republik Moldau. Doch das Separatistengebiet wirkt wie eine fremde Welt.

Republik Moldau Separatistengebiet Transnistrien
Grenzkontrolle in Varnita Bild: DW/Cristian Stefanescu

"Zwei Realitäten": Republik Moldau und Transnistrien

03:23

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"Willst du dich etwa über uns beschweren? Bei wem denn bitte? Bist du dumm oder tust du nur so?" Der transnistrische Grenzpolizist lacht. Seine Kollegen und er bewachen eine Grenze, die es völkerrechtlich gar nicht gibt. Transnistrien, ein schmaler Landstrich auf der östlichen Seite des Flusses Dnjester, spaltete sich 1992 nach einem kurzen militärischen Konflikt von der Republik Moldau ab - mit russischer Hilfe. "Uns erkennt sowieso niemand an." Nicht einmal Russland, das auch heute noch Soldaten in der Separatistenregion stationiert, die regelmäßig Militärübungen durchführen. An den Grenzübergängen der Separatisten kommt es manchmal auch zu offenen Drohungen: "Du gibst uns 200 Euro oder wir finden in deinem Auto Drogen oder Waffen. Was ist dir lieber? Wenn du uns kein Geld gibst, bringen wir dich irgendwohin und sperren dich ein. Komm, mach keinen Blödsinn, bezahl und fahr weiter!"                                                                      

Von dieser teuren Grenzerfahrung erzählt einer der Begleiter der DW-Reporter in der Republik Moldau: Er arbeitet für die NGO Promo-LEX in der Hauptstadt Chisinau und hat versucht, den betroffenen Reisenden zu unterstützen. Seine 200 Euro hat der Mann trotzdem nie wieder gesehen. Die NGO betont, dass es in den letzten Jahren mehrere Fälle dieser Art gab.        

Verhaftung auf offener Straße 

Die Willkür im Separatistengebiet kennt Alexei Mocreac nur allzu gut. 30 Tage verbrachte er im Gefängnis, ohne jegliche juristische Grundlage. "In einer einzigen Zelle waren wir 36 Leute, wir mussten uns das Essen teilen, mit nur sechs Löffeln und sechs Schälchen", erzählt er. Zwischendurch macht er Pausen und holt tief Luft - er braucht viel Kraft, um an der Gangschaltung seines uralten deutschen Wagens zu zerren. Viermal sei er verhaftet worden, "einfach so, auf offener Straße", erinnert er sich. Er habe angeblich die "Staatsordnung" Transnistriens nicht respektiert - also die Ordnung eines Staates, den es juristisch nicht gibt. "Jedes Mal wurde ich ohne weitere Erklärungen wieder freigelassen. Sie wollten sogar, dass ich für den Aufenthalt bezahle - als wäre ich im Hotel gewesen!"             

Alexei Mocreac kommt aus der Kleinstadt Grigoriopol, die in Transnistrien liegt. Als Anfang der 1990er Jahre der Krieg ausbrach, überquerte er den Fluss Dnjester in Richtung Westen und kämpfte auf der Seite der Republik Moldau gegen die transnistrischen Separatisten. Damals war er ein junger Mann von 33. Er verlor seine besten Jahre, viele Kameraden und am Ende auch den Krieg. Lange war er von seiner Frau und den beiden Kindern getrennt, doch irgendwann hielt er die Sehnsucht nicht mehr aus und kehrte nach Hause zurück - nach Grigoriopol in Transnistrien, wo er später mehrmals verhaftet wurde. Auch heute ist er noch politisch aktiv und setzt sich für die Reintegration Transnistriens in die Republik Moldau ein. Von den Politikern in der moldauischen Hauptstadt Chisinau ist er enttäuscht: "Die geben immer nach."           

Alexei Mocreac verbrachte 30 Tage im GefängnisBild: DW/Cristian Stefanescu

NGO: Ungeklärte Todesfälle und Folter in der transnistrischen Armee

Mehr als 20 Jahre nach dem Krieg und kurz nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 standen plötzlich wieder transnistrische Milizen vor den Türen der Menschen, erzählt der Kriegsveteran Alexei Mocreac. "Sie fragten: Wo sind die Jungs? Es ging darum, möglichst viele junge Männer für die transnistrische Armee zu finden." In der kleinen selbsternannten Republik mit rund 500.000 Einwohnern ist die Armee ein beliebter Arbeitgeber. "Früher rannten die Jungs weg vor der Armee, aber jetzt wollen viele Militärgrade haben - das bringt sichere Gehälter und Renten", sagt Alexei Mocreac. "Doch es gibt natürlich Ausnahmen, und wer die Rekrutierung ablehnt, riskiert Strafen - manchmal sogar Gefängnis." Im Grunde genommen würden die jungen Rekruten in der Armee ohnehin oft wie im Gefängnis behandelt, fügt der Veteran hinzu: "Sie werden gedemütigt, geschlagen und sogar gefoltert. Einige begehen Selbstmord, weil sie das nicht mehr aushalten." Die NGO Promo-LEX aus Chisinau versucht, Todesfälle und Folter in der transnistrischen Armee aufzuklären. Dank dieses Engagements sind einige Fälle bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gekommen. "Doch die transnistrischen Behörden profitieren davon, dass sie im Grunde genommen keiner bestrafen kann", heißt es von Seiten der NGO. Die Republik Moldau hat in juristischen Fragen keinen Einfluss auf Transnistrien, und die transnistrische Führung antwortet auf ihre Nicht-Anerkennung, indem sie internationale Institutionen völlig ignoriert. Russland weist ebenfalls jede Verantwortung von sich, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Regime in Transnistrien als Marionette Moskaus bezeichnet hat.        

Ein Beobachtungsposten der transnistrischen ArmeeBild: DW/Cristian Stefanescu

Rumänische Pässe als Ticket in den reichen Westen der EU

Für die meisten "Jungs" aus seiner Heimatstadt Grigoriopol stellt sich die Frage der Rekrutierung für die transnistrische Armee sowieso nicht mehr, erzählt Alexei Mocreac. Denn sie sind längst in die EU gezogen. Die große Mehrheit der Bewohner der Republik Moldau ist rumänischsprachig, fast das gesamte Gebiet gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu Rumänien. Wer rumänischer Herkunft ist, kann auch heute die Staatsbürgerschaft des Nachbarlandes bekommen, das seit 2007 zur Europäischen Union gehört - und damit EU-Bürger werden. In Transnistrien sind zwar rund 60 Prozent der Bürger russischsprachig und haben keine rumänischen Wurzeln, trotzdem berichtet Alexei Mocreac auch von russisch- oder ukrainischstämmigen "Jungs" aus Transnistrien, deren Antrag auf die rumänische Staatsbürgerschaft erfolgreich war. Der neue Pass wurde zum Ticket in den reichen Westen der EU.           

Feodosias Tochter ist nach Deutschland gezogenBild: DW/Cristian Stefanescu

Nicht nur die Männer wandern aus. "Meine Tochter ist in Deutschland", erzählt Feodosia, die im Dorf Varnita lebt. Vom Fluss Dnjester trennen sie nur noch die Überreste alter Schienen, die nirgendwohin führen, und ein verfallenes Haus, überwuchert von Pflanzen, in dem die Kinder aus der Umgebung Fangen spielen. Die Einschusslöcher erzählen noch heute vom Krieg in den 1990er Jahren. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses sind noch die Gräben zu sehen, aus denen die Separatisten damals geschossen haben. "Bumm, bumm, bumm - so ging es immer weiter, etwa 120 Mal", erinnert sich die 70-jährige Feodosia. "Ich weiß gar nicht mehr genau, wie lange wir damals in einem Versteck geblieben sind - für eine Stunde, vielleicht zwei..."         

"In der Sowjetunion waren wir alle gleich, jetzt gibt's Anarchie"

Ihr Dorf Varnita liegt heute in einer Pufferzone, in unmittelbarer Nähe der Grenze, die es juristisch nicht gibt. Es steht unter der gemeinsamen Kontrolle der moldauischen und der transnistrischen Behörden - unter den wachsamen Augen der russischen Soldaten, die in Transnistrien als "Friedensstifter" bezeichnet werden. Feodosia bekommt ihre Rente aus Chisinau, aber die Steuern und Rechnungen, die sie bezahlt, gehen teils an die moldauische Verwaltung, teils an die transnistrische.          

Ivan Pascanu erinnert sich gerne an die SowjetunionBild: DW/Cristian Stefanescu

In der Nähe von Feodosias Dorf, nur wenige Meter von einem Grenzübergang der transnistrischen Separatisten, hat Ivan Pascanu einen kleinen Laden eröffnet. An einem der Tische mit Plastikstühlen, die davor stehen, spricht er von den alten Zeiten, als die Republik Moldau zur Sowjetunion gehörte. "Im sowjetischen Staat waren wir alle gleich. Die Gesellschaft hatte einen seelischen Reichtum, weil es eine Ideologie gab." Heute herrsche dagegen nur noch die "Anarchie". Außerdem sei die Qualität der Schulbildung in der Sowjetunion deutlich höher gewesen. Ivan Pascanu, ein studierter Architekt, blickt mit Sympathie in Richtung Russland, doch seine Kinder möchte er trotzdem ins westliche Nachbarland Rumänien in die Schule schicken: "In der EU ist alles irgendwie ordentlicher."           

Reduzierte Gaspreise machen das Leben erträglicher

Eine Verbindung zur Europäischen Union durch eigene Kinder, die dort lernen, leben und arbeiten, hat auch Feodosia. Doch sie kann sich nicht vorstellen, jemals zu ihrer Tochter nach Deutschland zu ziehen: "Im Westen würde man mich als Menschen zweiter Klasse behandeln." Russland macht ihr bescheidenes Leben an der Peripherie Europas etwas erträglicher: durch stark reduzierte Gaspreise. Diese gelten für die Bewohner Transnistriens, aber auch für Feodosias Dorf in der Pufferzone.          

In einer der ärmsten Regionen des Kontinents richten sich pro-europäische oder pro-russische Sympathien oft nach so einfachen Kriterien wie den Gaspreisen. Die Politik hat die Bewohner des abtrünnigen Transnistrien und der gesamten Republik Moldau schon viel zu viel gekostet. Manchmal sogar Menschenleben.  

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