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Politik

Zerrissene Familien, Kinder als Geiseln

Vitalie Călugăreanu
2. Oktober 2020

Im Separatistengebiet Transnistrien in der Republik Moldau kann die Wahl einer Schule nicht nur Familien entzweien. Eltern, die sich für die "falsche" Schule entscheiden, können ins Visier des lokalen KGB geraten.

Roter Stern und patriotische Parolen auf Plakaten in transnistrischen Schulen
Roter Stern und patriotische Parolen auf Plakaten in transnistrischen Schulen Bild: DW

Gabriel war erst fünf, als sich seine Eltern trennten. Er blieb bei seiner Mutter im Separatistengebiet Transnistrien, einem schmalen Landstrich auf der östlichen Seite des Flusses Dnjester, der sich 1992 mit russischer Hilfe nach einem kurzen militärischen Konflikt von der Republik Moldau abspaltete. Kein Land der Welt - nicht einmal Russland - erkennt Transnistrien als Staat an, völkerrechtlich gehört das Gebiet zur Republik Moldau.    

Gabriels Vater Maxim, ein moldauischer Polizist, kündigte seinen Job, ging zum Arbeiten nach Italien und heiratete dort eine Russin. Im Strudel der neuen Beziehung und des neuen Lebens ignorierte er die wiederholten Versuche seines Bruders, ihn zu überzeugen, den Sohn auf eine rumänischsprachige Schule in der moldauischen Hauptstadt Chisinau zu schicken, deren Abschlüsse auch international anerkannt werden. Stattdessen blieb der Junge an einer russischsprachigen Schule in Transnistrien.  

"Maxim wollte vor allem, dass Gabriel ein echter Mann wird, und fand, dass Transnistrien und die transnistrische Armee ideal dafür seien - ähnlich hart wie die alte sowjetische Armee. Sein Argument: Auch ihn habe die sowjetische Armee zum echten Mann gemacht", sagt Gabriels Onkel im Gespräch mit der DW. Seinen Namen möchte er nicht gedruckt sehen - aus Sicherheitsgründen, schließlich ist er ein Beamter des moldauischen Staates, der in Chisinau arbeitet.

Einem "Vaterland", das es nicht gibt, die Treue schwören

Gabriels Onkel erzählt bitter, dass der Junge tatsächlich dem Wunsch seines Vaters folgte und in die sogenannte Armee des Separatistenregimes eintrat. Er schwor einem "Vaterland" die Treue, das es völkerrechtlich gar nicht gibt. Wenige Monate später landete er im Krankenhaus, nachdem er in sowjetischer Tradition von den älteren Soldaten in der Kaserne mit Schlägen traktiert wurde.

Heute arbeitet der junge Mann für den Sicherheitsdienst der selbsternannten Republik Transnistrien. Selbst zur Beerdigung seiner Großmutter auf der anderen Seite des Flusses sei Gabriel von einem höhergestellten Kollegen begleitet worden, um nicht die angeblichen Geheimnisse Transnistriens zu verraten, erinnert sich Gabriels Onkel, der gleichzeitig sein Taufpate ist und ihm zum 18. Geburtstag ein Motorrad geschenkt hat. Der junge Mann habe es sich nicht einmal erlaubt, in die Richtung seines Onkels zu blicken. Nach der Trauerfeier sei er sofort verschwunden, ohne eine einzige Umarmung, ohne ein einziges Wort.

"Zwei Realitäten": Republik Moldau und Transnistrien

03:23

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Wie kommt es zu diesen Konflikten?

Solche Familien-Konflikte hängen auch mit den Trennlinien innerhalb des Bildungssystems zusammen. In der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau, in der die Landessprache heute Rumänisch ist (ein Großteil des heutigen Staates gehörte vor dem Zweiten Weltkrieg zu Rumänien), wurden in den 90er Jahren die alten sowjetischen Gesetze im Bereich der öffentlichen Schulen und Universitäten abgeschafft. Das neue Bildungssystem näherte sich der modernen europäischen Bildungspolitik an. 

Im pro-russischen Separatistengebiet Transnistrien ist das Schulsystem dagegen auch heute identisch mit jenem in Russland. 1994 verbot die selbsternannte Regierung in Tiraspol sogar die Verwendung der lateinischen Buchstaben an Schulen - die Kinder mussten selbst Rumänisch mit kyrillischen Buchstaben schreiben statt mit lateinischen, eine sprachliche Anomalie, die sich bis heute fortsetzt. 

Ortsschild von Tiraspol: Die Stadt ist der Sitz der SeparatistenregierungBild: DW

Das gehört zur Russifizierungspolitik der Separatistenregierung in Tiraspol. In Kindergärten werden mindestens 90 Prozent der Kinder in Transnistrien in russischer Sprache unterrichtet, neun Prozent in rumänischer Sprache und weniger als ein Prozent in ukrainischer Sprache, obwohl im Separatistengebiet 34,2 Prozent der Kinder aus rumänischsprachigen Familien kommen, 31,4 Prozent aus russischsprachigen und 28 Prozent aus ukrainischsprachigen. An Schulen und Universitäten ist Russisch mit 93 beziehungsweise 94,8 Prozent eindeutig die Hauptsprache.

Druck auf Lehrer, Schüler und Eltern

Trotz des Drucks der Separatistenführung gibt es in Transnistrien immer noch acht Bildungseinrichtungen mit Rumänisch als Unterrichtssprache, auf der Basis der lateinischen Schreibweise, die unter der Jurisdiktion des moldauischen Unterrichtsministeriums in Chisinau stehen. Schon seit dem Jahr 2000 versuchen die Separatisten, diese Schulen zu zwingen, sich den "Gesetzen" der selbsternannten Republik zu beugen - inklusive, die kyrillische Schrift zu verwenden.

Selbst vor Gewalt schreckten sie nicht zurück: 2004 umzingelte die transnistrische Polizei wochenlang diese Schulen, die Kinder wurden zu Geiseln. Nur Vertreter der OSZE-Mission aus Chisinau konnten die Schüler in dieser Zeit mit den nötigen Lebensmitteln versorgen. Später richteten sich Eltern, Schüler und Lehrer aus den Orten Ribnita, Tighina (Bender) und Grigoriopol an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und forderten das Recht der Kinder auf Bildung ein. 2012 urteilte dieser, es habe einen Verstoß gegen das Recht auf Bildung gegeben - und gab Russland die Schuld an der Beibehaltung des transnistrischen Separatismus.  

Klassenzimmer in TransnistrienBild: DW

Die acht rumänischsprachigen Schulen in Transnistrien gibt es auch heute noch - aber der Druck bleibt. Oft werden die Lehrer vom transnistrischen Geheimdienst, der nach sowjetischem Modell auch heute noch KGB heißt, vorgeladen. Transnistrische Polizisten überwachen die Feierlichkeiten am ersten Schultag. Davor werden die Schulleiter von der Polizei darüber "informiert", dass die Flagge der Republik Moldau bei der Feier nicht zu sehen sein darf. Die Zahl der Schüler, die rumänischsprachige Schulen besuchen, hat sich seit 2004-2005 von fast 6000 auf nur 1600 im Jahr 2020 verringert, berichtet Ion Manole von Promo-Lex im DW-Gespräch. Diese moldauische NGO setzt sich für Menschenrechte in Transnistrien ein.        

Die Eltern dieser Schüler leben besonders gefährlich. Weil er darauf besteht, dass seine Tochter weiterhin ein rumänischsprachiges Gymnasium mit lateinischer Schrift besucht, wurde der Vater der Zwölftklässlerin Olesea schon drei Mal von der transnistrischen Polizei festgenommen. Das Mädchen fährt jeden Tag insgesamt 50 Kilometer zur Schule und zurück, um sich einen großen Traum zu erfüllen: ein Studium an einer Universität im EU-Land Rumänien.

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