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Türkei: War prähistorisches Çatalhöyük ein Matriarchat?

22. Juli 2025

Archäologen entdecken in der Türkei Hinweise auf eine matrilineare Gesellschaft vor 9000 Jahren. Frauen hatten mehr Grabbeigaben und lebten mit ihrer Familie – nicht mit der des Mannes. Dies legen DNA-Analysen nahe.

Eva Rosenstock arbeitet in einer Ausgrabungsstätte in Çatalhöyük, 2008.
Auf den Spuren des Matriarchat: Die Archäologin Eva Rosenstock war schon 2008 an Ausgrabungen in Çatalhöyük beteiligtBild: Çatalhöyük Research Project

Schon in den 1960ern hegten Archäologen den Verdacht, dass Çatalhöyük etwas Besonderes war. Nicht nur, weil es zu den ältesten, dauerhaft bewohnten Orten der Welt gehört.

Die Forschenden vermuteten auch, dass Frauen in der neolithischen Siedlung auf dem Gebiet der heutigen Türkei eine besondere gesellschaftliche Stellung innehatten. Das beruhte allerdings nur auf Figuren, die anatolischen Muttergottheiten ähnelten und die bei Ausgrabungen gefunden wurden.

Erst mit den modernen Methoden, die heutigen Archäologinnen und Archäologen zur Verfügung stehen, wurde aus dem Bauchgefühl Gewissheit: Die Gesellschaft im Çatalhöyük vor 9000 Jahren drehte sich um Frauen. Das internationale Forschungsteam, angeführt von Genetikern der Middle East Technical University in Ankara, spricht von einer "female-centered society".

Zu diesem Schluss kamen die Forschenden, nachdem sie 131 Skelette untersucht hatten, die unter den Wohnhäusern in der jungsteinzeitlichen Siedlung begraben lagen. Durch DNA-Analysen fanden sie heraus, dass die Menschen, die unter demselben Haus begraben wurden, zumeist miteinander verwandt waren – und zwar auf Seiten der Mutter.

Mit anderen Worten: Wenn Mann und Frau in Çatalhöyük eine Partnerschaft eingingen, lebte das neue Paar unter einem Dach mit den Eltern der Frau, nicht mit denen des Mannes. Die Haushalte bildeten sich also matrilinear.

Ein weiteres Zeichen für die wichtige Rolle der Frau: Bei verstorbenen Frauen und Mädchen fanden die Forschenden bis zu fünfmal so viele Grabbeigaben wie bei männlichen Leichnamen.

War Çatalhöyük ein Matriarchat?

Aus der jüngeren Vergangenheit kennen wir eher patrilineare Haushalte, in denen nach der Heirat die Frau zur Familie des Mannes zieht. Heißt die Umkehrung dieses Prinzips, dass die Menschen, die Çatalhöyük von circa 7100 bis 6000 v. Chr. bevölkerten, in einem Matriarchat lebten?

Nicht unbedingt, erklärt die prähistorische Archäologin Eva Rosenstock, die an den Ausgrabungen in Çatalhöyük beteiligt war.

"Die Lokalitätsregel, also, ob eine Gesellschaft matrilokal oder patrilokal ist, gibt erstmal keine Auskunft darüber, wer das Sagen hat", sagt Rosenstock, deren Fachgebiet an der Schnittstelle zwischen naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Archäologie liegt, im DW-Interview. "Aber beides geht häufig zusammen."

Kindertausch mit den Nachbarn

Brauchbare DNA für die nötigen Analysen zu bekommen war nicht einfach. Çatalhöyük liegt in einer Region mit kontinentalem Klima, in der starke Wetterschwankungen zwischen Sommer und Winter herrschen – widrige Bedingungen, unter denen selbst Zähne, die bis vor kurzem als eine der besten DNA-Quelle galten, nicht ewig halten.

Bei archäologischen Ausgrabungen in Çatalhöyük in der Türkei wurde auch das Skelett eines Neugeborenen freigelegtBild: Çatalhöyük Research Project/Peter F. Biehl

Doch ein besonders harter Knochen ist eine noch bessere DNA-Quelle: Das sogenannte Felsenbein im Innenohr. "Das ist wie ein DNA-Tresor!", erklärt Rosenstock.

Bei der Analyse dieses Materials kamen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dann auf die matrilineare Verwandtschaft unter den Verstorbenen, die unter demselben Haus begraben waren.

Aber: nicht alle der begrabenen Verstorbenen unter einem Haus waren überhaupt miteinander verwandt. Die Forschenden gehen davon aus, dass es in der Gesellschaft in Çatalhöyük nicht unüblich war, auch Kinder zu tauschen, also das eigene Kind beispielsweise dem Nachbarn zu geben. So sollte vermutlich für sozialen Ausgleich oder Gleichberechtigung gesorgt werden, erklärt Rosenstock.

"Denn wenn das eigene Kind drei Häuser weiter aufwächst, dann setzt man sich eben dafür ein, dass nicht nur der eigene Haushalt das Beste bekommt", sagt die Archäologin. So könnten die Menschen damals versucht haben, eine gerechtere Verteilung von Ressourcen zu garantieren.

Und wie vollzog sich die Entwicklung von einer auf Gleichberechtigung bedachten Gesellschaft, in der Frauen im Mittelpunkt standen, zum Patriarchat? Darauf hat Rosenstock auch keine Antwort – noch nicht. "Das ist die nächste spannende Frage", sagt die Forscherin.  

Carla Bleiker Redakteurin, Channel Managerin und Reporterin mit Blick auf Wissenschaft und US-Politik.@cbleiker