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Politik

27F: Chile zehn Jahre nach dem Tsunami

27. Februar 2020

Am 27. Februar 2010 kommt es in Chile zur größten Naturkatastrophe seit 50 Jahren. Dem Erdbeben mit einer Stärke von 8,8 und dem nachfolgenden Tsunami fallen über 500 Menschen zum Opfer. Was hat das Land daraus gelernt?

Chile | Zerstörung nach Erdbeben
Ein Land in Trümmern: Die Stadt Dichato wurde am 27. Februar 2010 komplett zerstört Bild: Imago Images/Zuma

Es ist 3.34 Uhr morgens am 27. Februar vor zehn Jahren, als Arturo Belmonte glaubt, die Welt geht unter. Er ist noch spät wach und schaut einen Film, als er das Gefühl hat, eine überdimensionale Lokomotive würde sich quasi unter der Erde mit rasender Geschwindigkeit seinem Haus in Concepción, etwa 100 Kilometer vom Epizentrum entfernt, nähern.

"Noch nie hatte ich etwas Vergleichbares gehört. Es gab in Chile immer schon Erdbeben, aber das war komplett anders", erinnert sich der chilenische Seismologe. Der Lärm ist ohrenbetäubend, dann fällt das Licht aus, und die Erde beginnt zu zittern – Belmonte kann sich kaum noch auf den Beinen halten.

"Wenn man mich fragt, welches Land heute am besten für ein solches Erdbeben gerüstet ist, sage ich Chile" - Arturo BelmonteBild: Arturo Belmonte

"Ich habe allein Walzer getanzt, um nicht zu stürzen. Und ich war mir zu 100 Prozent sicher, dass gleich das ganze Haus einstürzt." Doch Arturo Belmonte hat Glück. Das sechsstärkste Erdbeben, das weltweit seit dem Beginn der seismischen Aufzeichnungen 1900 gemessen wurde, verschont sein neues Haus, in das er vor gerade mal einem halben Jahr gezogen ist.

521 Menschen haben weniger Glück: sie werden von einbrechenden, mehrstöckigen Wohnhäusern begraben, von Trümmerteilen erschlagen oder von einer gewaltigen, vier Meter hohen Tsunami-Flutwelle verschluckt. Der Wiederaufbau dauert Jahre, 30 Milliarden US-Dollar beträgt der Gesamtschaden.

Und die ganze Erde ist danach eine andere: die chilenische Hafenstadt Concepción liegt seitdem drei Meter weiter im Westen, die Erdachse ist um etwa acht Zentimeter verschoben, und die Tage sind seitdem laut der NASA-Weltraumbehörde um 1,26 Mikrosekunden kürzer.

Verwüstet: Die vom Tsunami zerstörte Hafenstadt Talcahuano in Südchile Bild: Imago Images/Xinhua

Wieviel Verantwortung trägt Bachelet?

Schon kurze Zeit nach 27F – so das in Chile übliche Kürzel für die Katastrophe von 2010 – beginnt die Suche nach den Verantwortlichen, die durch ihre Fehleinschätzung die Zahl der Opfer möglicherweise in die Höhe trieben. Vor allem Michelle Bachelet steht unter Beschuss: die damalige Präsidentin Chiles erwähnt in ihrer ersten Pressekonferenz kurz nach dem Unglück nicht den Tsunami, der die chilenische Küste schon längst erreicht hat und spricht auch danach keine Tsunami-Warnung aus.

Familienangehörige der Opfer verklagen die heutige Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, doch die chilenische Justiz weist die Klage gegen Bachelet ab. Immerhin spricht der Oberste Gerichtshof den Opfern Entschädigungszahlungen durch den Staat zu.

"27F hat hier alle vollkommen überrascht, selbst die Wissenschaftler. Es gab schlichtweg keinerlei Bewusstsein über Tsunamis, wir haben ein Jahr zuvor Studenten zu den Behörden geschickt, damit die uns ihre Notfallpläne im Falle eines Tsunamis zuschicken und es gab einfach keine", sagt Arturo Belmonte und nimmt Ex-Präsidentin Bachelet und die damaligen Verantwortlichen in der Regierung ein wenig in Schutz. "Man hat an diesem Tag viele Fehler gemacht, aber ich würde eher von einer institutionellen Verantwortung sprechen."

Auch zehn Jahre nach der verheerenden Naturkatastrophe wird über die Verantwortung von Michelle Bachelet diskutiertBild: AP

"Heute weiß ganz Chile Bescheid"

Heute wisse man dagegen, so der Professor für Geophysik an der Universität von Concepción, dass ein Erdbeben mit einer Stärke von über acht automatisch einen Tsunami nach sich zieht. Nur eine der bitteren Lehren, die Chile aus dem Erdbeben und dem Tsunami vor zehn Jahren gezogen hat.

Seitdem hat sich viel in Sachen Katastrophenschutz getan, Chile ist spät, aber endlich aufgewacht. "In Tsunami-gefährdeten Gebieten wurden überall riesige Mauern hochgezogen, in mehrstöckigen Häusern dient der erste Stock jetzt als Parkfläche, die Menschen wohnen im zweiten und dritten Stock", sagt der Erdbebenforscher.

In gefährdeten Gebieten werden keine Schulen mehr gebaut, ebenso wenig Krankenhäuser oder Feuerwehren. In Kinos flimmern vor jedem Film Sicherheitsmaßnahmen über die Leinwand. Außerdem: In jedem noch so kleinen Supermarkt weisen heute Hinweisschilder und Evakuierungspläne darauf hin, wohin man sich im Notfall begeben muss, wo die sicheren Zonen sind.

"Früher hatte nur eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern überhaupt eine Ahnung, was ein Tsunami  anrichten kann, heute weiß ganz Chile Bescheid. Wenn die Chilenen heute von einem starken Erdbeben hören, setzen sie sich sofort in Bewegung", erklärt Belmonte.

Pellehue, 300 Kilometer südwestlich von Santiago: mehr als 220.000 Häuser wurden 2010 zerstörtBild: AP

Chile wird mit vielen Gedenkveranstaltungen an den 27.Februar 2010 erinnern, möglicherweise rücken die politischen Proteste gegen die Regierung von Präsident Sebastián Piñera für einen Tag in den Hintergrund. Heute fühlt sich der Andenstaat gewappnet für ein Erdbeben gleicher Stärke, Symbol dessen ist das mit 300 Metern höchste Gebäude Südamerikas, der Gran Torre Santiago, der Anfang 2014 erdbebensicher fertiggestellt wurde.

"27F wird trotzdem für immer ein chilenisches Trauma bleiben", betont Arturo Belmonte, "der Tag hat sich tief in die kollektive Erinnerung eingebrannt. Das hat aber auch etwas Gutes, denn so verhindern wir, dass uns so etwas noch einmal passiert."

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