Türkei: Warum die Regierung gegen Künstlerinnen vorgeht
17. September 2025
Die Atmosphäre am 6. September im Herzen der Millionenmetropole Istanbul war ausgelassen. Der Open-Air-Veranstaltungsort Kücükciftlik Park war zum Bersten gefüllt. Bei spätsommerlichen Temperaturen betraten dann sechs junge Frauen in knappen Outfits die Bühne und begannen zu tanzen. Ein begeisterter Schrei ging durch die 12.000-köpfige Menge, die anfing, im Takt mitzutanzen. Die sechs jungen Frauen - Mina, Esin, Zeynep Sude, Emine Hilal, Lidya und Sueda - sind die Mitglieder der erfolgreichen Girlband Manifest.
Die Band wurde im Februar nach einer Castingshow zusammengestellt und eroberte mit ihren einfachen, jugendlichen Texten und K-Pop-inspirierten Tanzeinlagen in rasantem Tempo die Herzen der Teenager. Ihr im Juli veröffentlichtes Debütalbum führte zu einer erfolgreichen Tour. Doch nach dem Konzert in Istanbul ist Schluss. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie wegen "unzüchtiger und unkeuscher Handlungen" sowie "Exhibitionismus". Ihre Bühnenshow soll "die Gefühle von Scham, Sittlichkeit und die Moralvorstellungen der Gesellschaft verletzt und beleidigt" haben. Zudem hätten diese einen schlechten Einfluss auf Kinder und Jugendliche.
Gezielte Angriffe gegen Künstlerinnen
Auch der Chefberater von Präsident Recep Tayyip Erdogan, Oktay Saral, schaltete sich umgehend ein. Auf X nannte er die Bandmitglieder "unmoralische, schamlose, dämonenähnliche Kreaturen" und forderte rechtliche Schritte, um sie von "weiteren angeblichen exhibitionistischen Handlungen" abzuhalten. Dazu postete er ein Foto der Gruppe, auf dem die Körper unkenntlich gemacht waren.
Nach der Vernehmung betonte die Band in einer Erklärung, die Verantwortung für ihre Show zu übernehmen, es sei jedoch nie ihre Absicht gewesen, jemanden zu verletzen. Den Traum, die Türkei weltweit zu vertreten, mussten sie vorerst aufgeben.
Der Fall Manifest ist kein Einzelfall. Immer häufiger geraten in den letzten Jahren Künstlerinnen ins Visier der Justiz. Die Pop-Diva Sezen Aksu wurde zur Zielscheibe von Hetzkampagnen wegen eines alten Liedes, dessen Text religiöse Gefühle verletzt haben soll. Die beliebte Musikerin Gülsen wurde sogar wegen eines Witzes auf der Bühne über religiöse Schulen verhaftet. Im Januar wurde eine bekannte Managerin einer Künstleragentur, Ayse Barim, erst wegen Monopolisierungsversuchen und Erpressung inhaftiert, später wurde ihr die Beteiligung am Putschversuch von 2013 während der Gezi-Proteste zur Last gelegt. Kürzlich wurde die Drehbuchautorin Merve Göktem festgenommen, nachdem ein Ausschnitt aus einem vier Jahre alten Interview über ihre Serie Nackt in den sozialen Medien viral ging. Ihr wird die "Unterstützung von Prostitution und Anstiftung zu Verbrechen" vorgeworfen.
Ein wiederkehrendes Muster und die Rolle der Diyanet
Das Phänomen ist nicht neu. Seit dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention 2021 nimmt der Druck auf Frauen enorm zu. Zuerst wurden Politikerinnen, Akademikerinnen und Aktivistinnen ins Visier genommen, dann Journalistinnen und Rechtsanwältinnen. In den letzten Jahren sind es zunehmend Künstlerinnen.
Die Vorgehensweise ist oft die gleiche: Zuerst schreiben regierungsnahe Kolumnisten kritische Artikel, dann werden alte Interviews oder Ausschnitte aus Werken aus dem Kontext gerissen und in den sozialen Medien verbreitet. Schließlich machen regierungsnahe Gruppen und islamistische Bruderschaften mobil und rufen die Behörden zum Handeln auf, bis die Polizei die Zielperson festnimmt.
Die Historikerin und gläubige Feministin Berrin Sönmez sieht darin einen klaren Plan. In ihren Augen hat die AKP in den letzten zehn Jahren die Religion zur Grundlage ihrer Regierungspolitik gemacht, um die eigene Macht zu sichern. Das Land befinde sich nun in einer Phase, in der die Religion nicht die Basis der Politik sei, aber für politische Zwecke ständig instrumentalisiert werde.
"Die Religionsbehörde Diyanet spielt dabei eine entscheidende Rolle" fügt Sönmez hinzu. Über ihre Freitagspredigten lasse die Regierung wöchentlich Fatwas veröffentlichen, die die Gesellschaft nach ihrem Willen formen sollen. Sönmez hat die Predigten des letzten Jahres analysiert: 30 Prozent der Texte befassten sich demnach mit Frauen, Familie und Kindern, weitere 30 Prozent mit sexueller Orientierung, die als "Abweichung von der menschlichen Natur" und als "Ergebnis globaler Propaganda" dargestellt werde.
Das Schweigen der Opposition und der Druck auf Frauen
Aus Protest gegen die Diyanet-Predigt im August über die Verhüllung von Frauen legte die gläubige Sönmez ihr Kopftuch ab. Sie hält diese Entwicklung für sehr gefährlich, denn Diyanet spreche jeden Freitag in ihren über 90.000 Moscheen landesweit gezielt Millionen von Männern an. In solchen Fatwas rufe die Regierung die Männer quasi dazu auf, Frauen zu unterdrücken und die männliche Dominanz zu stärken.
Beobachterinnen zufolge sind die Auswirkungen spürbar. Kurz nach der besagten Predigt machten tatsächlich mehrere Fälle Schlagzeilen, in denen zum Beispiel ein Arzt eine junge Patientin ablehnte, weil sie bauchfrei im Krankenhaus erschien.
Für Sönmez ist die zunehmende Unterdrückung von Frauen Teil eines umfassenden Plans der Regierung, die gesamte Opposition zum Schweigen zu bringen. Die schwindende AKP-Basis werde durch verstärkten religiösen Druck und juristische Schikanen gegen Andersdenkende stabilisiert. Daher sei der Angriff auf die Gruppe Manifest ein weiteres Signal an Frauen, die sich der Regierung nicht beugen wollen. Auch wenn die freizügige Kleidung und die Tanzeinlagen der Künstlerinnen im Vordergrund stehen, ist für Sönmez entscheidend, dass diese jungen Musikerinnen in ihren Liedern Slogans der Opposition wie "Recht, Gesetz und Gerechtigkeit" skandierten. Doch die Staatsanwaltschaft beschränke die Vorwürfe gezielt auf Obszönität, Unsittlichkeit und Exhibitionismus, um die Frauen nicht nur einzuschüchtern, sondern auch zu diffamieren. Ihre politische Haltung werde ignoriert, die Debatte nur auf ihren Körper, auf Scham und Moral reduziert.
Die AKP behauptet jedoch seit Jahren, Frauen, vor allem konservative und gläubige, befreit und ihnen alle Türen weit geöffnet zu haben - von Bildung bis zu Politik. Sönmez ist anderer Meinung. Auch wenn der Anteil von Frauen in vielen Bereichen gestiegen sei, sollte dies nur den Anschein erwecken. Im Grunde würden Frauen auch in der AKP-Ära im Hintergrund eingesetzt und hätten kaum Einfluss auf die Gestaltung der Politik. Sie könnten nur als unerschütterliche Unterstützerinnen der Regierungspolitik existieren.