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Trotz Modernisierung: Mehr Hinrichtungen in Saudi-Arabien

23. Juli 2024

Menschenrechts-Aktivisten beobachten einen enormen Anstieg vollstreckter Todesstrafen in Saudi-Arabien. Die Gründe dafür sind unterschiedlich.

Proteste gegen Hinrichtungen und Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien in den USA
Die Anzahl der Hinrichtungen in Saudi-Arabien hat sich nahezu verdoppeltBild: KEVIN DIETSCH/newscom/picture alliance

100 Hinrichtungen allein im laufenden Jahr: Die Zahl der vollstreckten Todesurteile in Saudi-Arabien ist in der ersten Jahreshälfte sprunghaft gestiegen. Bis zum 15. Juli richtete das Königreich laut einer Statistik von Menschenrechts-Aktivisten 98 Männer und zwei Frauen wegen Mordes, Terrorismus oder Drogendelikten hin - so lauteten jedenfalls im Regelfall die offiziellen Begründungen. Laut einer aktuellen Dokumentation der in Berlin ansässigen European Saudi Organization for Human Rights (ESOHR) ist dies ein Anstieg um 42 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Jahr 2023.

Allerdings: "Einige Hinrichtungen erfolgen nicht wegen der üblichen Verbrechen, sondern wegen politischer Vergehen wie 'Gefährdung der nationalen Einheit' oder 'Untergrabung der gesellschaftlichen Sicherheit'", kritisiert Kenneth Roth, ehemaliger Direktor von Human Rights Watch und derzeit Professor an der amerikanischen Princeton School of Public and International Affairs, im DW-Gespräch.

Politische Dissidenten und Menschenrechts-Aktivisten werden häufig vor einem geheimen Spezialstrafgericht angeklagt. Dieses gilt als Anti-Terror-Tribunal des Landes. Einem Report der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zufolge setzen die Behörden dieses Gericht als "Waffe" ein. Das Ziel: "abweichende Meinungen systematisch zum Schweigen zu bringen", so Amnesty.

Hinrichtungen im Kontrast zur Imagepolitur

Das harte Vorgehen gegen Bürgerrechtler steht in einem auffälligen Kontrast zur sogenannten Vision 2030, einem ehrgeizigen, von Kronprinz Mohamed bin Salman vorangetriebenen Projekt zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierung des Landes. Dieses soll die Abhängigkeit des Landes vom Ölverkauf durch Investitionen in grüne Technologien verringern, ausländische Investitionen anziehen und die Öffnung des Landes auch für nicht-religiösen Tourismus vorantreiben. Zu dieser Strategie gehört auch die Ausrichtung globaler Sportereignisse, so etwa der olympischen E-Sports-Meisterschaften oder der Fußball-Weltmeisterschaft 2034. Kritikern zufolge stellen die saudischen Investitionen in große Sportereignisse einen Versuch dar, die schlechte Menschenrechtsbilanz des Königreichs durch die Austragung großer Sportevents zu kaschieren - ein Versuch, für den sich international der Begriff desSportswashing" eingebürgert hat. 

Die jüngste Zunahme der Hinrichtungen steht aber auch in einem Spannungsfeld zu jüngsten Erklärungen der staatlichen saudischen Menschenrechtskommission. "Saudi-Arabien ist entschlossen, auf der Grundlage seiner bewährten Grundsätze und Werte die besten internationalen Standards für den Schutz und die Förderung der Menschenrechte zu erreichen", hatte Hala Al-Tuwaijri, die Präsidentin der Menschenrechtskommission, im Juli vor dem UN-Menschenrechtsrat erklärt.

Die Mitglieder des Rates hatten Saudi-Arabien Empfehlungen zur Verbesserung seiner Menschenrechtsbilanz gegeben. Dazu gehörten die Abschaffung der Todesstrafe und die Förderung der Grundfreiheiten. 

Die Erklärungen von Al-Tuwaijiri klängen hohl, sagt Ali Adubisi, der in Berlin lebende Leiter von ESOHR. "Echte Menschenrechte würden Kritik, Monitoring und Rechenschaftspflicht innerhalb eines autoritären Systems durchaus zulassen."

Die DW hat die saudi-arabische Menschenrechtskommission um einen Kommentar gebeten, aber bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung keine Antwort erhalten.

"Willkürliches und grausames Strafrechtssystem"

Die Zahl der Hinrichtungen in Saudi-Arabien hat in den letzten Jahren tendenziell zugenommen: Im Jahr 2023 wurden 172 Menschen hingerichtet, im Vorjahr waren es 196 Menschen - dreimal so viele wie 2021 und sieben Mal mehr als 2020.

"Die saudische Regierung unter Kronprinz Mohammed bin Salman wurde von der internationalen Gemeinschaft nicht für frühere Missbräuche zur Rechenschaft gezogen. Das hat ihm erlaubt, die Repression fortzusetzen", sagt Joey Shea, Saudi-Arabien-Forscher bei Human Rights Watch, im DW-Interview.

"Die Todesurteile sind Ergebnis eines höchst willkürlichen und grausamen Strafrechtssystems. Dieses lässt die Hinrichtung von Personen zu, die keinen fairen Prozess hatten", so Shea.

Der Anstieg der Hinrichtungen gründet zudem auf der Rückkehr zur Todesstrafe auch für Minderjährige sowie für Drogendelikte. Ein im Januar 2020 eingeführtes Moratorium endete im November 2022.

"Die saudische Regierung hatte versprochen, die Anwendung der Todesstrafe einzuschränken, insbesondere bei gewaltlosen Drogendelikten und bei minderjährigen Straftätern", so Shea. "Leider beobachten wir eine Umkehr. Das Versprechen, die Anwendung der Todesstrafe einzuschränken, wurde gebrochen."

Von den 100 Hinrichtungen im Jahr 2024 wurden laut der ESOHR-Dokumentation 66 wegen Mordes ausgeführt. Die übrigen trafen Personen, die nach offizieller Darstellung wegen Terrorismus oder Drogendelikten verurteilt worden waren.

Zusätzlich dürften die Hinrichtungen gestiegen sein, weil entsprechende Urteile zunehmend auf Grundlage der so genannten Tazir-Urteile gefällt wurden. Auf Tazir-Urteilen beruhende Strafen werden nicht auf Basis einer kodifizierten Rechtsanwendung gesprochen, sondern liegen im Ermessen unabhängiger Richter.

Das ESOHR beobachtet derzeit die Fälle von neun Minderjährigen im Todestrakt. Acht von ihnen wurden auf Grundlage von Tazir-Schuldsprüchen verurteilt.

Modernisierung ohne Menschenrechte: Kronprinz Mohammed bin SalmanBild: Sergei Savostyanov/Sputnik/REUTERS

Gemischte Bilanz bei Frauenrechten

Ein anderes Beispiel: Die Rechte von Frauen haben sich Experten zufolge in Saudi-Arabien zwar spürbar verbessert. Allerdings hätten die jüngsten Modernisierungsreformen nicht dazu geführt, dass Frauen-Aktivistinnen nicht mehr politisch verfolgt würden - wenngleich hier in aller Regel keine Todesstrafen drohen, sehr wohl aber mehrjährige Haftstrafen und Ausreiseverbote.

"Gäbe es in Saudi-Arabien Redefreiheit, würden die Menschen ihre Meinung zu ganz verschiedenen Themen äußern", sagt Lina al-Hathloul, Frauenrechtsaktivistin bei der in London ansässigen Menschenrechtsorganisation Alqst, gegenüber der DW. Ein staatlich anerkanntes Recht auf freie Meinungsäußerung würde auch der Menschenrechtsbilanz des Landes zugute kommen, meint al-Hathloul. Ziele hierfür müssten ein System der Kontrolle und der Ausgewogenheit sowie Mechanismen für eine Rechenschaftspflicht der Justiz sein. 

"Wenn wir jedoch weiterhin die Augen vor Menschenrechtsverletzungen durch die Behörden verschließen, werden diese noch härter durchgreifen und jeden mundtot machen, der als potenzieller Dissident angesehen werden könnte", so al-Hathloul.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.