1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Notstand im Zeichen der Wechselstimmung

5. Oktober 2020

Tschechien ruft den Corona-Notstand aus - kurz nach einer wichtigen Regionalwahl, die einen politischen Wechsel im Land einläuten könnte.

Tschechien Prag | Coronakrise
Tschechien ruft den Corona-Notstand ausBild: Michal Kamaryt/CTK Photo/Imago Images

"Der Ausnahmezustand ist zurück!" Mit solchen und ähnlichen Schlagzeilen machten am Montag viele tschechische Medien auf. Denn in Tschechien, das zur Zeit im europäischen Vergleich besonders von der Corona-Pandemie betroffen ist, hat die Regierung einen vorerst 30-tägigen Notstand ausgerufen.

Verbunden ist er mit zahlreichen Einschränkungen, etwa einem weitreichenden Versammlungsverbot, Schul- und Universitätsschließungen und einer Ausweitung der Maskenpflicht. Der erst seit wenigen Wochen amtierende Gesundheitsminister Roman Prymula warnte: Würden die Menschen die Beschränkungen nicht einhalten, müsse man zu noch schärferen Maßnahmen greifen.

Premierminister gibt Fehler zu

Der Grund: In Tschechien ist die Zahl der Covid-19-Infektionen in den vergangenen Tagen und Wochen regelrecht explodiert. Am vergangenen Wochenende verzeichnete das Land mit rund 4400 Neuinfektionen einen Rekordwert seit Beginn der Pandemie im März. Bei der Rate der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner liegt Tschechien in der EU zurzeit auf Platz zwei nach Spanien.

Corona-Teststation in PragBild: Vit Simanek/CTK/dpa/picture-alliance

Die Ursache für dieses Fiasko ist ein allzu sorgloser und aus politischen Günden bewusst locker gehaltener Umgang der tschechischen Regierung mit Corona-Beschränkungen. Nach einer vergleichsweise erfolgreichen Bewältigung der ersten Corona-Welle gab es im Sommer in Tschechien kaum noch Beschränkungen. Als die Zahlen jedoch wieder anstiegen und Ende August der damalige Gesundheitsminister Adam Vojtěch eine strengere Maskenpflicht forderte, lehnte der Regierungschef Andrej Babiš ab.

Einige Wochen später trat Vojtěch, der weder Mediziner noch Gesundheitspolitiker ist, zurück - offenbar ein Bauernopfer des Regierungschefs. Babiš holte den parteilosen Epidemiologen Prymula ins Kabinett, der ein harter Verfechter von Beschränkungen ist. Kurz darauf gab Babiš in einer Ansprache zu, in der Corona-Politik Fehler begangen zu haben - lehnte aber einen eigenen Rücktritt ab. Statt dessen bat er die Opposition, "für eine Weile damit aufzuhören, dauernd zu streiten", er sei den Streit leid.

Ein Politikwechsel bahnt sich an

Das tschechische Corona-Management der vergangenen Wochen ist ein Beispiel dafür, wie der wirtschaftsliberale und rechtspopulistische Ministerpräsident Andrej Babiš ein Land wegen seiner eigenen politischen Agenda und mit eigenen Affären faktisch in Geiselhaft nimmt. Zugleich fällt der neue Notstand in eine Zeit, in der die Stimmung in Tschechien sich bei einem Teil der Gesellschaft zunehmend gegen Babiš und seine Regierung wendet und sich ein Politikwechsel anbahnt.

Premierminister Andrej Babiš, Pressekonferenz nach dem ANO-Wahlsieg (3.10.2020)Bild: Michaela Rihova/CTK/dpa/picture-alliance

Die Partei des Premieministers, ANO (Aktion unzufriedener Bürger), erlebte knapp ein Jahrzehnt lang einen politischen Aufstieg als vermeintliche Anti-Establishment-Kraft. Der Milliardär Babiš selbst präsentiert sich gern als Antibürokrat und Kämpfer gegen Korruption, der mit der Misswirtschaft der Elite aufräumt. Seit 2017 koaliert er mit den Sozialdemokraten (ČSSD) und wird von den Kommunisten unterstützt (KSČM).

Trotz des Images, dass sich Babiš selbst gern verpasst, hängen ihm zahlreiche Korruptionsaffären an. Unter anderem hat er sich trickreich EU-Subventionen erschwindelt. Als Regierungschef übergab er sein Agrofert-Firmenimperium zwar einem Treuhandfonds und behauptet, keinen Einfluss mehr auf dessen Geschäftspolitik auszuüben. EU-Ermittler sehen das jedoch anders und meinen, dass sich Babiš durchaus in einem Interessenkonflikt befände.

Mobile Wahlurnen im Regionalkrankenhaus in der Stadt ZlinBild: Dalibor Gluck/CTK/dpa/picture-alliance

Gegen Babiš und seine Schwindeleien gingen im vergangenen Jahr Hunderttausende auf die Straße, Tschechien erlebte die größten Protestkundgebungen seit der Samtenen Revolution. Die Corona-Pandemie beendete die Proteste erst einmal. Doch nun zeigte sich bei der Wahl für die tschechischen Regionalparlamente und für den Senat, die Oberkammer des nationalen Parlaments, eine Wende ab. ANO gewann die Wahl der Regionalparlamente und auch den ersten Durchgang der Senatswahl zwar nominell, allerdings stagnierte ihr bislang unaufhaltsamer Aufstieg deutlich. Zudem erlitten die Sozialdemokraten und die Kommunisten eine schwere Niederlage. Die oppositionellen progressiv-liberalen Piraten und die liberal-konservative Bewegung Bürgermeister und Unabhängige (STAN) legten hingegen stark zu.

Ein Test für die Parlamentswahlen

Der Politik- und Sozialwissenschaftler Lubomír Kopeček von der Masaryk-Universität Brünn nennt das Wahlergebnis einen "formalen Sieg, aber dennoch wirklich schlechtes Ergebnis für ANO". Das liege zum Teil daran, dass viele ältere Wähler, die Babiš-Anhänger seien, wegen der Corona-Ansteckungsangst zuhause geblieben seien, so Kopeček zur DW. Aber auch das erfolglose Corona-Management habe zum Wahlergebnis beigetragen. Die Wahl sei auch ein Test für die Parlamentswahl im kommenden Herbst. "Allerdings hat die fragmentierte tschechische Opposition vermutlich nur eine Chance, Babiš zu besiegen, wenn sie größere Wahlblöcke bildet", so Kopeček.

Der Politologe, Publizist und einstige Havel-Berater Jiři Pehe sagt der DW, ANO habe nur deshalb gesiegt, weil die Corona-bedingte ökonomische Krise in Tschechien noch nicht voll angekommen sei. "Babišs Regierung hat die Arbeitslosigkeit mit Hilfe einer gigantischen Staatsverschuldung niedrig gehalten, allen Rentnern einen einmaligen Bonus ausgezahlt und den Notstand bis zuletzt verschoben", so Pehe. dennnoch liege das Wahlergebnis für ANO um acht Prozent niedriger als bei der letzten Wahl 2017. "Babiš ist in Schwierigkeiten und muss sich Sorgen machen, dass seine Koalitionpartner nicht mehr ins Parlament einziehen", sagt Pehe, "deshalb sind diese jetzigen Wahlen das Zeichen eines Wechsels."