Türkei: Bringen Massenproteste Erdogans Macht ins Wanken?
30. März 2025
War die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat? Millionen Menschen zeigten bei Massendemonstrationen in der Türkei an diesem Wochenende ihren Zorn auf die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan.
"Wir kämpfen nicht nur für Ekrem, sondern für die Türkei", sagte unter Tränen Dilek Imamoglu, die Ehefrau des inhaftierten Oppositionspolitikers. "Wir müssen uns gegenseitig Kraft geben, wir sind eine große Familie von 86 Millionen Menschen. Gerechtigkeit kann nicht eingesperrt werden. Entweder alle zusammen oder keiner."
"Leerer Kochtopf"
Ein älterer Teilnehmer der Massendemo verweist auf die Wirtschaftskrise: "Es gehen Menschen aus verschiedenen Schichten auf die Straße. Ein wichtiger Grund ist auch der leere Kochtopf." Die wirtschaftliche Situation sei für viele in der gesamten Türkei nicht mehr tragbar.
Die Türkei steckt seit mehreren Jahren in einer Wirtschaftskrise. Die Bevölkerung leidet unter einer steigenden Inflation und hohen Mieten. Nach Angaben der türkischen Statistikbehörde Tuik (Turkish Statistical Institut) lag die jährliche Inflationsrate im Januar dieses Jahres bei 42 Prozent. Hinzu kommt ein Wertverlust der türkischen Lira. Viele ältere Menschen und Rentner können sich ihre Wohnung nicht mehr leisten.
Knapp 2000 Festnahmen
Aufgerufen zu der Großkundgebung am Samstag im Istanbuler Stadtteil Maltepe hatte die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) Imamoglus. Die Demonstranten werfen Erdogan vor, Imamoglu mit Hilfe der Justiz politisch kaltstellen zu wollen.
Seit Beginn der Proteste nach der Absetzung von Ekrem Imamoglu am 23. März sind laut türkischem Innenministerium insgesamt 1900 Menschen festgenommen worden - vor allem Studenten.
Auch elf Journalisten wurden verhaftet, darunter der schwedische Reporter Kaj Joakim Medin von der Tageszeitung Dagens ETC, der über die Proteste in Istanbul berichten wollte.
Auch der ehemalige BBC-Türkei-Korrespondent Mark Lowen, der nach Istanbul geflogen war, um über die Proteste zu berichten, wurde vorübergehend festgenommen und dann deportiert. Grund der Verhaftung sei eine "Bedrohung für die Öffentlichkeit" gewesen.
"Auch eher konservative Journalisten, die bisher zu den Unterstützern Erdogans zählten, wenden sich wegen der wirtschaftlichen Lage von Erdogan ab", erklärte Lowen im DW-Interview.
Demonstranten singen türkische Nationalhymne
"Dieser Kampf ist für die Türkei", erklärte CHP-Chef Özgür Özel bei der Kundgebung, an der nach seinen Angaben mehr als zwei Millionen Menschen teilgenommen hätten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte die Teilnehmer der Proteste noch als "marginale Gruppen" bezeichnet.
Trotz der Feiertage zum Ende des Ramadans strömten die Menschen nach Maltepe. Eine Seniorin nahm sitzend an der Kundgebung teil. "Ich bin 85 Jahre alt und habe solche Unterdrückung noch nie erlebt", erklärte sie gegenüber der DW. "Ich bin hier für die Republik, für Atatürk, für den Frieden des Volkes, für die Verbesserung dieser Ära und um der Armut zu entkommen."
Mit dem Singen der türkischen Nationalhymne zu Beginn wollten die Protestierenden ihre Einheit signalisieren. So waren neben türkischen Flaggen und CHP-Bannern auch die Fahnen unterstützender politischer Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlicher Organisationen auf dem Platz zu sehen. Universitätsstudenten, Rentner, Arbeiter, Händler, Lehrer und auch Beamte waren vor Ort.
Ein 17-jähriger Schüler, der mit seinem Vater und anderen Verwandten an der Kundgebung teilnahm, meinte: "Wir werden ungerecht behandelt. Unsere Zukunft wird uns genommen, unsere Jugend ist vorbei. Deshalb bin ich hier."
Weitere politische Parteien nahmen ebenfalls an den Protesten teil, darunter die prokurdische DEM Partei. Einer ihrer Mitglieder sagte der DW: "Wir kämpfen für die Freiheit von Ekrem Imamoglu, Selahattin Demirtas, Figen Yüksekdag und allen politischen Gefangenen. Wir kämpfen für die Freiheit der inhaftierten Studenten."
Schon jetzt ist klar: Die Massendemonstrationen in der Türkei machen 2025 zu einem geschichtsträchtigen Jahr. 22 Jahre nach dem Amtsantritt Erdogans als türkischer Ministerpräsident 2003 ist der Kampf für Demokratie und Rechtsstaat im Land erneut aufgeflammt. Erdogans autokratisches System der Macht könnte ins Wanken geraten.