Tribunale und Gerichtshöfe: Russland auf der Anklagebank
26. Juni 2025
Mehr als drei Jahre nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine nimmt die internationale Strafverfolgung neue Gestalt an. In Straßburg unterzeichneten der Europarat und die ukrainische Regierung am Mittwoch eine Vereinbarung zur Gründung eines Sondertribunals, das sich dem "Verbrechen der Aggression" widmen soll - einem bisher weitgehend ungesühnten Völkerrechtsverstoß.
Ziel ist es, hochrangige Vertreter der russischen Staatsführung - möglicherweise auch Präsident Wladimir Putin selbst - für die Entscheidung zum Krieg gegen die Ukraine strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. "Es bedarf einer starken politischen und rechtlichen Zusammenarbeit, um sicherzustellen, dass jeder russische Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt wird, einschließlich Putin", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Rande der Unterzeichnung in Straßburg.
Jeder Zentimeter von Russlands Angriffskrieg sei dokumentiert, twitterte kurz darauf die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas. Es gebe keinen Raum für Straffreiheit und niemand in Russlands Führungsriege sei unantastbar.
Tribunal soll juristische Lücke schließen
Das Sondertribunal ist rechtlich an das Völkergewohnheitsrecht und an Resolutionen der UN-Vollversammlung gebunden. Es soll seinen Sitz aller Voraussicht nach in Den Haag haben und eine Lücke schließen, die der ebenfalls dort ansässige Internationale Strafgerichtshof (IStGH) bislang nicht adressieren konnte: Die Ahndung der Entscheidung zum Angriffskrieg selbst, nicht nur der im Krieg begangenen Verbrechen. Da Russland das Römische Statut des IStGH nie ratifiziert hat, können seine Politiker in diesem Punkt nicht direkt von ihm belangt werden.
Das neue Tribunal ist dabei nur einer von zahlreichen Versuchen, Russland juristisch wegen seines Angriffskrieges in der Ukraine zu belangen. Ein Überblick:
Haftbefehle vor dem IStGH
Im März 2023 erließ der IStGH in Den Haag einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin wegen der mutmaßlich rechtswidrigen Deportation ukrainischer Kinder. Die Regierung in Kiew dokumentierte bislang fast 20.000 Minderjährige, die im Zuge der Kriegshandlungen aus der Ukraine nach Russland verschleppt wurden. Menschenrechtsorganisationen gehen jedoch von einer weit höheren Dunkelziffer aus. 2024 folgten weitere Haftbefehle gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow – unter anderem wegen gezielter Angriffe auf zivile Infrastruktur in der Ukraine.
Missbrauch der Völkermord-Konvention?
Bereits 2022 reichte die Ukraine eine Klage gegen Russland vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) ein. Anders als der IStGH, der sich gegen Einzelpersonen richtet, die schwere Verbrechen wie Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, befasst sich der IGH ausschließlich mit Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten, zum Beispiel über Grenzen oder Vertragsverletzungen. Auch der IGH hat seinen Sitz in Den Haag; anders als der Strafgerichtshof ist er jedoch ein Organ der Vereinten Nationen.
Im konkreten Fall hatte Russland seinen Angriff auf die Ukraine 2022 mit einem angeblichen "Völkermord an Russen" im Donbass begründet - ein Vorwurf, den die Ukraine entschieden zurückweist. Sie sieht darin einen russischen Missbrauch der internationalen Völkermord-Konvention und reichte Klage ein. Im März 2023 bestätigte der IGH seine Zuständigkeit, das Hauptverfahren läuft. Eine weitere, bereits 2017 von Kiew eingereichte Klage gegen Russland wegen angeblicher Terrorfinanzierung wurde hingegen vom IGH im Jahr 2024 weitgehend abgewiesen.
EGMR und nationale Verfahren
Beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind derzeit mehrere Klagen gegen Russland anhängig, etwa im Zusammenhang mit dem 2014 erfolgten Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 über der Ostukraine oder den fortlaufenden Repressionen auf der Krim seit deren Annexion im selben Jahr. Der EGMR ist ein Organ des Europarates, doch im September 2022 kam Russland einem drohenden Ausschluss zuvor und verließ die Organisation. Seitdem können auch beim EGMR keine neuen Beschwerden mehr gegen Russland eingereicht werden. Vorher eingereichte Klagen werden jedoch noch verhandelt, Urteile für diese Fälle bleiben - zumindest theoretisch - rechtsgültig. Jedoch missachtete Russland bereits in der Vergangenheit wiederholt Urteile des EGMR.
Zudem ermitteln nationale Behörden - etwa in Deutschland, Frankreich, Spanien oder Litauen - auf Grundlage des Weltrechtsprinzips gegen russische Akteure wegen möglicher Kriegsverbrechen. Das Weltrechtsprinzip ist ein Völkerrechtsgrundsatz, der es Staaten erlaubt, besonders schwere Verbrechen auch dann zu verfolgen, wenn Täter, Opfer oder Tatort nicht im eigenen Land beheimatet sind.
Verfahren wohl nur in Abwesenheit der Angeklagten
Das nun neu eingerichtete Sondertribunal soll in den kommenden Monaten seine Arbeit aufnehmen; zunächst müssen noch Richter und Ankläger berufen werden. Ob es jedoch tatsächlich jemals Angeklagte wie Wladimir Putin persönlich zur Rechenschaft ziehen kann, ist äußerst unwahrscheinlich. Zum einen wäre ein Prozess gegen Putin erst nach dem Ende seiner Präsidentschaft möglich, da amtierende Staatschefs und Regierungsmitglieder Immunität genießen. Zum anderen erkennt Russland internationale Gerichte nicht an, eine Auslieferung gilt als ausgeschlossen. Die dortigen Verfahren werden deshalb aller Voraussicht nach lediglich in Abwesenheit der Angeklagten stattfinden können.
Laut Europarat ist das Tribunal trotzdem wichtig, etwa um Beweise zu sammeln und Anklagen vorzubereiten - und als Blaupause für eine juristische Verfolgung möglicher künftiger völkerrechtswidriger Aggressionen, sei es durch Russland oder durch andere Staaten.