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Türkei: Größte Oppositionspartei CHP vor Zerreißprobe

27. Juni 2025

Ihr Präsidentschaftskandidat sitzt im Gefängnis. Gegen ihren Vorsitzenden wird ermittelt. Nun droht ein Gerichtsverfahren. Die größte türkische Oppositionspartei CHP steht vor einer ernsthaften Belastungsprobe.

Auf dem 38. Parteitag der größten Oppositionspartei der Türkei CHP. Links der 50-jährige Parteivorsitzende Özgür Özel, rechts der 76-jährige Ex-Parteichef Kemal Kilicdaroglu. Beide in dunklen Anzügen und weißen Hemden
Grabenkämpfe drohen die größte türkische Oppositionspartei CHP auseinanderzureißenBild: Mustafa Ciftci/AA/picture alliance

In den letzten Wochen hat die türkische Öffentlichkeit einen juristischen Begriff kennengelernt, der das Schicksal der größten Oppositionspartei besiegeln könnte: "Mutlak Butlan" - zu Deutsch absolute Nichtigkeit. Genau das könnte am 30. Juni geschehen, wenn der Prozess gegen die CHP zu Ende geht.

Denn an diesem Tag könnten die Richter in der Hauptstadt Ankara den 38. Parteitag der CHP für nichtig erklären. Würde das geschehen, verlöre die gesamte reformwillige Parteiführung ihre Legitimität. Die älteste Partei der Türkei, die seit der Inhaftierung ihres Präsidentschaftskandidaten Ekrem Imamoglu im März Millionen Menschen zu Protesten mobilisiert hat, würde in ein totales Chaos stürzen.

Was steckt hinter diesem Verfahren?

Nach der bitteren Wahlniederlage der CHP bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei im Mai 2023 wurden innerhalb der Partei Rufe nach einem Führungswechsel laut. Insbesondere der selbstbewusste Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, der Erdogans Kandidaten in der Metropole am Bosporus dreimal besiegt hat, drängte seine Partei zu Reformen. Auf dem Parteitag im November 2023 unterstützte er den heutigen Parteivorsitzenden Özgür Özel, der sich gegen den langjährigen Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu durchsetzte. Auch die komplette Parteispitze wurde damals ausgetauscht.

Fast 14 Jahre lang hat Kemal Kilicdaroglu (rechts) die CHP geführt und in dieser Zeit jede Wahl gegen Erdogans AKP verloren Bild: Mehmet Kacmaz/Getty Images

Der alte Bürokrat Kilicdaroglu hatte die CHP fast 14 Jahre lang geführt und in dieser Zeit jede Wahl gegen die Regierungspartei AKP und den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verloren. Beobachter bescheinigen dem heute 76-Jährigen fehlendes Charisma und Volksnähe, weshalb er im Land als "Erdogans bevorzugter Rivale" galt.

Doch Kilicdaroglus traditionell-nationalistischer Flügel akzeptierte die Niederlage nicht. Sie stellten Strafanzeige und behaupteten, das Wahlverfahren auf dem besagten Parteitag sei unrechtmäßig abgelaufen. Zudem unterstellten sie dem Reformflügel unter Özel und Imamoglu, den Sieg nur durch den Kauf von Stimmen der Delegierten errungen zu haben, woraufhin die Staatsanwaltschaft Ermittlungen einleitete.

Um einem negativen Urteil zuvorzukommen, hielt die CHP im April einen außerplanmäßigen Parteitag ab, bei dem die neue Führung mit großer Mehrheit erneut bestätigt wurde. Doch auch dagegen stellte der alte Flügel Strafanzeige.

Währenddessen versucht auch die regierungsnahe Presse, beide Seiten gegeneinander auszuspielen. Sie behauptet, der alte Vorsitzende samt seinem Flügel sei Opfer von parteiinternen Intrigen geworden.

Seit der Festnahme von Ekrem Imamoglu, Präsidentschaftskandidaten der CHP veranstaltet seine Partei jede Woche zwei Protestkundgebungen. Am 29. März trat auch seine Frau Dilek auf einer aufBild: KEMAL ASLAN/AFP

Das Ergebnis ist eine heftige Auseinandersetzung, die die Anhängerschaft in zwei Lager spaltet, die sich gegenseitig mit schweren Vorwürfen und Beleidigungen überziehen.

Steckt ein strategisches Manöver dahinter?

Ja, für Berk Esen, Politikwissenschaftler an der Sabancı Universität in Istanbul, steckt dahinter eine klare Strategie von Erdogan. Er versuche, so Esen im Interview mit der DW, die größte Oppositionspartei zu schwächen und zu spalten, weil die CHP an Zuspruch gewonnen habe und Widerstand gegen die zunehmenden Repressionen leiste. Zudem erinnert Esen daran, dass der türkische Staatspräsident diese Methode in der Vergangenheit bereits gegen drei Oppositionsparteien angewandt und jedes Mal Erfolg gehabt habe.

Der Politikwissenschaftler Dr. Berk EsenBild: Privat

Esen zufolge verhindere Erdogan ein weiteres Mal die Reform- und Verjüngungsprozesse der Opposition, um der Erschließung neuer Wählerschichten entgegenzuwirken. Ihm seien die alten, erstarrten, volksfernen und erfolglosen Führungen der Opposition als Rivalen genehmer. Sollte das Gericht am Montag zum Nachteil der jungen CHP-Führung urteilen, hätte Erdogan erneut gewonnen, fügt der Experte hinzu.

Welche Szenarien sind möglich?

Experten halten die türkische Justiz für nicht unabhängig und spekulieren seit Tagen über mehrere Szenarien:

Szenario 1: Keine Probleme. Fällt das Urteil zugunsten der aktuellen Führung aus, was eher unwahrscheinlich ist, kann die CHP unter Özgür Özel ihren Weg fortsetzen.

Szenario 2: Die alte Garde kehrt zurück. Falls die Richter sich gegen die aktuelle Führung aussprechen, verlören die gesamte Parteispitze und die Parteiorgane ihre Legitimität. In diesem Fall könnte der alte Vorsitzende die Partei übernehmen. Er könnte dann die CHP nach seinem Willen gestalten, was laut dem Politikwissenschaftler Esen noch mehr Chaos bedeuten würde, weil er nicht die Unterstützung der Basis bekäme. Tatsächlich hat der alte Vorsitzende Kilicdaroglu sich bereits dazu geäußert. Der 76-Jährige wünscht sich, zur Partei zurückzukehren, um einen Zwangsverwalter zu verhindern.

Szenario 3: Ein Zwangsverwalter übernimmt die Partei. Esen ist jedoch überzeugt, dass ein Zwangsverwalter in der Partei gar keine Chance hätte. Gegen ihn wäre der Widerstand in der Partei so groß, dass er, wie es die jetzige Gesetzeslage vorsehe, nach rund sechs Wochen einen Parteitag abhalten müsste, aus dem der jetzige Vorsitzende Özel samt seinem Kader mit Sicherheit erneut als Sieger hervorgehen würde.

Szenario 4: Die Reformer gründen eine neue Partei. Der Reformflügel könnte die CHP verlassen und eine neue Partei gründen. Beobachtern wie Esen zufolge haben solche Parteien in der jüngsten Geschichte des Landes jedoch nie die Stärke der Mutterpartei erreicht. Zudem seien die ursprünglichen Parteien so geschwächt, dass sie zu zahnlosen Tigern geworden seien.

Szenario 5: Die Urteilsverkündung wird verschoben. Als letzte Möglichkeit wird auch in Betracht gezogen, dass die Verkündung des Urteils verschoben wird, um die Spaltung der CHP weiter voranzutreiben, die Partei als unfähige Alternative darzustellen und der Öffentlichkeit zu suggerieren: "Seht ihr, sie können nicht einmal eine Partei kontrollieren, wie sollen sie ein Land regieren?"

Proteste gegen Erdogan – wohin steuert die Türkei?

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Was wären die eventuellen Folgen?

Für die größte Oppositionspartei steht quasi ihre Zukunft auf dem Spiel. Seit der Inhaftierung ihres Präsidentschaftskandidaten Ekrem Imamoglu veranstaltet sie zweimal pro Woche Großkundgebungen und mobilisiert Millionen von Menschen, auch in den Hochburgen der Regierungspartei AKP. Sollte das Gericht urteilen, dass die Wahl der aktuellen Parteispitze unrechtmäßig war, könnte die CHP verstummen, weil sie eine lange Weile nur mit sich selbst und ihrem eigenen Chaos beschäftigt wäre.

Als Folge könnte auch der beliebte Politiker und aussichtsreichste Kandidat der nächsten Präsidentschaftswahlen, Erdogans größter Herausforderer Ekrem Imamoglu, im Gefängnis in die politische Bedeutungslosigkeit verbannt werden, weil hinter ihm dann keine starke Oppositionspartei mehr stünde. Ob es so weit kommt, wird die Öffentlichkeit wohl am Montag erfahren.

Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas
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