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Politik

Trostlose Jugend im Gaza-Streifen

28. Februar 2019

Zwei Millionen Menschen leben im Gazastreifen. Die meisten von ihnen durften das Gebiet zwischen Israel und Ägypten noch nie verlassen. Besonders die Jugend leidet unter der Perspektivlosigkeit.

Palästina-Israel Konflikt am Gazastreifen
Bild: Getty Images/A. Katib

In Gaza-Stadt gehören junge Menschen auf Krücken mittlerweile fast zum alltäglichen Stadtbild. Auch Mahmoud Abu Zer ist jetzt einer von ihnen. Noch allerdings kann er sich kaum bewegen, die Wunden sind noch zu frisch. So verbringt er die meiste Zeit in seinem spärlich eingerichteten Zimmer im Haus seiner Eltern im Al Nafaq Viertel von Gaza-Stadt.

Seine Beine sind fixiert mit Mullbinden und Metallschienen. Vor zwei Wochen habe ihm ein israelischer Scharfschütze in beide Beine geschossen, erzählt der 19-Jährige. Wie jeden Freitag in den letzten Monate hatte er den Nachmittag am "Zaun" verbracht und Steine geschleudert. "Es war ganz normal, dahin zu gehen. Fast alle meine Freunde sind da", sagt Abu Zer im Gespräch mit der DW.

Die Massenproteste des "Marsches der Rückkehr" am Grenzzaun zwischen Israel und dem Gazastreifen haben vor fast einem Jahr begonnen. Die Demonstranten fordern ein Ende der Abriegelung des Gazastreifens - der vom Seeweg, Luftweg und über Land von der Aussenwelt abgeschnitten ist.

Sieht keine Zukunft in Gaza: der bei Protesten gegen Israel angeschossene Mahmoud Abu ZerBild: DW/T. Krämer

Die meisten der jungen Demonstranten haben Gaza noch nie verlassen aufgrund der strengen Reisebeschränkungen, die Israel mit seiner Sicherheit begründet. Die Blockadepolitik der Nachbarländer Israel und Ägypten soll vor allem Druck auf die Machthaber in Gaza ausüben: Die Hamas hatte 2007 gewaltsam die Kontrolle über den Gazastreifen von der palästinensischen Autonomiebehörde übernommen.

Doch mehr als zehn Jahre und drei Kriege später sind die Folgen der Abriegelung überall angekommen: Die Arbeitslosigkeit ist noch weiter angestiegen, Strom ist Mangelware, die Grenzen sind für eine Mehrheit der Einwohner unüberwindbar. Viele sind zudem bitter enttäuscht von den vielfach gescheiterten Versöhnungsversuchen zwischen den politischen Rivalen Hamas und Fatah. Ohne eine politische Lösung ist auch immer die Sorge vor einem neuen Krieg zwischen der militanten Hamas und Israel präsent. 

Vor allem junge Palästinenser demonstrieren seit Monaten am Grenzzaun zu Israel ihre Wut Bild: picture-alliance

Keine Perspektiven, keine Sicherheit

Er habe nichts zu verlieren und gehe deshalb auf die Demos, sagt Mahmoud Abu Zer. "Es gibt keine Zukunft für uns junge Leute hier. Ich würde beide Beine dafür geben, damit sich die Situation für meine Familie verbessert." Vor der Verletzung hatte er aushilfsmäßig als Automechaniker gearbeitet. Aber in den letzten fünf Monaten fand er keinen Job mehr.

Abu Zer ist nur einer der vielen jungen Menschen, die auf der Suche nach Arbeit sind. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt laut Weltbank bei rund 70 Prozent. "Die von der Werkstatt haben immer dann angerufen, wenn sie jemanden brauchten. Aber jetzt - das war's. Alles ist ohnehin vorbei. Wenn ich zur Haustür unserer Wohnung gehen will, brauche ich Hilfe von zwei oder drei Leuten um mir hoch zu helfen." Fortbewegen kann er sich derzeit nur im Rollstuhl oder auf Krücken.

Seine Mutter hatte Bedenken, wenn ihr Sohn zum "Zaun" demonstrieren ging. "Es gibt keine Arbeit, weder für die Jungen noch für die Alten. Ich glaube, einige gehen dorthin, weil sie der Situation entfliehen wollen, in der sie leben. Einige wollen vielleicht sogar erschossen werden", sagt sie der DW.

"Feuerdrachen" für den Erzfeind IsraelBild: Getty Images/M. Abed

Die komplizierte Schussverletzung des Sohnes macht die ohnehin schwierige Situation der Familie nicht leichter. Abgesehen von ihrem ältesten Sohn, der als Schneider arbeitet, aber kaum Kunden findet, suchen alle Kinder Arbeit. Auch eine einmalige Zahlung von rund 87 Euro, die die Hamas an Verletzte zahlt, hilft nicht lange weiter.

Einen UN-Bericht, in dem Israel Kriegsverbrechen während der Gaza-Proteste im vergangenen Jahr vorgeworfen werden, wies der israelische Außenminister Israel Katz am Donnerstag zurück, der Bericht sei ein "absurdes Theater". Die UN-Experten sagen in ihrem Bericht, dass die Mehrzahl der Palästinenser unbewaffnet waren und "keine unmittelbare Bedrohung darstellten."

Israel nennt die Demonstrationen "Terror" und wirft der Hamas vor, die Proteste für ihre eigenen Ziele zu instrumentalisieren. Palästinenser sehen es als ihr Recht an, zu demonstrieren. Seit März letzten Jahres wurden laut UNO und dem palästinensischen Gesundheitsministerium über 180 Palästinenser erschossen und über 6.000 mit scharfer Munition verletzt, darunter Kinder, medizinisches Personal und Journalisten. Auf israelischer Seite starb ein Soldat und mehrere wurden verletzt. 

"Es wird nur immer schlimmer."

In Gaza wächst das Unverständnis über die schwierigen Lebensbedingungen und das Gefühl, keine Kontrolle mehr über die eigene Zukunft zu haben. Das setzt auch zunehmend die Hamas unter Druck. Einige Beobachter sehen deshalb die Proteste als Ventil, um die Wut nach innen abzufedern und vom eigenen Versagen abzulenken, für die Bürger zu sorgen.

Nach Weltbank-Schätzungen sind 70 Prozent der Jugendlichen in Gaza arbeitslosBild: DW/T. Krämer

Für andere ist die Protestbewegung einfach zu gefährlich geworden. "Ich würde nicht demonstrieren gehen", sagt Bilal Abu Nadi. "Nicht weil ich nicht patriotisch bin, sondern weil ich Verantwortung für andere trage." Der junge Palästinenser sagt, er habe Glück gehabt, in der Schreinerei seines Onkels Arbeit zu finden, nachdem er einen anderen Job verloren hatte.

"Für mich ist Gaza ein schöner Ort, aber es ist fast unmöglich geworden, hier zu leben. Besonders für jungen Leute. Wenn sich die politische und wirtschaftliche Situation nicht ändert, dann werden die meisten versuchen, von hier weg zu gehen." Bei Wasserpfeife und Kaffee diskutiert er viel mit seinen Freunden über die Situation, die alle ständig beschäftigt. "Man fühlt sich hier als lebender Toter", sagt einer seiner Freunde. "Politiker von allen Seiten reden viel, aber nichts hat sich verändert. Es wird nur immer schlimmer."

Das kleine Gebiet zu verlassen ist sowieso extrem schwierig. Hala Shoman hat es mehrfach probiert in den letzten Jahren: Aber sie ist entweder an einer abgelehnten Ausreisegenehmigung oder an einem geschlossenen Grenzübergang gescheitert. Die 26-jährige Zahnärztin hält sich mit Aushilfsjobs in zwei Zahnarztpraxen über Wasser. An manchen Tagen ist sie als freiwillige Rettungssanitäterin bei den Protesten im Einsatz.

Verpasste ein Promotions-Stipendium wegen geschlossener Grenzen: Hala ShomanBild: DW/T. Krämer

Weil der Grenzübergang mit Ägypten oft unregelmäßig offen oder geschlossen ist, hat sie ein Stipendium für eine Promotion in der Türkei verpasst. Gerade zu der Zeit war die Grenze für mehrere Wochen geschlossen. "Diese Gelegenheit zu verpassen hat mich für lange Zeit ziemlich deprimiert. Die erste Woche habe ich nichts essen können”, erinnert sie sich im Gespräch mit der DW.

Den Mangel an Perspektiven der jungen Menschen kennt auch Marie-Elisabeth Ingres, die die Organisation Ärzte ohne Grenzen in den besetzten palästinensischen Gebieten leitet. In einer der Kliniken der Organisation in Gaza-Stadt wird nun auch Mahmoud Abu Zer ambulant behandelt.

Am meisten Sorgen bereiten den Ärzten und Pflegern Knocheninfektionen, die mit den Schusswunden einhergehen. Diese in Gaza richtig zu behandeln, ist aufgrund des ohnehin völlig unterversorgten Gesundheitssystems extrem schwierig. Die vielen Verletzten stellen eine zusätzliche Herausforderung dar.

"Es gibt jetzt dieses Zeitfenster, in dem wir die Menschen behandeln können. Dann können wir ihre Gliedmaßen retten", sagt Ingres. "Wenn wir es in den nächsten Monaten nicht schaffen, wird es zu spät sein: Viele dieser jungen Menschen riskieren dann Amputationen."

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