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PolitikTunesien

Tunesien: Autoritarismus weiter auf dem Vormarsch

26. November 2025

Der tunesische Präsident Kais Saied geht seit Jahren immer vehementer gegen Kritiker vor. Nun regt sich Widerstand. Doch sind Rechtsstaat und Demokratie noch zu retten?

Proteste in Tunis. Ein Mann hält ein Plakat mit der Aufschrift "Das Verbot von Medien ist ein Schlag gegen die Bürgerrechte".
Proteste in Tunis, November 2025: "Das Verbot von Medien ist ein Schlag gegen die Bürgerrechte" ist auf einem Plakat zu lesenBild: Hasan Mrad/ZUMA/IMAGO

Tunesiens Präsident Kais Saied bestellte am Mittwoch den EU-Botschafter in Tunis ein. Das Präsidialamt warf Giuseppe Perrone vor, die diplomatischen Regeln nicht einzuhalten.

Zwei Tage zuvor hatte sich Perrone mit Noureddine Taboubi getroffen, dem Vorsitzenden des tunesischen Gewerkschaftsdachverbandes Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT). Bei der Gelegenheit würdigte der EU-Botschafter das Engagement der Gewerkschaften "für den sozialen Dialog und die wirtschaftliche Entwicklung". 

In der Woche davor hatte Taboubi seine Unterstützung für mehrere Streiks bekundet und damit gedroht, einen Ausstand in ganz Tunesien zu organisieren. Der würde sich auch gegen Präsident Kais Saied richten.

Steht massiv in der Kritik: der tunesische Präsident Kais SaiedBild: Tunisian Presidency/SIPA/picture alliance

"Verhärtung in den vergangenen Monaten" 

Saied pflege schon seit Jahren einen autoritären Führungsstil, sagt Hussein Baoumi, Tunesien-Experte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. "In den letzten Monaten gehen die Behörden mit besonderer Härte vor. Im Visier stehen politische Gegner, Parteien und Anwälte, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen und Flüchtlinge."

So hatte ein Gericht in Tunis zwei Aktivisten einer Hilfsorganisation für Geflüchtete in erster Instanz zu je zwei Jahren Haft verurteilt. Die beiden Männer saßen seit Anfang Mai 2024 in Untersuchungshaft. Am Montagabend wurden sie auf Bewährung freigelassen.

Zudem richtete sich der Protest gegen die Umweltverschmutzung in der Stadt Gabes. Dort unterhält das Unternehmen Groupe Chimique Tunisien eine Phosphatanlage, die Kritiker immer wieder als gesundheitsgefährdend bezeichnen. 

"Saied steht vor vielen innenpolitischen Problemen, vor allem wirtschaftlicher Art, von denen er offenbar abzulenken versucht", sagt Maria Josua, die am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg zum Fortbestand autoritärer Strukturen in Nordafrika und dem Nahen Osten forscht. "Zugleich scheint er sehr von seinem Weg überzeugt und der Ansicht, dass jegliche Kritik an ihm hart niederzuschlagen ist. Aus diesem Grund streut er auch Verschwörungstheorien - etwa gegen Migranten. So versucht er noch einen Rest Unterstützung für sich zu erzeugen", so Josua zur DW.

Demonstration in Tunis

Gegen Saieds Kurs hatten am vergangenen Samstag in Tunis rund 2000 Menschen demonstriert. Die Veranstaltung gilt als die größte ihrer Art seit Monaten. "Nicht mein Präsident" riefen einige der Demonstranten und "Das Volk will den Sturz des Regimes" - eine Parole, die noch auf den Beginn des Arabischen Frühlings 2011 zurückgeht.

Die Demonstranten forderten den Präsidenten auf, zahlreiche Kritiker, Journalisten, Juristen und Aktivisten freizulassen, die in den vergangenen Monaten verhaftet worden waren. 

Unter ihnen befindet sich auch ein Teil jener knapp 40 Personen, die im April 2025 in einem Massenprozess zu Haftstrafen zwischen vier und 74 Jahren verurteilt worden waren. Amnesty International bezeichnet das damalige Verfahren als "Scheinprozess". "Das Verfahren verstieß gegen internationale Standards für faire Gerichtsverfahren und gegen das Rechtsstaatsprinzip", berichtet die Menschenrechtsorganisation auf ihrer Webseite.

Oppositionskundgebung gegen Präsident Kais Saied, Tunis, 22.11.2025Bild: Fethi Belaid/AFP

"Gefährlicher Rückschritt"

Hauptziel der Demonstranten sei es nicht nur, die Rolle der Parteien wiederherzustellen, sagt Oppositionspolitiker Riadh Chaibi, führendes Mitglied der "Nationalen Rettungsfront", im DW-Interview. Vielmehr gehe es auch darum, den "gefährlichen Rückschritt" hinsichtlich bürgerlicher Freiheiten und der Rechtsstaatlichkeit zu bekämpfen, der seit dem Putsch vom 25. Juli 2021 im Land stattgefunden habe. An jenem Tag hatte Saied das Parlament aufgelöst und den Premier entlassen. Seitdem regiert er weitgehend per Dekret.

Zwar besetzte er bald darauf das Amt des Premiers wieder. Doch die Amtsinhaber wechselten relativ rasch und gelten als abhängig von der Macht des Präsidenten. "Die Rolle des ganzen Kabinetts besteht vor allem darin, die Anweisungen des Präsidenten umzusetzen", sagt Maria Josua. Es gebe in Tunesien keine Art von Gewaltenkontrolle mehr, vielmehr sei alles auf den Staatschef zugeschnitten. "Und Saied selbst beruft nur Personen, die auf seiner Linie sind. Darum ist nicht zu erwarten, dass es eine autonome Regierungsführung gibt."

Umso wichtiger seien die Proteste, sagt Riadh Chaibi. "Sie bringen den Wunsch aller nationalen Gruppierungen zum Ausdruck, die Demokratie wiederherzustellen und die seit über fünf Jahren stagnierende Entwicklung wiederaufzunehmen." 

Schwierige Lage: Geflüchtete in TunesienBild: Yassine GaidiAnadolu/picture alliance

"Opposition zunehmend unterdrückt"

Saieds Kurs entspreche dem in der MENA-Region vorherrschenden generellen Trend zur politischen Verhärtung, sagt Hussein Baoumi. "Lange hieß es, die politische Entwicklung Tunesiens stelle eine Ausnahme von den autoritären Tendenzen in der Region dar." Das aber treffe nun nicht mehr zu. "Die Opposition wird zunehmend unterdrückt. Damit setzt sich auch in Tunesien jener Autoritarismus durch, der die gesamte Region prägt."

Umso mehr komme es nun auf den Protest an, sagt Tarek Toukebri, Präsident der Demokratischen Vereinigung der Tunesier in Frankreich, der DW. Es gehe darum, insgesamt zu demokratischen Prozessen zurückzukehren. "Letztlich gibt es keinen anderen Weg zum Wandel als die Wahlurne."

Es sei schwer zu sagen, woher ein mäßigender Einfluss auf den Präsidenten kommen könne, sagt Maria Josua. "Aber die tunesische Bevölkerung hat schon einmal gezeigt, dass sie sich nicht auf Dauer unterdrücken lässt, sondern in der Lage ist, gruppenübergreifende Koalitionen zu bilden. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die Zeit dafür schon reif ist."

Mitarbeit: Tarak Guizani

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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