Tschetschenien: Freiwilliger Kopftuch-Zwang?
6. April 2006Russische Nachrichtenagenturen hatten gemeldet, der tschetschenische Premierminister Ramsan Kadyrow habe den Frauen in seiner Republik angeordnet, ein Kopftuch zu tragen. Die Anordnung betreffe Mitarbeiterinnen der Regierung, des Parlaments, der Ministerien und Behörden, Fernsehmoderatorinnen sowie Schülerinnen und Studentinnen an Mittel- und Hochschulen. Kadyrow selbst erklärte später, er habe eine solche Anordnung nicht herausgegeben, sondern nur gesagt, dass Frauen mit einem Kopftuch jungfräulicher aussehen würden. Nicht nur den Einwohnern Tschetscheniens ist klar, dass solche Erklärungen und Empfehlungen Kadyrows einen "freiwilligen Zwang" darstellen.
Tradition oder Zwang?
Kadyrows Initiative spaltet die Gesellschaft. Die einen unterstützen den tschetschenischen Premier und meinen, Traditionen wiederzuerwecken. Andere Einwohner Tschetscheniens, wie beispielsweise die Bibliothekarin Fatima Israilowa, meinen, Kadyrows Empfehlungen seien Zwangsmaßnahmen. Fatima selbst trägt häufig eine Kopfbedeckung. Sie sagte: "Es ist dumm, jemanden dazu zu zwingen, ein Kopftuch zu tragen. Auf der Straße trage ich ein Kopftuch, nicht weil ich dazu gezwungen werde, sondern weil ich verheiratet bin und meinen Mann achte." Gemäß der Tradition der Wainachen müssen Frauen ein Kopftuch tragen. Dieses gilt nicht nur als Accessoire, sondern ist auch ein Symbol für Frömmigkeit. Fatima betont: "Als Zeichen der Liebe schenkt ein Mädchen dem Jungen ihr Kopftuch."
Kritik einer Menschenrechtlerin
Die Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa ist Tschetschenin. Sie ist dagegen, dass Frauen gezwungen werden, ein Kopftuch zu tragen. Estemirowa macht darauf aufmerksam, dass es auch früher solche Initiativen in Tschetschenien gegeben habe: "Wenn die Männer sich vor ernsthaften Angelegenheiten drücken, dann greifen sie immer wieder zum Kopftuch für die Frauen. Wir beobachten das bei uns seit 1991. Als es 1991 bei uns zum Umsturz kam, gab es sehr große Wirtschaftsprobleme, die gelöst werden mussten. Niemand konnte sie aber lösen. Man fand die Wurzel allen Übels und verlangte von den Frauen, ein Kopftuch zu tragen. Unter Maschadow gab es wieder Wirtschaftsprobleme und wieder griff man zum Kopftuch. Und jetzt weiß man nicht, wie man die Korruption bekämpfen soll. Man weiß nicht, wie man das Problem mit den Entführungen lösen soll. Es ist offensichtlich schwierig, Vertreter der Sicherheitskräfte zu zwingen, einen von ihnen entführten Menschen freizulassen. Es ist viel leichter, die eigene Frau zu zwingen, ein Kopftuch zu tragen."
"Mobiltelefone verderben Frauen"
Kadyrows Empfehlung an alle Frauen, ein Kopftuch zu tragen, gehört seiner Meinung nach zu den Maßnahmen, mit denen Sittlichkeit in der tschetschenischen Gesellschaft wiederhergestellt werden soll. Die Menschen in Tschetschenien erinnern sich an den Sommer vergangenen Jahres, als der Premier Spielautomaten beseitigen ließ, die seiner Ansicht nach die tschetschenische Jugend demoralisierten. Auch Anfang dieses Jahres hatte sich Kadyrow der Frauen angenommen. Diesmal waren es Bilder und Videoclips in Mobiltelefonen, die stark die Moral beeinflussten. Natalja Estemirowa von der Menschenrechtsorganisation Memorial sagte dazu: "Kadyrow erklärte, Frauen und Mädchen brauchten keine Mobiltelefone. Diese würden nur zu moralischer Zügellosigkeit führen, die Frauen und Mädchen verderben und negativ beeinflussen. Manche nutzten dies natürlich aus und nahmen beispielsweise Frauen in Bussen Mobiltelefone weg."
Misstrauen gegenüber Männern?
Viele russische Menschenrechtler bewerten Kadyrows Empfehlungen als Verstoß gegen die Verfassung des Landes. Sie befürchten, dass Kadyrow Tschetschenien zu einem Scharia-Staat machen will. Der Herausgeber der Zeitung Tschetschenskoje obschtschesto, Timur Alijew, meint, bei Kadyrows Empfehlung handele es sich nur um den Versuch, eine Tradition zu bewahren: "Ich vermute, dass dies in diesem Fall eher durch das Misstrauen gegenüber den Männern hervorgerufen wurde, weil ein Rowdy an eine bescheiden gekleidete Frau nicht herantreten wird. Das ist auf die Sorge um die Frauen zurückzuführen."
Diskussion um Polygamie
Gestritten wird über die Sittlichkeit der tschetschenischen Frau seit dem ersten Krieg, als das Wertesystem, das in der tschetschenischen Gesellschaft über Jahrhunderte entstanden war, nach und nach zerstört wurde. Bibliothekarin Fatima Israilowa sagt dazu: "Die heutigen Frauen unterscheiden sich von denen vor zehn Jahren deutlich. Es gibt viele Witwen, auch solche, die 16 oder 17 Jahre alt sind. Unsere Intelligenzija hat schon vorgeschlagen, ein Gesetz über die Polygamie zu verabschieden. Vielleicht würde dies helfen."
Kopftuch-Kontrollen
Heute sind in Behörden und im tschetschenischen Fernsehen Frauen nur noch mit Kopfbedeckung zu sehen. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, zwingt sogar nicht-tschetschenische Frauen, ein Kopftuch zu tragen. Fatima Israilowa nannte in diesem Zusammenhang ein Beispiel: "In unserem Parlament gibt es ein Aufsichtsorgan, dessen Vertreter von Amtsstube zu Amtstube gehen und schauen, ob ein Kopftuch getragen wird."
Natalja Nesterenko
DW-RADIO/Russisch, 31.3.2006, Fokus Ost-Südost