Tschechien nach der Wahl: Wie scharf wird die Kehrtwende?
5. Oktober 2025
Als Andrej Babis in Tschechiens Hauptstadt Prag vor die Kameras tritt, spielen sie sein Lieblingslied, den italienischen Achtziger-Jahre-Schlager "Sarà perché ti amo". Papierschnipsel segeln von der Decke herab. Babis singt euphorisch mit und strahlt über das ganze Gesicht. Noch nie war der rechtspopulistische Politiker, Ex-Premier und Milliardär in so kindlicher Ausgelassenheit zu erleben.
Am Mikrofon ergeht sich der 71-Jährige in Superlativen: "Ich freue mich sehr, dass die ANO-Bewegung ein historisches Ergebnis erzielt hat. Historisch! Wir haben die höchsten Zahlen in der Wahlgeschichte erreicht", sagt Babis und fügt hinzu: "Das ist der Höhepunkt meiner politischen Karriere."
Prag am Samstagabend: Die rechtspopulistische Partei ANO, was für Bewegung unzufriedener Bürger steht, von Ex-Premier Andrej Babis hat die Abgeordnetenhaus-Wahl in dem Mitgliedsstaat der Europäischen Union mit großem Vorsprung gewonnen. Tschechische Medien sprechen von einem "Triumph" und "Andrejs Comeback", nachdem der Milliardär und seine Partei im Jahr 2021 die Wahl verloren hatten und Babis selbst auch 2023 bei der Präsidentenwahl klar unterlag.
Verlierer Extremisten
Nun kommt ANO bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung von rund 69 Prozent auf 34,5 Prozent der Stimmen und gewinnt gegenüber 2021 deutlich dazu. Doch das bislang regierende liberal-konservative Bündnis SPOLU (Gemeinsam) des amtierenden Premiers Petr Fiala erreicht immerhin 23,4 Prozent - der Verlust gegenüber 2021 hält sich mit viereinhalb Prozent in Grenzen. Auch die mitregierende konservative Partei Bürgermeister und Unabhängige (STAN) schneidet mit 11,2 Prozent gut ab, ebenso wie die liberal-grüne Piraten-Partei mit 9 Prozent Stimmenanteil.
Große Verlierer sind die Rechts- und Linksextremisten. Die rechtsextreme Partei Freiheit und direkte Demokratie (SPD) kommt nach einem zweistelligen Ergebnis 2021 nur noch auf 7,8 Prozent. Das kommunistische Parteibündnis Stacilo! (zu Deutsch: Es reicht!) scheitert an der Fünf-Prozent-Hürde. Dafür zieht die neu angetretene, rechtspopulistische Autofahrer-Partei (Motoriste) erstmals mit 6,8 Prozent ins Parlament in Prag ein.
Keine "Koalition des Grauens"
Die meisten Umfragen kurz vor der Wahl haben das Wahlergebnis zwar nicht krass falsch prognostiziert. Sie litten aber unter der hohen Zahl der bis zuletzt unentschlossenen Wähler. Überraschend auch für die Demoskopen ist neben dem guten Abschneiden von ANO, dass die Regierungsparteien kein Wahlfiasko erlitten und andererseits extremistische Parteien klar verloren haben.
"Die Mehrheit der Bürger wollte zwar keine Fortsetzung der bisherigen Regierung, aber auch keine sehr radikalen Veränderungen", schreibt der Kommentator Alex Svamberk vom Portal Novinky. Johana Hovorkova vom Portal Forum 24 kommentiert das schlechte Abschneiden der Extremisten als "Niederlage Putins".
In der Tageszeitung "Lidove Noviny" heißt es, eine "Koalition des Grauens" aus ANO mit Rechts- und Linksextremisten werde es nicht geben. Eine Gefahr für die Sicherheits- und Außenpolitik der Tschechischen Republik bestehe nicht.
Pessimistischer Premier Fiala
In den Worten von Noch-Regierungschef Fiala klang das am Wahlabend etwas anders. Der 61-jährige Konservative hatte im Wahlkampf vor einer prorussischen, antieuropäischen "Regierung des nationalen Verrats" gewarnt. "Wir wollten nicht, dass dieses Land von Nationalisten, Extremisten und Populisten dominiert wird. Leider ist dies geschehen", sagte er am Samstagabend.
Fiala betonte zugleich, dass er die Verantwortung für das Wahlergebnis übernehme. Womit er auf einen möglichen Rücktritt als Vorsitzender der Partei ODS anspielte, die führende Kraft im bisherigen Regierungsbündnis SPOLU.
Sein Regierungskollege Vit Rakusan, Innenminister und Chef der Partei STAN, sagte am Wahlabend, man werde "die Rolle einer würdigen Opposition spielen". Außerdem kündigte er an, "die Zusammenarbeit der demokratischen Kräfte" nicht aufzugeben.
Theoretisch ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die bisherigen Regierungsparteien mit Unterstützung der rechtspopulistischen Autofahrer-Partei weiterregieren - SPOLU, STAN und die Piraten kämen mit ihnen zusammen auf eine Mehrheit. Dafür müssten aber vor allem die Piraten grundsätzliche Abstriche an ihrer grünen Programmatik machen.
Nominiert der Präsident Babis als Regierungschef?
Am wahrscheinlichsten scheint derzeit eine Koalitionsregierung aus ANO und der Autofahrer-Partei mit parlamentarischer Unterstützung der rechtsextremistischen SPD. Ohne dass die Rechtsextremisten personell in der Regierung vertreten ist. Erste Gespräch dazu fanden bereits statt.
Allerdings ist fraglich, ob Andrej Babis erneut Premier wird. Dafür müsste er vom Staatspräsidenten Petr Pavel nominiert werden. Doch Pavel hat offengelassen, ob er das tun wird - angesichts der vielfachen Interessenkonflikte von Babis und der gegen ihn laufenden Strafprozesse.
Babis ist Eigentümer des Agrofert-Konzerns. Das Unternehmen hat eine Monopolstellung in vielen Bereichen der tschechischen Agrar-, Lebensmittel- und Chemieindustrie. Babis selbst steht wegen Subventionsbetrug unter Anklage.
An seiner Stelle könnte aber der ANO-Vizechef Karel Havlicek Premierminister werden. Der 56-Jährige gilt als gemäßigtes Aushängeschild von ANO. Babis ist jedoch der unbestrittene Chef in seiner Partei, die ohne seine Finanzierung und ohne seine schillernden Auftritte nicht überleben würde. Deshalb würde er im Hintergrund bestimmen.
Test: Ukraine-Unterstützung
Welche innen- und außenpolitische Ausrichtung eine künftige ANO-Regierung hat, ist ebenfalls schwer vorherzusagen. Andrej Babis gründete zwar im vergangenen Jahr zusammen mit Ungarns Premier Viktor Orban und FPÖ-Chef Herbert Kickl aus Österreich die rechtsextreme Parteienallianz Patrioten für Europa. Allerdings ist Babis selbst weder Extremist noch rechtspopulistischer Hardliner und nicht so konsequent prorussisch, antiukrainisch und europafeindlich wie beispielsweise Orban.
Der wichtigste erste Test einer ANO-Regierung wird die Frage der Ukraine-Unterstützung sein. Die Tschechische Republik war bisher eine der entschiedensten Unterstützerinnen der Ukraine. Fialas Regierung in Prag brachte Anfang 2024 eine europäische Munitionsinitiative auf den Weg, mit der sie weltweit auf diskrete Weise Artilleriemunition für die Ukraine kaufte.
Babis hatte im Wahlkampf angedeutet, diese Initiative zu stoppen. Sein Vize Havlicek sagte jedoch am Samstagabend, man verlange lediglich, dass überprüft werde, ob die Finanzierung und der Kauf der Munition korrekt abliefen.
Die Radikalisierung des Andrej Babis
Während Beobachter in der Tschechischen Republik darin übereinstimmen, dass das Land unter einer ANO-Regierung bei Weitem nicht mit Orbans Ungarn zu vergleichen sei, warnen manche davor, Babis zu unterschätzen. Tatsächlich hat sich der Milliardär in den vergangenen Jahren radikalisiert.
Noch vor einigen Jahren wetterte er nur gegen Bürokraten, "illegale Migranten" und gegen ihm unliebsame Journalisten. Jetzt sind auch die Europäische Union, die Grünen, Menschen aus der LGBTQ-Community, Liberale und die Ukraine dabei. Und Babis Ton ist wesentlich schärfer geworden.
Peter Honzejk, Kommentator der Zeitung "Hospodarske Noviny", zieht deshalb nach der Wahl besorgt Bilanz: "Die Verteidigung der Brötchenpreise hat über die Verteidigung des Landes gesiegt", schreibt er in Anspielung auf die populistischen Versprechen von Babis. "In der Politik der Tschechischen Republik steht eine Wende bevor", prognostiziert Honzejk.