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PolitikEuropa

Tschechien will weg vom russischen Gas

30. Mai 2022

Bisher ist die Tschechische Republik zu 100 Prozent von russischem Erdgas abhängig. Nun sucht die Regierung in Prag andere Versorger. Eine Möglichkeit: der Anschluss an Pipelines in Polen.

Tschechien | Gas Pipeline in Primda
Die Pipeline Gazela im deutsch-tschechischen Grenzort Primda liefert russisches Erdgas in die EUBild: Michael Cizek/AFP/Getty Images

Mehr als jeder andere Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist die Tschechische Republik von russischem Gas abhängig: 100 Prozent seiner Gasimporte bezieht das Land aus Russland. Dabei ist Tschechien sowohl an die Gaspipelines von Russland nach Europa angeschlossen als auch an die Gazela-Pipeline, die von Norddeutschland nach Bayern über tschechisches Gebiet führt. Auch durch sie gelangt einzig russisches Gas in die Tschechische Republik.

Das müsste nicht so sein, denn es gab den Plan, sich mithilfe des Nachbarlandes Polen aus dieser Anhängigkeit zu befreien - und sich aus Flüssiggas-Terminals in polnischen Häfen und eine neu gebaute Pipeline aus Polen mit Erdgas aus Katar, den USA oder Norwegen zu versorgen.

Im Jahr 2016 hatte die Regierung unter Ministerpräsident Bohuslav Sobotka (2014-2017) mit Warschau den Anschluss an die Stork-II-Gaspipeline aus Polen vereinbart. Das nachfolgende Kabinett von Premierminister Andrej Babis (2017-2021) hatte dieses Projekt jedoch wieder verworfen.

"Was unsere Energiesicherheit betrifft, halte ich es für einen Fehler, dass die vorherige Regierung nichts unternommen hat, um das tschechische Gasnetz mit dem polnischen zu verbinden", erklärte der tschechische Wirtschaftsminister Jozef Sikela gegenüber dem Nachrichtenserver seznam.cz. Daher versucht der derzeitige Ministerpräsident Petr Fiala nun, das Projekt wiederzubeleben: Das Thema stand auf der Tagesordnung, als er im April 2022 Warschau besuchte.

"Wir haben vereinbart, die Verhandlungen über die Stork-II-Pipeline wieder aufzunehmen. Die Tschechische Republik wäre an einer gemeinsamen Nutzung der Kapazität künftiger LNG-Terminals, die Polen zu bauen plant, interessiert. Wir sind bereit, einen Teil der Kapazität zu erwerben, was für uns von Vorteil wäre", so Fiala Ende April 2022 nach einem Treffen mit dem polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki.

Kein Zugang zum Meer

"Die Tschechische Republik verfügt wie Österreich, die Slowakei oder Ungarn über keinen Zugang zum Meer", erläutert Vaclav Bartuska, Tschechiens Botschafter für Energiesicherheit, im Gespräch mit der DW. "Daher wird jede Lösung für unsere zukünftige Gasversorgung von der Zusammenarbeit mit denjenigen Nachbarländern abhängen, die über einen solchen Zugang verfügen, sei es Polen oder Deutschland oder andere."

Vaclav Bartuska ist Tschechiens Botschafter für EnergiesicherheitBild: MZV CR

Deutschland sei für die tschechische Energieversorgung schon lange wichtig: "Seit den 1990er Jahren stützt sich unsere Diversifizierung der Öllieferungen auf die Pipeline von Ingolstadt in Bayern und auf die Lieferung von norwegischem Gas durch Deutschland. Das hat für uns immer Priorität gehabt", so Bartuska.

"Absolut grundlegende Veränderung"

Dabei sei jedoch nicht klar, inwieweit die Gazela-Pipeline, die über die Tschechische Republik den Norden und Süden Deutschlands verbindet, seinem Land bei der Gasversorgung helfen könne, fügt Tschechiens Botschafter für Energiesicherheit hinzu: "Zurzeit kann niemand abschätzen, wie die Gasströme in Europa in zehn oder 15 Jahren aussehen werden. Der Rückzug des russischen Gases und Russlands im Allgemeinen stellt eine absolut grundlegende Veränderung dar", so Bartuska.

Russland habe die EU noch im Jahr 2021 mit vierzig Prozent ihres gesamten Gasbedarfs beliefert. Erst jetzt versuche Europa, diese Abhängigkeit abzubauen. "Deshalb werden jetzt die Karten der Gasflüsse neu gezeichnet - und es stellt sich unter anderem die Frage, wo das Gas innerhalb Deutschlands fließen wird, durch Tschechien oder durch eine innerdeutsche Verbindung", so Bartuska. Klar sei, dass der Grundfluss des Erdgases, der bisher von Osten nach Westen und von Norden nach Süden verlaufen sei, an vielen Stellen völlig anders sein werde.

Herausforderung für Tschechiens EU-Vorsitz

Die Tschechische Republik wird sich mit der Frage der Gasversorgung für den nächsten Winter nicht nur für die Tschechische Republik, sondern auch für die gesamte Europäische Union befassen müssen. Denn ab dem 1. Juli wird sie die EU-Ratspräsidentschaft von Frankreich übernehmen. "Das ist eine absolut entscheidende Aufgabe, ein Test, der über die Glaubwürdigkeit der EU entscheiden wird", so Mikulas Bek, Minister für europäische Angelegenheiten, gegenüber der DW.

Der tschechische Minister für europäische Angelegenheiten, Mikulas BekBild: Amt der Regierung der Tschechischen Republik

"Das ist eine noch ernstere Situation als die Bewältigung der COVID-Krise", so Bek weiter. Dabei habe die Tschechische Republik selbst noch "Glück im Unglück", denn man verwende Gas kaum für die Stromerzeugung. Von entscheidender Bedeutung sei es jetzt, alle Speicher so schnell wie möglich zu füllen. Experten schätzen, dass damit im Winter 30 Prozent des Verbrauchs gedeckt werden können, was bedeutet, dass zumindest für die tschechischen Haushalte genügend Gas zum Heizen vorhanden wäre.

Slowakei macht sich unabhängig

Die benachbarte Slowakei ist in einer wesentlich besseren Position als die Tschechische Republik. Das Unternehmen Eustream hat den 160 Kilometer langen Anschluss an das polnische Gasnetz bereits erfolgreich abgeschlossen. Die neue Pipeline hat eine Kapazität von über fünf Millionen Kubikmetern pro Jahr, was 100 Prozent des Jahresverbrauchs der Slowakei entspricht.

"Sie ist bereits betriebsbereit", so der slowakische Premierminister Eduard Heger bei einem Besuch einer Kompressorstation an der polnisch-slowakischen Grenze vor Journalisten. "Sie wird unsere Gasversorgungssicherheit gewährleisten und uns auch Zugang zu dem Gas verschaffen, das uns aus den polnischen Häfen geliefert werden wird. Gleichzeitig können wir uns über diese Pipeline an norwegisches Gas anschließen."

In diesem Zusammenhang kündigte der slowakische Wirtschaftsminister Richard Sulik die Unterzeichnung eines Vertrags über die Lieferung von Gas aus Norwegen an, das 32 Prozent des slowakischen Verbrauchs decken wird. Weitere 34 Prozent werden durch amerikanisches Flüssigerdgas aus LNG-Terminals gedeckt. "Ich kann ankündigen, dass wir ab dem ersten Juni unsere Abhängigkeit von russischem Gas um 65 Prozent verringern werden", sagte Sulik auf einer Pressekonferenz.

Lubos Palata Korrespondent für Tschechien und die Slowakei, wohnhaft in Prag