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Politik

Tunesien: Das dürre Erbe der Revolution

14. Januar 2018

In Tunesien protestieren die Bürger gegen die bedrückenden sozialen und ökonomischen Verhältnisse. Sieben Jahre nach der Revolution ist Ernüchterung eingetreten: Von der Demokratisierung sind viele enttäuscht.

Tunesien Demonstration 7. Jahrestag Sturz Zine el-Abidine Ben Ali
Bild: Reuters/Z. Souissi

Ein Mindesteinkommen für bedürftige Familien, kostenlose medizinische Behandlung für Arbeitslose, leichter erhältliche Wohnkredite: Das sind einige der Maßnahmen, mit denen die tunesische Regierung auf die Proteste reagiert, die seit einer Woche durch das ganze Land rollen.

In vielen tunesischen Städten demonstrierten die Bürger gegen das neue, Anfang des Jahres in Kraft getretene Finanzgesetz, das zu Preissteigerungen und höheren Abgaben führt - und damit zu Belastungen, die viele Tunesier kaum mehr tragen können.

Auch am Sonntag gingen die Proteste weiter. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen versammelten sich bereits am Vormittag etwa 1000 Demonstranten vor dem Sitz der Gewerkschaft UGTT in Tunis. In Sprechchören wandten sie sich gegen "Armut und Hunger". Die mächtige UGTT hatte ebenso wie die "Volksfront", ein Bündnis verschiedener ziviler Gruppen, zu einem Marsch ins Zentrum von Tunis aufgerufen. Einem Demonstrationsaufruf der islamistischen Ennahda-Partei, die an der Regierung beteiligt ist, folgten Hunderte weitere Menschen.

"Brotrevolution" zum Zweiten

Seit dem durch die Revolution 2010/11 erzwungenen Rücktritt des ehemaligen Staatschefs Zine el-Abidine Ben Ali am 14. Januar vor sieben Jahren ist dieser Monat traditionell der, in dem die Tunesier in Demonstrationen ihren politischen Willen kundtun. In diesem Jahr gedenken sie aber eines weiteren Ereignisses: der so genannten "Intifada al-Khubez". Beim landesweiten "Brotaufstand" gingen die Bürger des Landes am 3. Januar 1984 ebenfalls auf die Straße, um gegen die gestiegenen Brotpreise zu demonstrieren.

Die diesjährigen, ebenfalls am 3. Januar begonnenen Proteste setzen für viele Tunesier die Anliegen des Jahres 1984 fort. Wie damals werden sie auch nun vor allem von sozialen Missständen auf die Straße getrieben. Die Staatsverschuldung beträgt rund 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die Inflation ist auf über sechs Prozent gestiegen, die Arbeitslosenquote liegt bei 15, unter den jungen - auch studierten - Tunesiern über 30 Prozent.

"Fech Nestannew?" - "Worauf warten wir" - Demonstranten in Tunis gegen den Sparkurs der RegierungBild: picture alliance/abaca/Y. Gaidi

Da sich der Staat durch einen mit dem Internationalen Währungsfonds geschlossenen Kreditvertrag über 2,4 Milliarden Euro zu einer strikten Ausgabensenkung verpflichtet hat, bleibt ihm nicht viel Spielraum, die Wirtschaft durch Neueinstellungen und ein eigenes Konjunkturprogramm zumindest zu Teilen in Schwung zu bringen.

Tunesien: Wandel ohne Wachstum

02:30

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"Fech Nestannew?" - "Worauf warten wir?"

Genau das fordern die Tunesier aber. Dieses Jahr sind zunächst die jüngeren Bürger auf die Straße gegangen. Viele haben sich in dem Bündnis "Fech Nestannew?" (dt.: "Worauf warten wir?"), zusammengeschlossen. "Wir wollen, dass die Regierung die Preiserhöhung stoppt, das Einstellungsmoratorium im Öffentlichen Dienst aufhebt, für Sicherheit und Gesundheitsvorsorge einsteht und eine nationale Antikorruptionskampagne anstößt", sagte Warda Atig, eine der Initiatorinnen des Bündnisses, dem katarischen Nachrichtsender Al-Jazeera.

Allerdings schwingt in den Forderungen von "Fech Nestannew?" und vielen anderen Demonstranten neben sozialen Forderungen auch mehr oder weniger deutliche Kritik an den Regierenden mit. "Es ist nicht Aufgabe des tunesischen Volkes, den Preis für schlechte Regierungsarbeit, Korruption und politischen Bankrott zu zahlen", sagte die "Fech Nestannew?" verbundene Journalistin Henda Chennaoui dem Magazin Jeune Afrique.

Zweifel an der Revolution

Sieben Jahre nach dem Beginn der tunesischen Revolution, die Aufstände in nahezu allen Staaten der arabischen Welt auslöste, scheint die Geduld und Leidensfähigkeit der Tunesier zu weiten Teilen aufgebraucht. Seit dem Umbruch von 2011 sähen seine Landsleute keinerlei wirtschaftlichen Fortschritt, sagte der am Pariser "Institut de Relations Internationales et Stratégiques" forschende Politologe Béligh Nabli in der französischen Zeitung Le Monde.

Die Tunesier seien desillusioniert, denn sie sähen keinerlei Entsprechung zwischen der politischen und der ökonomischen Entwicklung des Landes. Die Hinwendung zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit habe bislang keinerlei ökonomische Verbesserung zur Folge. Darüber könnten langfristig auch die politischen Errungenschaften in Gefahr geraten: "Die Menschen tendieren dazu, die Revolution als Beginn, wenn nicht sogar als Grund der verschlechterten wirtschaftlichen Lage zu sehen." 

Eskalation: Bisweilen schlägt der friedliche Protest in Straßenkampf umBild: Reuters/Z. Souissi

Dafür machten sie auch die seit dem Umbruch amtierenden Regierungen verantwortlich. Diese kümmerten sich dem allgemeinem Eindruck nach zu wenig um das Wohl der Bürger, sagt Nabli: "Die politische Klasse erweckt den Eindruck, als verkenne sie den Ernst der Lage, das Ausmaß des gesunkenen Lebensstandes der Bevölkerung." Die Politiker, fasst der Forscher den Eindruck der Bürger zusammen, zeigten gegenüber deren Problemen eine eigentümliche "Ignoranz oder Gleichgültigkeit".

Ungenutzte Chancen

Die ökonomische Stagnation ist nach Einschätzung des Politologen Safwan Masri umso bedauerlicher, als das Land über gute Voraussetzungen zu nachhaltiger Entwicklung verfüge. Weil Tunesien keine signifikanten Rohstoffreserven besitze, sei es - anders als etwa Saudi-Arabien - nicht in die Spannungen des Kalten Krieges hineingezogen worden. Darum habe sich dort langfristig auch kein derart autoritäres Regime wie in anderen arabischen Ländern entwickelt. Auch darum sei die Revolution 2010/11 vergleichsweise milde verlaufen, schreibt Masri in seinem kürzlich erschienenen Buch "Tunisia. An Arab Anomality".

Stattdessen hätten die Bürger, etwa über die Gewerkschaft UGTT, ein hohes zivilgesellschaftliches Engagement gezeigt, verstärkt zudem durch die ausgeprägte Präsenz der Frauen im öffentlichen und beruflichen Leben. In der Bildung habe man Wert auf Zweisprachigkeit - Arabisch und Französisch - gelegt. Diese habe Tunesien besonders eng an Europa geführt.

Politischer Druck könnte wachsen

Umso deutlicher und schmerzhafter treten nun die ökonomischen Unterschiede zu Europa hervor. Europa, heißt es in einem Leitartikel der Zeitung Le Monde, müsse Tunesien noch stärker als bislang unterstützen. Es gehe nicht an, die politischen Fortschritte zu loben, über die ökonomische Stagnation aber weitgehend hinwegzusehen.

Beides hängt eng miteinander zusammen. Ändere sich die Situation der Bürger nicht grundlegend, warnt Henda Chennaoui von dem Bündnis "Fech Nestannew?", könnten die Proteste einen viel stärker politischen Charakter annehmen als derzeit. Sie könnten sich dann auch direkt gegen die Regierung richten. Die sozialen Zugeständnisse, die sie den Demonstranten nun gemacht hat, deuten an, dass sie das verstanden hat.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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