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Politik

Türkei: Abschlussarbeit gegen Geld

Tunca Ögreten
22. Februar 2019

Neue Marktlücke: In der Türkei werden wissenschaftliche Arbeiten vom Bachelor über den Master bis zur Dissertation zum Kauf angeboten - Abschlussprüfung inbegriffen. Die DW ist diesem Handel nachgegangen.

Symbolbild Home Office
Bild: picture-alliance/dpa/M. Wuestenhagen

Türkische Universitäten sehen sich einer neuen, wenig wissenschaftlichen Herausforderung gegenüber: Ghostwriting. Von Bachelor- über Masterarbeiten bis zu Dissertationen - fast jede Art von wissenschaftlichen schriftlichen Arbeiten ist mittlerweile gegen Geld bei bestimmten Unternehmen bestellbar. Besonders an privaten Universitäten herrscht ein regelrechter Boom. In der Türkei gibt es 63 private Hochschulen, von denen die meisten erst in den vergangenen fünf Jahren gegründet wurden.

Eine kurze Suche in akademischen Online-Foren ergab, dass rund 50 professionell ausgestattete Unternehmen auf diesem Ghostwriter-Markt tätig sind. Pro Arbeit werden umgerechnet zwischen 500 und 3000 Euro verlangt. Jeden Monat werden durchschnittlich etwa 50 Arbeiten verfasst. Das entspricht einem Umsatz von über 25 Millionen Euro pro Jahr.

Den signifikanten Anstieg der bezahlten Dissertationen sieht Dr. Görkem Doğan, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Werktätigen in Bildung und Wissenschaft "Eğitim Sen" allein darin, dass die Zahl der privaten Universitäten unkontrolliert zugenommen hat.

Doğan erinnert daran, dass mit dem Ausrufen des Ausnahmezustands, der nach dem Putschversuch vom Juni 2016 in Kraft trat, zahlreiche Akademiker ohne Job waren. In der Zeit nach dem Putschversuch wurden weit über 100.000 Beamte formal vom Staatsdienst suspendiert. Allein durch ein Sonderdekret von Präsident Erdogan verloren mehr als 6000 Akademiker ihren Job.

"Ob die Suspendierung der Akademiker diesen markanten Anstieg der Ghostwriter hervorgerufen hat oder nicht, mag schwer zu beweisen sein. Fakt ist aber, dass die Suspendierungen für die ohnehin schon gebeutelte Wissenschaft in der Türkei ein weiterer Schlag ins Kontor waren."

Als Student getarnt, der eine Masterarbeit zu schreiben hat, fragten Reporter der Deutschen Welle einen Vertreter einer Ghostwriting-Firma nach den fälligen Preisen. Der Mitarbeiter des Unternehmens gibt an, dass er selbst promovierter Wissenschaftler sei. "Gleichzeitig bin ich auch im Prüfungsausschuss sowohl für das Rigorosum, als auch für die Disputation. Jegliche wissenschaftliche Arbeit verfasse ich für eine Preis von 7000 Lira" (umgerechnet 1200 Euro).

Die meisten Anfragen kommen von Medizinern

In dem Gespräch wird klar: Das Unternehmen hat sich auf Medizin, klinische Psychologie und Management spezialisiert: "Etwa 70 Prozent der Studenten, die wir betreuen, kommen aus medizinischen Fakultäten. Wenn wir eine Arbeit für sie verfassen, dann bedienen wir uns beispielsweise beim Know-How der Spezialisten aus der Chirurgie oder Orthopädie. Die Wissenschaftler, mit denen wir zusammenarbeiten, bekommen von uns ein monatliches Honorar von 800 bis 1200 Euro. Unsere Preise liegen für medizinische Arbeiten ab 1700 Euro aufwärts."

Diese wissenschaftlichen Arbeiten "werden gegen Rechnung verfasst. Es ist nicht illegal, vielleicht etwas unethisch", gibt der Mitarbeiter an. Auf die Frage, ob es mit dem Prüfungsausschuss keine Probleme geben werde, kommt die Antwort: "Ich bin selber Mitglied des Ausschusses und übernehme meistens die Rolle desjenigen, der die kritischen Fragen stellt. Im Ausschuss sind außerdem Freunde des betreuenden Professors. Der eine wird sich gegen die Arbeit aussprechen, der andere wird sie in den höchsten Tönen loben. Und der dritte ist da, um den angebotenen Kuchen zu essen."

In der Türkei wird das Ghostwriting nicht strafrechtlich sanktioniert. Agenturen und Unternehmen, die für Geld wissenschaftliche Arbeiten verfassen, sind unter der Bezeichnung "Wissenschaftliche Berater" tätig. Das erhaltene Honorar wird unter "Büro-Arbeiten" verbucht.

In etablierten, staatlichen Universitäten ist Ghostwriting schwer umzusetzenBild: Universität Boğaziçi

Sollte die Universität erfahren, dass eine Arbeit nicht vom Studenten selber, sondern von einer dritten Person verfasst wurde, muss der Student mit der Suspendierung rechnen. Gleichzeitig wird von ihm verlangt, seine Arbeit zu überarbeiten. Die Sanktionen für das akademische Universitätspersonal sind allerdings weitaus schwerer. Schon im Dezember 2016 schlug der türkische Hochschulrat (YÖK) vor, akademisches Ghostwriting gegen Geld unter Strafe zu stellen. Der Hochschulrat wertet das Schreiben einer Dissertation als Plagiat. Sollte entsprechend ein Akademiker als Verfasser enttarnt werden, drohe diesem der Ausschluss aus der Universität, was mit einer Kündigung gleichzusetzen ist. Es blieb jedoch beim Vorschlag

Den Vorwurf zu Beweisen ist sehr schwer

Die privaten Universitäten aus den Istanbuler Stadtteilen Üsküdar und Nişantaşı gehören zu den Hochschulen, die immer wieder unter den Verdacht geraten, Ghostwriting zuzulassen oder zu fördern. Wir konfrontieren Sevil Atasoy, die stellvertretende Rektorin der Universität Üsküdar mit den Vorwürfen, dass an ihrer Hochschule Diplomarbeiten für Geld verfasst werden. Sie kontert, dass "diejenigen, die diese Behauptung aufstellen, sämtliche Beweise vorlegen sollten." Im Disputationsausschuss säßen fünf Akademiker, wobei eine Person Mitglied einer anderen Universität sei, sagt Atasoy. "Unsere Mitarbeiter sind gewissenhaft und arbeiten höchst professionell. Für jede vorgelegte Dissertation wird ein Gutachten erarbeitet, ob beispielsweise Hinweise für ein Plagiat vorliegen könnten. Ohnehin begleiten unsere Berater jede eingereichte Arbeit von der ersten bis zur letzten Zeile." Bis zum heutigen Tag habe es noch keinen stichhaltigen Vorwurf des Ghostwriting gegeben, so Atasoy.

"Ein Ministerium für Hochschulbildung ist zwingend notwendig"

Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Auszubildenden (ÖGESEN) Dr. Vahdet Özkoçak geht dagegen davon aus, dass die Zahl der Ghostwriter-Arbeiten signifikant zugenommen hat. Es gebe zu wenige erfahrene Wissenschaftler oder ordentliche Professoren. Der Gewerkschafter gibt weiter an, dass die Ghostwriter der Dissertation sehr erfahren sind - einige von ihnen seien schließlich Akademiker. Dieser Zusammenhang sollte notwendigerweise untersucht werden.

Dieses unethische Problem sei dem Hochschulrat (YÖK) schon seit Jahren bekannt, aber Sanktionen oder Kontrollen lasse diese Einrichtung vermissen. Der Akademiker Özkocak sagt, dass immer vom "Neuen Hochschulrat" die Rede sei. Doch auf das "Neue" würde man immer noch warten, so der Gewerkschafter. "So können wir unsere Probleme nicht lösen. Die Einrichtung eines Ministeriums für Hochschulangelegenheiten ist zwingend notwendig."

Nur solvente Kunden

In etablierten, staatlichen Universitäten sei Ghostwriting schwer umzusetzen, so Özkoçak; dagegen würden private Universitäten Studenten nur als solvente Kunden betrachten. Der Gewerkschafter sieht in den vergangenen 20 Jahren einen massiven Kompetenzverlust an den Universitäten und sagt weiter: "Ohne Anerkennung, Kompetenz und Patriotismus wenden sich die Lehrer dem unethischen Jobs der Ghostwriter zu."

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